Predigt über Galater 5, 25-6, 1-3.7b-10 von Marco Müller
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Predigt über Galater 5, 25-6, 1-3.7b-10 von Marco Müller

Er hat sich bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2011 nur den Döner-Morden geschlagen geben müssen. Er geistert schon seit Jahrzehnten durch den Blätterwald der Zeitungen, insbesondere konservativer Kommentatoren. Er ist in der politischen Rhetorik überall dort zu Hause, wo es richtig gallig und verächtlich werden soll. Die Rede ist vom Gutmenschen: Ein Schimpfwort, bei dem man sich besser wegduckt. Schade eigentlich. Zu Goethes Zeiten war es annehmbar zu sagen: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Was für ein Problem haben wir eigentlich mit dem Gutmenschen? Muss man aus der Häme, mit der in Kommentaren und Internetforen dieses Unwort bemüht wird, schlussfolgern, dass es heute wohl besser sei, ungut zu sein? Dass man mehr vom Leben habe, wenn man sich selbst der Nächste ist; dass ein Mensch sich nur dann wirklich entfalten könne, wenn er seines eigenen Glückes Schmied wird; dass er erst dann zu sich findet, wenn er die anderen aus den Augen verliert?
Mich bewegen diese Fragen ausgerechnet vor dem zentralen Wort des heutigen Predigttextes. Denn das scheint sich der verächtlichen Rhetorik vom Gutmenschen fast schon naiv entgegen zu stellen… Paulus schreibt an die Gemeinde in Galatien:»Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.«
Ist das nicht naiv in Zeiten, in denen Finanzmarkt­jongleure mit Rettungsschirmen fangen spielen? – »Einer trage des anderen Last…« Ist das nicht womöglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, weil ich schon so unter meinen eigenen Lasten ächze? – »…so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.« Wieso überhaupt Gesetz? Redet nicht ausgerechnet Paulus sonst allerorten davon, dass das Gesetz eben gerade nicht die Kraft in sich trägt, zum Leben zu führen?
  »Christus hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes.« (Gal 3,13) – »Zur Freiheit hat uns Christus befreit!« (Gal 5,1) Seine Worte! – Nur wenige Zeilen weiter oben im selben Brief an dieselben Empfänger… Das klingt liberal, das passt in unsere Zeit! Wieso kommt er ausgerechnet heute wieder mit dem Gesetz?
Paulus wusste seinerzeit natürlich nichts von unserer Zeit und unseren Problemen: Nichts vom »modernen Freiheits­verständnis« und »gesundem Egoismus«. Er konnte all das nicht einmal riechen, als er Mitte der 50er Jahre des ersten Jahr­hunderts in Griechenland unterwegs war und den Brief an die Galater schrieb. Und doch reichen seine Gedanken in eine Tiefe, die mich inne halten lassen im September 2012. Sie lassen mich neu nachdenken: Wie kann das gehen, dass ich mehr vom Leben habe? Wie kann das gehen, dass ein Mensch sich wirklich entfaltet in dieser Welt? Dass er zu sich selbst findet?
Wer den Brief an die Gemeinde in Galatien von Anfang an liest, der wird – in Kapitel 5 beim Predigttext angekommen – keinen Zweifel mehr daran haben, dass Paulus dem Buchstaben des Gesetzes wenig zur Rettung des Menschen zutraut. 27mal hat er bis dahin das Gesetz erwähnt – und meinte damit die alten Ordnungen des Volkes Israel. Er schätzt sie hoch als gute Regeln, als Hilfestellungen, als Orientierungshilfen. Aber er traut dem geschriebenen Wort nicht zu, dass es lebendig machen kann. Keinem Gesetz traut er das zu.
Und trotzdem wagt er es, noch einmal dieses Wort – »Gesetz« – in den Mund zu nehmen. Vielleicht, um seine Leser aufmerken zu lassen. Um diese leichte Irritation hervorzurufen, dieses Geflüster: »Hatte er nicht gerade noch ganz anders geredet…?«
  Aber nein! Dieses Mal spricht er vom »Gesetz Christi«. Und das scheint nichts zu sein, was sich in Paragraphen und Abschnitten und Sätzen festhalten ließe. Paulus wagt nicht mehr, als eine Richtung vorzugeben und auf einen Raum hinzuweisen, der sich dort öffnen wird: »Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen…« Er zeigt einen Kurs an: hin zu dem Raum, in dem Menschen Freiheit gestalten können, wenn sie aufeinander achten. Einen Ort, an dem Menschen wagen, mehr als sich selbst zu erkennen. Weil sie bereit sind sich einzuge­ste­hen, dass sie allein nicht sind.
Könnte das sein, dass ich mehr vom Leben habe, wenn ich meine Schritte in diese Richtung bewege? Dass ein Mensch sich dort entfalten kann? Dass er dort zu sich findet? Die Aussicht elektrisiert mich, denn sie hat ja mit mir und meinem Wunsch nach Leben zu tun. Deshalb schaue ich genauer hin: Galaterbrief, Kapitel 5 und 6:
»Wenn wir im Geist leben«, schreibt Paulus, »so lasst uns auch im Geist wandeln.«
  Ich höre da: Nicht nur reden, liebe Freunde, sondern anpacken, sich ein Herz nehmen und die Beine in die Hand… Nicht nur glauben und darauf ausruhen, dass Gott uns freundlich begegnet, sondern genau diese Liebe weitertragen – hinaus in die Welt. Weil sie mehr wird, wenn wir sie leben und teilen. Weil Leben sich dort entfaltet, wo es Leben begegnet… Weil sich eine ganze Welt erschließt, wo mein Wille zum Leben den anderen Willen zum Leben erkennt und achtet.
»Lasst uns nicht nach eitler Ehre trachten,einander nicht herausfordern und beneiden«, schreibt Paulus. Und weiter:
  »Liebe Geschwister [Brüder], wenn ein Mensch etwa von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zu Recht mit sanftmütigem Geist, ihr, die ihr geistlich seid; und sieh auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest. Einer trage des Andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Denn wenn jemand meint, er sei etwas, obwohl er doch nichts ist, der betrügt sich selbst.«
  Ich höre da: Wo du dir selbst der Nächste bleibst; wo du glaubst, dein Glück allein für dich schmieden zu können; und wo du meinst, zu dir zu finden, wenn du die um dich herum aus den Augen verlierst, mit Füßen trittst und mit Häme und Verachtung überziehst – dann übst du Betrug an dir selbst, an niemand anderem als an dir! Das klingt nicht moralisch, sondern existentiell. Bedeutsam für meinen Traum vom Leben.
ZDF am 2. September 2012: Premiere von PRECHT, dem neuen philosophischen Format des Zweiten. Die Zeit ist fortgeschritten, fast schon Mitternacht. Aber das Gespräch zwischen Richard David Precht und Gerhard Hüther lässt mich nicht los. Es geht um Bildung. Darum, wie ein Mensch sich bilden kann, welche Rahmen­bedingungen stimmen müssen, damit einer sich entfalten kann… Da erklärt der Hirnforscher:
  »Ich kann ja überhaupt meine eigenen Potentiale gar nicht entfalten, wenn ich nicht die Möglichkeit habe, mit jemandem in den Austausch zu gehen; ich kann kein Bewusstsein meiner Selbst entwickeln, wenn ich keinen habe, in dem ich mich spiegeln kann.«[1] Immer wieder verweist Professor Hüther darauf, wie wenig ich bin, wenn ich mit mir allein bleibe – und welche Möglichkeiten ich verstreichen lasse, wenn ich die Menschen um mich herum nur als Objekte betrachte, die ich gebrauchen kann oder eben auch nicht… Der Neurobiologe von der Uni Göttingenfährt fort: »Ich kann keine Vorstellung von Freiheit entwickeln, wenn ich nicht mit anderen darüber gesprochen habe, was Freiheit ist.«
Und, liebe Gemeinde, was für ein anderes Gespräch würde das, wenn ich mich nicht allein mit denen beraten würde, mit denen ich ohnehin nach Feierabend ein Bier trinken gehe oder mit denen ich im Facebook-Chat ohnehin gern andere durch den Kakao ziehe. Wie entfaltet würde mein Blick, wenn ich es wagte, die nach Freiheit zu fragen, die sie sehnlichst vermissen!
Ich erinnere mich an einen Konfirmanden, der vor Jahren auch mit bestem Zureden nicht dazu zu bewegen war, auf unsere zweite Konfirmandenfreizeit in Cuxhaven mitzufahren. Ich erzählte ihm von den tollen Unter­künften, von der großen Gemeinschaft, von den bunten Programmpunkten: von Rollenspiel, Disko und Show-Abend. Aber in seinem Kopf gab es nur einen Film: Die Erfahrungen der ersten Konfirmandenfreizeit. Dort hatten andere ihn gemobbt. Was er auch getan hatte, war ihnen einen galligen Kommentar wert gewesen. Wohin er sich auch wandte: er kam nicht raus aus dieser Lage…
Welche Entfaltungsmöglichkeiten hätte jeder und jede aus dem Konfirmandenjahrgang gehabt, wenn er oder sie diesen Jungen gefragt hätten: Was fehlt dir? Was verstehst du unter Freiheit? Wenn sie oder er nur gewagt hätten wirklich hinzuschauen und zuzulassen, was ihnen dort erzählt wird.  ––  Und jener Junge: Welche Möglich­keiten zu sich selbst zu finden wären ihm durch solch eine Begegnung geschenkt worden! Die Sicherheit, gesehen worden zu sein!
»…was der Mensch sät, das wird er ernten«, schreibt Paulus zuletzt.»Wer auf sein Fleisch sät, der wird von dem Fleisch das Verderben ernten; wer aber auf den Geist sät, der wird von dem Geist das ewige Leben ernten. [Lasst uns aber Gutes tun und nicht müde werden; denn zu seiner Zeit werden wir auch ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum, solange wir noch Zeit haben, lasst uns Gutes tun an jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.«]
Liebe Gemeinde, es scheint so zu sein, als wenn »ich Mensch« nicht in der Lage bin, allein mein Glück zu schmieden. Und doch liegt es an mir, auf welche Wege ich meine Füße lenke. Wenn ich Distelsamen ausgesät habe, dann werde ich keine Sonnenblumen ernten. Wenn ich stets den ungnädigen Blick auf die Menschen um mich herum trainiere, werde ich bei mir selbst kaum Gnade walten lassen können…
Wir saßen gemeinsam im Auto und rollten auf die rote Ampel zu. »Ach du Schreck, hast du die gesehen?«, entfuhr es einer Bekannten auf dem Beifahrersitz. Und sie warf den Kopf nach hinten, um noch einen verächtlichen Blick auf die dicke Frau werfen zu können… »Guck dir doch mal an, wie die sich angezogen hat! Ich fasse es nicht!«
  Eine ganz typische Situation. Ich kannte das von meiner Bekannten schon. Ob sie wohl wusste, wie durchschaubar sie war? Schämte sie sich doch selbst zutiefst jedes halben Pfundes wegen, das sie glaubte zu viel zu haben… Litt sie doch selbst zutiefst all der Kleider wegen, die sie glaubte nie tragen zu können, weil sie sich zu dick wähnte…
  »…was der Mensch sät, das wird er ernten.« Ich glaube, eigentlich sah sie dort auf dem Fußweg einen Teil ihrer selbst gehen. Wie gut wäre es gewesen, wenn sie gnädig mit sich umgegangen wäre…
Wir haben mehr vom Leben, wenn wir einander sehen. Wir können einander helfen uns zu entfalten, wo wir ein Ohr für die Lasten der Nächsten haben. Wir finden zu uns, wenn wir wagen, die anderen zu suchen.   –––   AMEN.

  
  
    [1]Prof. Gerhard Hüther in PRECHT, Sendung vom 2.9.2012, Minute 7:47ff. Abgerufen am 10.09.2012 unter: http://www.zdf.de/ZDFmediathek/ beitrag/video/1720560/Macht-Lernen-dumm%253F