Predigt über 1. Mose 4, 1-16 von Hanna Hartmann
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Predigt über 1. Mose 4, 1-16 von Hanna Hartmann

Liebe Gemeinde,
wer von Ihnen kennt sie nicht, die Geschichten am Anfang der Bibel?! Adam und Eva, Kain und Abel, Noah und die Arche – um ein paar von ihnen zu nennen. Immer wieder versuchen gutmeinende Christen, diese Geschichten zeitlich einzuordnen, als seien sie Geschichten der Vergangenheit, der Urzeit. Doch damit tut man ihnen Gewalt an, verkürzt sie und hat sie missverstanden. Denn in ihnen geht es nicht um die menschliche Frühgeschichte, sondern um menschliche Grundgeschichten. Es geht um Sie und um mich. Sozusagen um den Stoff, aus dem das Leben ist:
Um das Material, aus dem unser Körper besteht – dem Material des Erdbodens ähnlich (darum ist Adam aus „Adama“ - Muttererde - gemacht); um das Geheimnis des Atems, der ohne unser Zutun kommt und geht – uns von woanders her zuströmt, also göttlichen Urprungs sein muss; um die Erfahrung von Erkenntnis und Scham; um unseren Umgang mit dieser Erde und das Hereinbrechen von Naturkatastrophen; um Neid und Zorn und Hass; um die Erfahrung von Gewalt und das Weiterleben mit Schuld. Und so ist auch unser heutiger Bibeltext für die Predigt eine Geschichte, die von uns erzählt und uns angeht, auch wenn sie mit den beiden Namen „Kain und Abel“ überschrieben ist. Wir hören Genesis 4,1-16
Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit Hilfe des HERRN.
  Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.
  Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes.
  Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah an Abel und sein Opfer,
  aber Kain und sein Opfer sah er nicht an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.   Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick?
  Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
  Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
  Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel?
  Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?
  Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.  Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen.
  Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.
  Kain aber sprach zu dem HERRN: Allzu groß ist meine Schuld, als dass sie mir vergeben werden könnte?!
  Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet.
  Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ihm ein Zeichen, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände.
  So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
  
  Sie sind sich nah. Sie sind sich fern. Sie sind Brüder und sind sich doch fremd. Das gibt es heute, und das gab es zu allen Zeiten. Da sind die unterschiedlichen Veranlagungen, Interessen und Fähigkeiten. Der eine eher draufgängerisch, ein Kain – sein Name bedeutet Lanze; der andere sanft, vielleicht ein Träumer oder Ästhet, Typ Abel – sein Name: Hauch.
Jeder geht seiner Arbeit nach und hat seinen Bereich. Eigentlich ergänzen sie sich gut: der eine greift zur Hacke und bebaut das Land. Heute wäre er vielleicht Maschinenbauer, Landwirt oder Ingenieur. Der andere, Abel, ist Hirte: er hat einen Bezug zu Tieren und war zu biblischen Zeiten wohl ein Nomade. Heute hätte er vielleicht einen Hundesalon, wäre Schauspieler oder Künstler. Beide leben ihr Leben; beide tun, was ihnen liegt und was sie können.
Bis, ja bis zu jenem verhängnisvollen Tag am Altar: Kain bringt Gott ein Opfer dar von seiner Hände Arbeit. Abel sieht es und tut das gleiche. Sie tun das Gleiche und kommen doch nicht gleich an; wie wir lesen: Und der HERR sah an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer beachtete er nicht. Eine schlimme Erfahrung ganz einfach ausgedrückt. Da tun zwei das Gleiche: der eine kommt an und findet Beachtung; der andere wird übersehen, fällt durch und weiß nicht warum. Der HERR sah an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer beachtete er nicht.
Liebe Gemeinde, das ist wie im richtigen Leben. Oft lässt es sich gar nicht festmachen, warum die einen wahrgenommen werden und die anderen nicht. Warum einer gut ankommt und ein anderer nicht. Aber fast immer ist es so, dass es schmerzt, nicht gesehen und nicht beachtet zu werden: Sabrina kennt das. Immer gehen die Leute zuerst auf ihre Freundin zu; sie hat sich daran gewöhnt, erst auf den 3. Blick wahrgenommen zu werden. Aber schön ist es trotzdem nicht.  Und Frieder, dem lässt der Lehrer alles durchgehen, während sein Tischnachbar beim gleichen Blödsinn sofort eine Strafarbeit kriegt. Manche finden auf Anhieb eine Stelle, wenn sie sich bewerben, andere müssen – bei gleichen Noten – zig mal Anlauf nehmen. 
Wir wissen nicht, worin sich dieses Gesehen-werden und Nicht-gesehen-werden bei Kain und Abel niederschlug, ob sie es sahen oder hörten oder – vielleicht auch nur empfanden...
Aber wie sich das bei einem selbst anfühlt, gesehen oder auch nicht gesehen, beachtet oder nicht beachtet zu werden, da könnte wahrscheinlich jede/r von uns auf Anhieb eine Geschichte erzählen. Damals, der Kunstlehrer, der das Bild, das ich gemalt hatte, ganz toll fand – bis zu dem Augenblick, als er feststellte, dass ich die Malerin war. Mich mochte er nicht.
„Kain aber und sein Opfer sah er nicht an.“
Das sind Kränkungsgeschichten, Erfahrungen, die ganz tief gehen und sehr wehtun können. Und es sind nicht immer und ausschließlich Personen, die einen schmerzlich treffen, oft sind es auch einfach die Umstände insgesamt: der Krieg, der den Müttern die Kinder nahm, Familien zerstörte und den Jungen ungefragt ihre Jugendjahre wegfraß; Gewalterfahrungen, die Menschen fürs Leben traumatisieren können; schwierige Familienverhältnisse; ein Verkehrsunfall; eine unheilbare Krankheit. Erfahrungen, die das deutliche Gefühl in einem auslösen: Andere hatten/haben es (immer) leichter; ihnen fällt einfach so in den Schoß, worum ich verzweifelt kämpfen muss.
Das Leben ist ungerecht. Vielleicht müssen wir sogar sagen: Gott ist ungerecht?! Dem einen macht er es leicht und dem andern so unsagbar schwer. Dem einen ist er zugewandt, dem andern abweisend und hart. Der HERR sah an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht an. 
Liebe Gemeinde, wir können die Unterschiede zwischen uns als Menschen nicht leugnen, gleich, ob wir uns zu den Begünstigten zählen oder zu den Vergessenen oder irgendwo dazwischen.
Doch genau um diese Stelle geht es. Genau an dieser Stelle beginnt die eigentliche Herausforderung und Aufgabe, die sich uns als Menschen stellt: Wie gehe ich mit diesen Unterschieden und der Ungerechtigkeit des Lebens um?
Als Angesehener und vom Leben Begünstigter bin ich herausgefordert: Was tust du dazu, deinem gebeutelten Bruder, deiner gekränkten Schwester beizustehen, ihnen weiterhin Bruder bzw. Schwester zu sein?  Hier in dieser Geschichte, begegnet uns ein schweigender, wenig initiativer Abel, der mitmacht, was ein anderer vormacht, aber ansonsten mit sich machen lässt. Kein einziges Wort hören wir aus seinem Munde. Ob er überhaupt wahrgenommen hat, wie gekränkt und in welcher Not sein Bruder war…?
Und als vom Leben Benachteiligter muss ich mich fragen lassen: Welchen Raum gebe ich dem Neid, der sich da regt? Was mache ich mit der Wut, die sich anstaut? Magengeschwür und Depression oder Mord und Totschlag? Oder wie könnte der dritte Weg aussehen…? Den muss es doch geben!
Kain sieht nichts anderes mehr, nur seine Zurücksetzung und Kränkung. Alles andere um ihn herum versinkt im Nebensächlichen, so fixiert ist er auf seine schlimme Erfahrung. Er schottet sich ab, er igelt sich ein, sieht nur noch das eine: dass er nicht beachtet wurde. Da senkte er finster seinen Blick. Dabei hatte Gott schon längst wieder seinen Blick auf ihn gerichtet und sieht ihn sehr wohl, sonst könnte er nicht so mit ihm reden, wie er es nun tut: Kain, warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Komm, erhebe deinen Blick! Schau her, ich seh dich. Und pass jetzt auf, was du tust: die Sünde lauert vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie. Sei auf der Hut!
Doch weil – wie schon angedeutet – diese Anfangsgeschichten vor allem Tiefengeschichten sind, nehmen sie uns mit in die Tiefe, vielleicht sogar Untiefe, der Möglichkeiten unseres Menschseins: Kain lockt seinen Bruder Abel mit einem Vorwand aufs Feld und erschlägt ihn dort. Er lässt dem „Drachen“ freien Lauf, dem „Drachen“, der in einem jeden von uns lauert und nur darauf wartet, vorbreschen und zubeißen zu dürfen: Neid und Hass, Missgunst und mörderische Gedanken. Seien wir ehrlich! Haben Sie nicht auch schon einmal jemandem Böses, gar den Tod gewünscht? Und das nicht weit entfernten Fremden, sondern vielleicht sogar einem nahen Menschen… Die schlimmsten Dramen spielen sich in Familien ab. Allein im August, so las ich vor wenigen Tagen in der Zeitung, starben 19 Menschen durch Familiendramen.
Sei auf der Hut!
Und nach der Tat? Kain tut erst mal so, als wisse er von nichts und als sei nichts gewesen. „Verdrängen“ sagen wir heute dazu: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“ Doch Gott geht gar nicht darauf ein. Weiß doch Kain sehr wohl, dass er das sein soll: Hüter seines Bruders und Hüter seiner selbst, des „Drachens“ in ihm.
Unschuldig vergossenes Blut schreit und lässt den Mörder nicht los. Einmal gestellt, schreit es ihm ins Gewissen: Kain, du bist ein Mörder! Da entsetzt er sich vor sich selbst: Allzu groß ist meine Schuld, als dass sie mir vergeben werden könnte! Und Gott macht ihm daraufhin ein Zeichen, das ihn schützen und am Leben erhalten soll. Das Kainszeichen. Es ist ein Zeichen, das an den Mord erinnert, an das Opfer; denn Abel soll nicht vergessen werden. Es ist aber auch ein Zeichen zum Leben und zum Weiterleben.
So setzt die Bibel gleich am Anfang einen Akzent gegen den Tod und gegen die Todesstrafe. Gott selbst will das Leben. Auch das Leben und Weiterleben derer, die schlimme Schuld auf sich geladen haben.
Wie viele norwegische Familien hatten drauf bis zuletzt gehofft, dass auch ein Anders Breivikzur Einsicht seiner Schuld vordringen könnte. Doch er blieb in sich verschlossen und nach wie vor gekränkt davon, dass die liberale Haltung seines Landes mehr Zustimmung findet als seine rechtsextreme, fremdenfeindliche. Nun hat er ein Jahr lang viel Beachtung gefunden, wurde auf oberster Stelle angehört und weltweit über die Medien angeschaut. Doch zu einer Einsicht oder einem Nachdenken, gar zur Reue über seinen Mord an 77 Menschen kam es bei ihm nicht. Nach wie vor ist er verschlossen in sich und seiner finsteren Welt und will es auch bleiben. Einstweilen. Das mitansehen und anhören zu müssen tut weh, ganz besonders den Angehörigen.
Und doch darf und soll er leben. So will es die norwegische Rechtsprechung. Und damit liegt sie auf einer Linie mit dieser Geschichte. Gibt doch auch Gott für Kain die Hoffnung nicht auf und öffnet ihm eine zweite Chance: Leben sollst du, als Gezeichneter zwar, aber leben. Es wird nicht mehr das gleiche Leben sein, wie es vorher war, das nicht. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden – ein Leben im Lande „Nod“, d.h. im Lande der Unruh, jenseits von Eden. Und später werden aus seinem Geschlecht die Zither- und Flötenspieler hervorgehen…
Wenn Gott Hoffnung hat für Kain und ihm sein Leben schützt und ermöglicht, dann sollten wir nicht kleinlicher sein. Wer weiß, vielleicht sind auch wir einmal darauf angewiesen.
Amen.