Predigt über 4. Mose 6, 22-27 von Ralph Hochschild
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Predigt über 4. Mose 6, 22-27 von Ralph Hochschild

Liebe Gemeinde,
vielleicht ist jemand von Ihnen in den letzten Tagen am alten jüdischen Friedhof spazieren gegangen. Vielleicht ist er stehen geblieben und hat den einen oder anderen Grabstein genauer betrachtet. Vielleicht hat er auf einem der Steine zwei Hände entdeckt, die sich an den Daumen berühren, der kleine Finger und der Ringfinger sind abgespreizt. Die Hände zeigen an: Hier ist ein Mann begraben, der zum uralten Geschlecht der Priester gehörte, zu denen, die bis zum heutigen Tag den Segen in jüdischen Gottesdiensten sprechen, den auch wir am Ende unserer Gottesdienste hören. Sein Wortlaut ist heute unser Predigttext. Er steht im 4. Buch Mose im sechsten Kapitel die Verse 22 bis 27.
“Und der Herr redete mit Mose und sprach: Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: ‘So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet: Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.’ Denn ihr sollt meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.”
Herr segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde,
dass menschliche Hände den Segen Gottes zeichenhaft begleiten, ist uns vertraut. Den Heiligen, der uns mit drei Fingern seiner rechten Hand segnet, kennen wir aus mittelalterlichen Kunstwerken, den segnenden Christus aus orthodoxen Ikonen, wie er Daumen und Ringfinger der erhobenen rechten Hand zusammenführt. Mit dem Segenswort legen wir den Täuflingen und ihren Eltern, den Konfirmanden, den Paaren hier in der Kirche die Hände auf, genauso wie in den Häusern denen, die krank sind oder deren Leben zu Ende geht. Am Ende des Gottesdienstes erheben wir die Hände, um die Gemeinde zu segnen.
Eigentlich brauchen die Worte des Segens das Regen unserer Hände nicht. Und doch: Den meisten unter uns würde etwas fehlen, würden allein die Worte des Segens gesprochen. Die vielen Segensgesten, die wir heute kennen, lassen uns vermuten: Die Hände machen besonders griffig, worum es beim Segen geht. Darum will ich mich heute vom Bild der „Hände“ zu einigen Gedanken zum segnenden Gott und zum Segen anregen lassen.
(1) Die Hände sind unser alltäglichstes Werkzeug. Vom Aufstehen bis zum Ende des Tages halten und heben, nehmen und zeigen, stützen und tasten, greifen und geben unsere Hände. Sie begleiten stetig unser Leben, ständig unser Reden und Tun. Mit dem Segen ist es ähnlich. Gott begleitet das Leben, das er geschaffen hat, stetig mit seinem Segen. Vom Anfang der Welt bis zu ihrer Vollendung. Davon singen viele Psalmen, die über Gott staunen und Gott für das loben, was er geschaffen hat und erhält.
Wir nehmen das oft nicht wahr. Denn wir sind es gewohnt, Gott nur in den intensiven Momenten unseres Glaubens zu finden: im Schweigen, in überraschende Wendungen unseres Lebens, den Bekehrungserlebnissen, in Gebetserhörungen, in Momenten, in denen wir eine tiefe Übereinstimmung unseres Lebens mit allem Leben spüren. Im Alltag dagegen verlassen wir uns lieber allein auf unser Können, allein auf unser Wissen, allein auf unsere Kompetenzen. Gottes Segen - an gewöhnlichen Tagen ist er bestenfalls ein blasser Hintergrund unseres Lebens und Tuns. Gottes Segen - ein Rauschen, wie die Hintergrundgeräusche unseres Alltags: der Wind in den Bäumen, Lärm von Maschinen und Verkehr, Vogelstimmen und das Summen der Insekten, das Glockenläuten zu Gebets- und Gottesdienstzeiten - ein Teppich von Geräuschen, gedämpft, aber nicht bewusst in unserem Sinn.
Im Gottesdienst ist das anders. Durch den Segen im Gottesdienst wird es anders. Dort hören wir mit großer innerer Beteiligung diese Segensworte vom Herrn, der uns behütet, der sein Angesicht über uns leuchten lässt, uns gnädig ist, Frieden gibt. Für einen Moment verschränken sich Gottesdienst und Alltag. Die vertraute Segenshandlung setzt einen Impuls, Gottes Segen neu zu ergreifen, ihn nicht im Hintergrund zu lassen, sondern ihn neu als die Grundlage unseres ganzen Lebens zu begreifen.
(2) Hände geben und empfangen. Der Segen ist ein Gabe Gottes. Zuerst und bis heute für sein Volk Israel. Deshalb der Auftrag an Aaron und seine Nachkommen: „Ihr sollt meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne.” Dann für uns. Auch auf uns ist der Name Gottes gelegt. Bei unserer Taufe wurden wir auf den Namen des dreieinigen Gottes getauft. Mit dem Kreuz Christi an der Stirn bezeichnet, gehören wir zu ihm. So vertrauen wir, dass auch wir in seinem Namen Segen erfahren. “Ausgang und Eingang, Anfang und Ende, liegen bei Dir Herr, füll’ du uns die Hände” - so singen wir es oft. Unsere offenen Hände will Gott mit seinem Segen füllen. Die Worte aus dem 4. Buch Mose sagen es in drei kunstvollen Sätzen:
“Der Herr segne dich und behüte dich” - Gott schenkt dir seinen Segen, indem er immer für dich da ist und dich beschützt, auch in deinen schwierigen Lebensphasen, in den Übergängen deines Lebens, in den Krisen deines Lebens, in deinem Scheitern.
“Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig” - Gott wendet sich dir zu, er macht hell, wo es bei dir dunkel ist. Wie er die dunkle Erde durch sein Schöpfungslicht erhellt hat, so macht er dein Leben hell. Wie er mit der Feuersäule das Volk Israel durch die Nacht der Wüste geführt hat, so weist er dir den Weg. Das Leuchten seines Angesichts schenkt dir Wohlergehen und Gottes Gnade.
“Der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden” - Gott schaut über dein Leben, er sieht zu, dass du in Frieden mit anderen leben kannst, dass dein Leben eine befriedigende Gestalt und eine glückliche Ordnung findet.
Es geht also beim Segen um ein Gelingen, Reifen, Wachsen. Dabei ist beileibe nicht nur an geistliches Wachstum gedacht. Die Bibel denkt hier ganz handfest auch an Wohlergehen und Wohlstand. Ein Segen sind auch materielle Güter, die ein Überleben ermöglichen, die dem Leben Stabilität geben, die helfen, dass Menschen nicht mit anderen bis aufs Messer um Ressourcen kämpfen müssen. Der Gedanke an materielle Güter mag uns hier fremd sein. Uns ist eine angemessene Ausstattung mit Gütern selbstverständlich. Viele Menschen, große wie kleine, mussten und müssen jedoch darauf hoffen - und dass Menschen ihre Hände öffnen und ihren Segen teilen.
(3) Mit unseren Händen grüßen wir. Wir nehmen mit ihrer Hilfe Kontakt auf, sei es mit einem schüchternen Winken oder einem festen Händedruck. Verliebte halten sich an den Händen und vertiefen so ihre Gemeinschaft. Sportler reichen sich nach dem Wettstreit die Hand, bevor sie wieder auseinandergehen. Sie gratulieren sich und erkennen die Leistung und das Glück des anderen an.
Segensworte haben in der Bibel oft den Charakter solcher Grüße. Im „Grüß’ Gott“, „Vergelt’s Gott“ oder im seltenen „Gott befohlen“ haben sich Segenswünsche in unserer Alltagssprache gehalten. Die Bibel und unsere Tradition kennen noch viele andere Segenswünsche und -worte. Wer mit einem Segenswunsch grüßt, der wünscht dem anderen das Beste. Wer sich mit einem Segenswort verabschiedet, der will die Gemeinschaft mit dem anderen erhalten. Wer einen Segen zuspricht, zeigt dem anderen sein Wohlwollen. So ist der Segen nicht nur eine Sache zwischen Gott und Mensch oder Priester und Laie. Der Segen Gottes kann auch von Mensch zu Mensch gehen. Jeder kann dem anderen durch den Segen das Beste wünschen, jeder kann den Segen Gottes teilen, jeder kann zum Segen für den anderen, zum Segen für die Welt werden.
Liebe Gemeinde,
der Segen steht am Ende des Gottesdienstes. Er ist wie ein Abschiedsgruß auf der Schwelle zwischen Kirche und Welt, Alltag und Sonntag. Aber er ist nicht das letzte Wort im Gottesdienst. Das sprechen Sie, die Gemeinde, mit dem dreimaligen “Amen”: Mit dem „Amen“ machen Sie sich den Segen zueigen und bekennen: „Ja so sei es, ja so soll Gott uns segnen, ja, Gott gebe uns seinen Segen mit auf unseren Weg.“ Möge er es auch heute für uns miteinander tun! Amen.