Predigt über Hiob 14, 1-6 von Sven Keppler
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Predigt über Hiob 14, 1-6 von Sven Keppler

I. Die beiden Geschwister hatten einen großen Garten. Niemand sonst hielt sich dort auf. Nur der Vater kam manchmal in den Abendstunden, um die Kühle zu genießen. Tagsüber spielten Bruder und Schwester dort in aller Unschuld. Nackt, wie Gott sie geschaffen hatte. Auch, als sie älter wurden.
Eines Tages fiel jedoch ein Blick der Schwester auf den unbekleideten Bruder. War dieser Blick noch unschuldig? Eine Stimme sagte ihr: „Schenke ihm eine Frucht, die er bis jetzt noch nicht kannte. Eine verbotene Frucht.“ Und sie bot ihm an, von ihr zu naschen.
Er konnte nicht widerstehen. Obwohl er genau wusste, dass der Vater es untersagt hatte. Er genoss, was seine Schwester ihm erlaubte. Und sie genoss es auch. Er erkannte sie und sie erkannte ihn. Spätestens jetzt war ihre Unschuld verloren. Erst jetzt wurde ihnen klar, dass sie nackt waren. Und sie schämten sich.
Als der Vater am Abend in den Garten kam, versteckten sie sich. Sie wollten auf keinen Fall von ihm gesehen werden – nackt, wie sie waren. Und voll von Schuldgefühlen. Sie wussten, dass der Vater sie immer entdeckte. Und dass er sie sofort durchschaute. Er kannte sie so gut, dass sie nichts vor ihm verbergen konnten.
Und Gott rief Adam: „Wo bist du?“ Und er sprach: „Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich.“ Und er sprach: „Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast Du die Frucht genossen, von der ich dir gebot, du solltest nicht davon essen?“
Liebe Gemeinde! Als Adam und Eva das schlechte Gewissen bekamen, versteckten sie sich vor Gott, ihrem Vater. Sie wollten, dass er sie nicht sieht. Denn sie wussten, dass sie schuldig geworden waren. Wussten, dass der Vater sie zur Rechenschaft ziehen würde.
Ich habe ihre Geschichte erzählt als die Tat von Geschwistern. Dadurch soll für uns etwas spürbar werden von dem Tabubruch, den die beiden begingen. Ihnen war klar, dass Gott sie in jedem Fall sehen würde. Dass sie ihm nicht ausweichen konnten. Aber ihre Sehnsucht war groß, ihre Tat vor seinen Augen zu verbergen. Am liebsten hätten sie gesagt: „Schau doch weg!“ Aber schon dadurch hätten sie sich verraten. Sich und ihr schlechtes Gewissen.
Denselben Wunsch hatte auch eine andere Gestalt von urgeschichtlicher Tiefe: Hiob. „Blick doch weg von mir, du richtender, du strafender Gott.“ Ich lese die ersten Verse aus dem 14. Kapitel des Buches Hiob. Dort spricht Hiob: [lesen: Hi 14,1-6]
II.Sich vor Gott verstecken zu können. Von Gott nicht gesehen zu werden. Dieser Wunsch ist so alt wie die Menschheit. So alt, wie das schlechte Gewissen.
Die Angst, dass jemand zuschaut, kennt schon das spielende Kind. Die Eltern haben gesagt: „Schneide nicht mit der Schere, wenn Du allein bist.“ Aber jetzt hat es eine Blume gemalt. Und möchte sie so gerne ausschneiden. Die Schere liegt auf dem Tisch, aber Mama ist weit weg.
Warum nicht schnell die Schere nehmen und die Blume ausschneiden? „Ich kann das doch schon alleine!“ Als das Kind fast fertig ist, hört es die Schritte der Mutter. Es erstarrt. „Hoffentlich sieht sie es nicht!“ Doch natürlich merkt die Mutter sofort, dass etwas geschehen ist – so steif wie das Kind da steht und ihr den Rücken zuwendet.
Oder denken Sie an den Autofahrer, der nachts unterwegs ist und schnell nach Hause will. Er darf nicht links abbiegen. Aber wenn er es täte, würde er einen großen Umweg sparen. Es wird schon niemand sehen. Um diese Zeit wird doch keine Polizei mehr unterwegs sein.
Kaum ist er abgebogen, sieht er hinter einer Ecke einen silbrig-blauen Wagen stehen. „Hoffentlich haben sie nichts gesehen!“ Aber natürlich haben sie es bemerkt. Sie kennen ja die Versuchung, hier links abzubiegen und warten auf die Sünder mit offenen Armen.
Und da, wo wirklich niemand einen Betrug bemerkt hat? Kennen Sie trotzdem das schlechte Gewissen? Das beklommene Gefühl, dass Ihnen doch jemand zugeschaut hat? Dass zumindest Gott alles sieht?
Ausgerechnet der, vor dessen Urteil ich die größte Achtung habe! Wenn er doch von mir wegblicken würde! Einmal schliefe. Oder mit Anderen beschäftigt wäre. Von Kind an steckt dieser Gedanke in mir, dass Gott alles sieht. Und dass er von mir erwartet, dass ich keine Fehler begehe!
III.Liebe Gemeinde, ich vermute, dass dieses Gefühl eine Haupt-Ursache dafür ist, dass sich so viele Menschen von Gott abgewandt haben. Die Sehnsucht, das schlechte Gewissen los zu werden. Der Wunsch, nicht bei dem beobachtet zu werden, was ich tue. Ich weiß, dass ich Fehler mache. Aber ich möchte mich nicht jedes Mal dafür verantworten müssen!
Es ist so, wie Hiob sagt: Ich weiß, dass meine Zeit begrenzt ist. Voller Unruhe lebe ich mein Leben. Es erblüht wie eine Blume. Aber auf dem Höhepunkt meiner Blüte spüre ich schon, dass es wieder verwelkt. Kann ich etwa frei von Fehlern sein? Umgeben von Menschen, die doch auch alle ihre Macken haben? Soll ich dafür auch noch ständig ein schlechtes Gewissen haben?
Aber ich habe es. Und ich werde es solange behalten, wie ich das Gefühl habe: Ich werde beobachtet. Soll Gott doch wegschauen von mir! Und wenn er das nicht tut, schaue ich wenigstens von ihm weg. Wende mich von ihm ab. Wie ein Kind, das sich beim Versteckspielen die Augen zuhält und glaubt, nicht mehr gesehen zu werden.
Ich vermute, hier liegt eine der stärksten Wurzeln der Abwendung von Gott. Die Methode hat ja auch Erfolg. Für viele ist es heute wahrscheinlich schon eine eigenartige Vorstellung, dass Gott ihnen bei ihrem Tun zusehen könnte. Und ein noch seltsamerer Gedanke, dass sie sich vor ihm schämen müssten.
Mich von Gott abzuwenden ist der größte Schritt bei dem Versuch, mein schlechtes Gewissen los zu werden.
IV.Vorgestern war der 9. November, liebe Gemeinde. Ein Tag voller deutscher Erinnerungen. Wir denken an den Fall der Berliner Mauer vor 23 Jahren. Auch an die Revolution von 1918. Aber auch an den Putschversuch von Hitler und Ludendorff im Jahr 1923 und die Reichspogromnacht von 1938.
Sie war ein überall sichtbares Warnzeichen für das Leid, das in den folgenden Jahren kommen sollte. Die Verfolgung von Juden, Behinderten, Sinti, Roma und Homosexuellen. Sie wurden ermordet in dem Wahn, das deutsche Volk rassisch rein zu halten. Um dadurch im angeblichen Kampf der Rassen besser bestehen zu können.
Eben sagte ich: Das schlechte Gewissen ist eine Quelle des Atheismus. Man will keinen Gott, vor dem man sich rechtfertigen muss. Ist es ein Wunder, dass die Nationalsozialisten sich im Laufe ihrer Herrschaft immer mehr von Gott abgewandt haben?
Dass sie sich ein germanisches Heidentum auf die Fahnen schrieben? Oder Hitler von Schicksal und Vorsehung orakelte – einer zwangsläufigen Macht, vor der man sich nicht verantworten muss, weil alles ohnehin schon entschieden ist. Am Heidentum der Nazis wird es überdeutlich: Wer sich nicht für sein Tun verantworten will, muss versuchen, Gott los zu werden.
V.Aber dadurch dürfen wir uns nicht täuschen lassen: Den Wunsch, dass Gott nicht hinguckt – diesen Wunsch haben nicht nur Verbrecher. Er steckt in jedem von uns. In jedem, der ein schlechtes Gewissen kennt. Er kann sogar ein Ausdruck von Frömmigkeit sein:
Nur wenn ich an Gott glaube; wenn ich überzeugt bin, dass er mich sieht; wenn ich weiß, dass er etwas von mir erwartet – nur dann erlebe ich die Fülle des schlechten Gewissens ihm gegenüber. So wie Hiob. Denn Hiob war ein tief frommer Mann. Sein Wunsch, dass Gott von ihm wegblicken möge, war die Folge seiner Frömmigkeit.
Das Einzige, was er sich angesichts seiner Lage noch erhoffte, war ein bisschen Freude. Luther übersetzt das ein wenig verwirrend: Damit er Ruhe hat, bis der Tag kommt, auf den er sich wie ein Tagelöhner freut.Der Ausleger Georg Fohrer überträgt es klarer: Hiob wünscht sich, dass er wie ein Tagelöhner seines Tages froh werde.
Aber wie kann es dazu kommen? Können wir ernsthaft hoffen, dass Gott von uns weg sieht? Ist das überhaupt eine heilsame Vorstellung? Und vor allem: Ist es etwas, womit wir rechnen können?
Mir fällt dazu ein Gedanke ein, den Luther sehr betont hat. Unsere Rettung liegt darin, dass Gott nicht auf unsere Sünden sieht. Sondern dass er stattdessen auf Christus blickt. Dass Gott nicht meine Fehler sieht, sondern die Liebe Jesu.
Und was Gott bei Jesus Christus sieht, das überträgt er auf mich. Weil ich durch meinen Glauben zu Jesus gehöre. Gott sieht Sie und mich an, als ob wir Christus wären. Weil wir getauft sind und zu ihm gehören.
Unser christlicher Glaube sagt also tatsächlich: Gott schaut von uns weg. Schaut stattdessen auf den Christus, der ohne Sünde ist. Aber Gott tut das uns zuliebe. Er wendet sich nicht von uns ab. Sondern er wendet sich uns danach erneut und ganz neu zu. Und betrachtet uns wie seinen Sohn. Sieht uns an mit den liebenden Augen des Vaters.
Hiobs Wunsch ist also auf ganz überraschende Weise in Erfüllung gegangen. Und das ist die Grundlage dafür, dass wir tatsächlich unseres Tages froh werden können – so, wie Hiob es erhofft hat. Amen.