Predigt über 4. Mose 11, 11-12.14-17.24-25 von Johannes Neukirch
11,11

Predigt über 4. Mose 11, 11-12.14-17.24-25 von Johannes Neukirch

11Und Mose sprach zu dem HERRN: Warum bekümmerst du deinen Knecht? Und warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volks auf mich legst?
12Hab ich denn all das Volk empfangen oder geboren, dass du zu mir sagen könntest: Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt, in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast?
14Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer.
15Willst du aber doch so mit mir tun, so töte mich lieber, wenn anders ich Gnade vor deinen Augen gefunden habe, damit ich nicht mein Unglück sehen muss.
16Und der HERR sprach zu Mose: Sammle mir siebzig Männer unter den Ältesten Israels, von denen du weißt, dass sie Älteste im Volk und seine Amtleute sind, und bringe sie vor die Stiftshütte und stelle sie dort vor dich,
17so will ich herniederkommen und dort mit dir reden und von deinem Geist, der auf dir ist, nehmen und auf sie legen, damit sie mit dir die Last des Volks tragen und du nicht allein tragen musst.
24Und Mose ging heraus und sagte dem Volk die Worte des HERRN und versammelte siebzig Männer aus den Ältesten des Volks und stellte sie rings um die Stiftshütte.
25Da kam der HERR hernieder in der Wolke und redete mit ihm und nahm von dem Geist, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Und als der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf.
Liebe Gemeinde,
haben wir hier einen der ersten Burn-Out-Fälle in der biblischen Geschichtsschreibung vor uns? Der große Mose, der das Volk Israel aus Ägypten herausgeführt hat, zu dem Gott so oft gesprochen hat – der kann auf einmal nicht mehr!? Er jammert, er klagt, er ist unzufrieden. „Warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen, dass du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst?“ – so spricht Mose mit Gott. Gut, er hatte es wahrlich nicht leicht mit dem Volk, das er viele Jahre lang durch die Wüste geführt hat. Das Volk murrte, wie es heißt, was gut verständlich ist, wenn man sich eine endlos dauernde Wanderung durch eine heiße Wüste vorstellt. Und sie lassen ihren Unmut natürlich an Mose ab und fragen ihn auch schon mal, ob sie es bei den Ägyptern nicht besser gehabt hätten – zwar in Sklaverei, aber mit besserem Essen.
Mose ist so ausgelaugt, dass er zu Gott sagt, er solle ihn lieber töten als weiterhin diesen schweren Auftrag ausführen zu lassen. Es ist ihm alles zu viel.
Eine dramatische Situation in der Wüste Sinai vor über dreitausend Jahren. Wenn es nun irgendein Anführer, Fürst oder König gewesen wäre, könnten wir darüber hinweglesen. Aber ausgerechnet Mose! Wenn er nicht den nötigen Glauben an die Zukunft hat, wer dann? Gott ist ihm im brennenden Dornbusch erschienen, hat ihm die zehn Gebote persönlich überreicht, hat das Rote Meer geteilt, damit er mit dem Volk Israel durchkommen konnte, hat Manna vom Himmel regnen lassen - wenn jemand im Glauben gestärkt worden ist, dann Mose.
Und nun ist er ausgebrannt, leer, hat Todessehnsucht. Was kann man jemandem wie ihm raten? Soll er einen Berater an die Seite bekommen, einen Coach, der mit ihm die Lage und sein Verhältnis zu den ihm anvertrauten Menschen analysiert? Der mit ihm einen Zehn-Punkte-Plan aufstellt, wie er aus dieser Situation wieder rauskommen kann? Oder muss er gar eine Psychoanalyse machen? Der Verdacht liegt nahe. Denn wer solche Sätze sagt wie „Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer“, dem muss man einiges sagen. Zum Beispiel: Du kannst nicht die Verantwortung für ein ganzes Volk übernehmen. Du musst auch an Dich denken! Mose hat das Gefühl, wie es heißt, er müsse das Volk in den Armen tragen, wie eine Amme ihr Kind trägt. Das ist keine gesunde Vorstellung. Menschen müssen für sich selbst Verantwortung übernehmen und ihr eigenes Leben leben! Und sie wollen auch gar nicht bemuttert werden.
Was nun passiert, liebe Gemeinde, ist etwas, das für unseren Glauben und für unser Verhältnis zu Gott bis heute ganz entscheidend ist: Gott verteilt seine Kraft und legt den Auftrag an Mose auf viele Schultern! Er beauftragt Mose, siebzig Leute auszusuchen und diese rings um die Stiftshütte – darin sind die zehn Gebote aufbewahrt  – aufzustellen. Als Mose das gemacht hatte, heißt es: „Da kam der HERR hernieder in der Wolke und redete mit ihm und nahm von dem Geist, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Ältesten. Und als der Geist auf ihnen ruhte, gerieten sie in Verzückung wie Propheten und hörten nicht auf.“ Gott verteilt seine Kraft. Und nicht zu vergessen: Mose macht mit, er lässt es zu, dass er nicht mehr der einzige besondere, herausgehobene mit Gottes Geist beschenkte Mensch ist.
Wir könnten uns die Geschichte auch anders vorstellen: Gott spricht mit Mose, tröstet ihn, gibt ihm noch mehr Kraft und Mose kann weitermachen. Oder ein anderer hätte seine Aufgabe übernehmen können – Mose wird einfach abgelöst. Stattdessen verteilt Gott die Last auf viele Schultern und hat damit Erfolg: Sie gerieten in Verzückung.
Von dieser Geschichte aus können wir direkt zur Pfingstgeschichte springen, wir haben sie vorhin als Lesung aus der Apostelgeschichte gehört. Auch hier ist die Situation schwierig. Die Anhänger und Anhängerinnen von Jesus waren doch bei Licht betrachtet ein ziemlich verlorenes Häuflein. Jesus war nicht mehr da – seine mächtigen Predigten, die Wunder, die er getan hat – alles vorbei. Ja sicher, es gab Berichte, dass das Grab leer war, viele haben den auferstandenen Jesus gesehen, einige haben beobachtet wie ihn eine Wolke vor ihren Augen weggenommen hat. Aber wie lange hält so was an, wie weit reicht die Hoffnung, dass Jesus bald mit aller Macht wiederkommen wird?
Jesus hatte ihnen versprochen, dass er seinen Geist schicken und dieser sie trösten wird. Es passiert aber noch viel mehr als Gott seine Kraft, seinen Geist auf alle verteilt, die sich versammelt haben. Der Geist schafft es, dass sie sich alle untereinander verstehen, obwohl sie verschiedene Sprachen sprechen. Er hat sozusagen eine Verbindung auf einer anderen Ebene hergestellt. Nach einer Predigt des Petrus ließen sich dreitausend Menschen taufen, so heißt es – die erste Gemeinde stand und nahm sozusagen die Arbeit auf: „Sie blieben aber beständig in der Lehre der Apostel und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“ Und es kamen täglich neue dazu. Der Geist war die Kraft, die aus dem kleinen Häuflein eine große Gemeinschaft machte, deshalb wird das Pfingstfest auch der Geburtstag der Kirche genannt.
Gott verteilt seine Kraft und legt die Verantwortung auf viele Schultern. Ich finde, das ist ein schöner und beruhigender Gedanke: Gott konzentriert sich nicht auf religiöse Superhelden! Und das bedeutet für uns: wir sind nicht abhängig von religiösen Superhelden!
Mir ist klar, dass andererseits viele Menschen eine Sehnsucht nach Vorbildern im Glauben haben. Sie denken, dass es nicht schlecht wäre, mal wieder so jemanden wie Mose oder Petrus oder Paulus unter uns zu haben, der den ganzen müden Kirchenladen wieder voranbringt.
Mag sein. Aber es bleibt dabei: der Geist Gottes will zu uns, zu jedem einzelnen, zu Dir und zu mir. Es gab keinen direkten Nachfolger von Jesus, der in seine Fußstapfen getreten ist. Jesus war weg. Sein Geist ist aber da und sein Geist hat sich schon ganz am Anfang auf mehrere tausend verteilt und die Christenheit ist gewachsen und wächst weiter.
Und ich habe an der Mose-Geschichte noch etwas gelernt: Im Alten wie im Neuen Testament, also über die Jahrtausende hinweg, ist der von Gott verteilte Geist die Klammer, die uns im Glauben verbindet. Die Verantwortung geht auf das Volk Israel über, die Verantwortung geht auf die Christen über. Anders und ganz schlicht gesagt: Gott bindet uns in sein Handeln mit ein, er will etwas von uns, er beauftragt uns, er gibt uns den Geist des Lebens, damit wir in diesem Geist unser Leben gestalten.
Ich denke zum Beispiel an den Kirchentag, der auch dieses Jahr wieder viele lebendige geistliche Impulse gesetzt hat. „Soviel du brauchst“ hieß die Kirchentagslosung – darüber nachdenken, innehalten, sich fragen, wie wir in einem neuen Geist verantwortlich leben können. Kein einzelner steht für den Kirchentag – auch wenn die Promis immer wieder hervorgehoben werden. Nur der auf die weit über hunderttausend Menschen verteilte Geist macht einen Kirchentag lebendig.
Pfingsten bedeutet für mich: der Geist Gottes wirkt, indem er sich verteilt: „O komm, du Geist der Wahrheit und kehre bei uns ein, verbreite Licht und Klarheit, verbanne Trug und Schein. Gieß aus dein heilig Feuer, rühr Herz und Lippen an, daß jeglicher getreuer den Herrn bekennen kann.“ Amen.