Predigt über Jeremia 1, 4-10 von Bernd Giehl
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Predigt über Jeremia 1, 4-10 von Bernd Giehl

Am nächsten Sonntag habe ich in einer meiner beiden Gemeinden vier Kinder zu taufen. Ob ich deren Familien diesen Text predigen kann? „Und des Herrn Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest und bestellte dich zum Propheten für die Völker.“ Eigentlich klingt das doch gut. Gott, der schon den Embryo kennt, bevor der überhaupt gezeugt wird und der ihn auserwählt. Das ist doch eine Phantasie, die zur Taufe passt. Eine solche Auszeichnung würde sich doch jede Familie für ihre Kinder wünschen. Leider werden unsere Träume an dieser Stelle schon wieder brutal durchkreuzt durch  die Antwort des Angeredeten. „Ich aber sprach: Ach Herr, Herr, ich tauge nicht zu predigen, denn ich bin zu jung.“ Nur dass Gott das nicht gelten lässt. Der Herr sprach zu mir: Sage nicht ‚’Ich bin zu jung‘, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende und predigen, alles, was ich dir gebiete.“ Da wird einem schon ein bisschen mulmig. „Berufung“, so etwas mag’s ja geben, aber kann das so wörtlich gemeint sein? Ich meine, wir leben doch in Zeiten, in denen Menschen nicht einfach autoritär gesagt wird: „Das tust du jetzt aber“, so wie uns das früher in Zeiten der Schwarzen Pädagogik unsere Eltern geheißen haben und das ohne die Möglichkeit der Widerrede. Heute wollen sie alle gefragt  werden: Willst du dieses oder jenes tun?  Aber nichts da. Immerhin, einen Tost bekommt der zukünftige Prophet ja noch mit auf den Weg. „Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.“ Aber dann wird es happig: „Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.“
Kann man einen solchen Text einer großen Taufgesellschaft predigen?
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Nein, die Frage ist nicht rhetorisch gemeint. Ich für mich kann sie mit einem klaren „Nein“ beantworten, aber offensichtlich kann man den Text auch noch anders empfinden als ich es tue. In der „Gottesdienstpraxis IV/3 von 2006 hat Ute Zöllner diesen Text bearbeitet und ihn offensichtlich ganz anders empfunden als ich. Sie hat das Widerständige in diesem Text abgeschwächt, indem sie darauf verweist, dass hier eine von der Tradition her vorgegebene Form der Berufungsgeschichte erzählt wird. Der Widerspruch des Berufenen sei traditionell, („der muss das einfach sagen“) ebenso die Verheißung des Beistands Gottes. Nur das Motiv „Ich kannte dich von  Mutterleib an“ sei neu und auch das andere, die Berufung für die Völker. Ihre Predigt beschäftigt sich dann mit dem Angesehen Werden. Damit dass der Blick eines anderen Menschen bis tief in die Seele dringen kann. Und dass daraus fruchtbare Beziehungen entstehen können.
Nur Jeremia, so glaube ich, würde es nicht so beschreiben. Vielleicht würde er ja von diesem „angeblickt werden“ reden. Aber ob er es als „freundlich“ beschreiben würde? Ich befürchte, das Wort „freundlich“ würde in seiner Beschreibung nicht vorkommen.
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Nein, ich glaube nicht, dass sich Jeremia in dieser Beschreibung wiederfinden würde. Freundlich ist es nicht, was hier gesagt wird. Vielleicht würde er sich eher in einem Gedicht wiederfinden, das ich selbst vor zwei Jahren schrieb. Nicht über ihn, sondern über den Propheten Jona, der mein Lieblingsprophet ist, und der mich nun auch schon seit fast dreißig Jahren begleitet. Gewiss, die Jonageschichte ist leichter, spritziger, auch voller Komik; man kann leichter mit ihr umgehen, aber eins haben sie doch beide gemeinsam: Sie haben Schwierigkeiten mit ihrem Auftrag.
Hier das Gedicht:
„Jona hadert mit dem Herrn“
  Ich wollte nicht Prophet sein
  Schafzüchter hätte mir genügt
  Landpfarrer, Herr
  ist auch ein ehrbarer Beruf
  dabei
  das Rosen züchten lernen
  oder Weinstöcke schneiden
  im Frühjahr.
  Immer, Herr
  wäre ich dankbar gewesen
  ein Glas vom eignen Wein
  hätt‘  ich dir vorgesetzt
  wenn du gekommen wärst.
  Warum nur, Herr
  dein WORT  –
  als Feuer fiel‘s auf mich
Über den Propheten Jeremia hätte ich ein anderes Gedicht schreiben müssen. Es hätte sicher nicht diesen eher heiteren Ton gehabt, (wobei ich da vorsichtig sein muss; vielleicht ist dieses Gedicht nicht so heiter, wie ich es höre, aber ich lese es nun einmal anders als andere, weil es aus dem eigenen Erleben kommt.)  Aber vom WORT, das wie Feuer auf ihn fiel hätte auch ein Jeremia reden können.
   Wie predigt man über diese Text? Ich muss gestehen, ich weiß es immer noch nicht. Das alles sind ja eher Suchbewegungen als eine fertig ausformulierte Predigt. Vielleicht hilft es ja, wenn man diesen Propheten nicht kennt; wenn man vor allem seine tiefe Menschlichkeit nicht kennt. Wie muss er gelitten haben unter den Worten, die er auszurichten hat. Ich hatte nicht die Zeit, mich tiefer in die Exegese zu knien, aber ich vermute, diese Berufungsgeschichte  ist ein eher später Text. In ihr scheint mir  die gesamte Erfahrung des Propheten mitzuschwingen. Vor allem in dem Auftrag Gottes:  „Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.“ „Ausreißen und einreißen, zerstören und verderben – vier negative Verben und nur zwei, die positiv klingen, nämlich „bauen und pflanzen.“
Jeremia ist der einzige unter den Propheten des Alten Bundes, der nicht nur das getan hat, was seine Aufgabe war, nämlich die Botschaft zu verkündigen, die ihm aufgetragen war, sondern der darüber auch reflektiert hat. Die „Konfessionen Jeremias“ in Jeremia 12,15 und 20 gehören für mich zum Ergreifendsten, was ich je gelesen habe. „Du hast mich verführt, Gott, und ich ließ mich verführen. Du hast mich gepackt und überwältigt. Jeden Tag werde ich zum Gespött, alle verlachen mich. Ach, sooft ich rede muss ich schreien: Gewalt und Misshandlung.“ (Jeremia 20,7f. in der Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache.) So sehr hat kein anderer der Propheten mehr mit Gott  gerungen, oder wenn sie es getan haben, dann ist es uns nicht überliefert. Das Wort aus Jeremia 23,29: „Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschlägt?“ er könnte es auch auf sich bezogen haben.
Wie predigt man einen solchen Text? Wie redet man über eine solche Gestalt? Geholfen hat mir ein Artikel über Oskar Lafontaine in einem älteren „SPIEGEL“, den ich zufällig beim Zahnarztbesuch gelesen habe. In diesem Artikel wurde Oskar Lafontaine nach seiner erneuten Kandidatur als Vorsitzender der Linken vor ein paar Wochen als großer Zerstörer dieser Partei porträtiert, dem es nicht um die Sache sondern allein um sein Ego gehe. In einer früheren Kampfkandidatur als er noch in der SPD war und gegen Rudolf Scharping antrat, habe Scharping nach seiner Niederlage zu Lafontaine gesagt: „Die Sache ist wichtiger  als wir selbst.“
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Dieser Satz kommt mir vor wie eine Art Wasserscheide. „Die Sache (des Evangeliums) ist wichtiger, als wir selbst.“ Einen solchen Satz sagt man nicht leichtfertig Da ist dann der „status confessionis“ erreicht. So einen Satz könnte Martin Luther gesagt haben, in den Auseinandersetzungen um die Sache des Evangeliums. Da hat er ja tatsächlich sein Leben mehr als einmal aufs Spiel gesetzt,
Nur frage ich mich dann doch, wo es uns so geht. Gibt es Situationen in unserem Leben, wo es so passieren kann? Wo wir für die Wahrheit eintreten müssen, egal, wie viel es uns kostet? Ich denke, es kann passieren, wenn Menschen ungerecht behandelt werden und keiner da ist, der sich für sie einsetzt. Sich auf die Seite eines solchen Menschen zu schlagen, kann Probleme mit sich bringen. Womöglich wird man dann selbst ausgegrenzt. Oder ich denke an die Zeiten der Nachrüstung, wo man in einer normalen Kirchengemeinde auch schnell zum Außenseiter werden konnte, wenn man die Spirale von Rüstung, „Nachrüstung“ und „Nachnachrüstung“ thematisierte. Da hieß es dann schnell, der Pfarrer habe gefälligst nicht politisch zu predigen.
Diese Zeiten sind vorbei, und ich bin froh darüber. Es war nicht angenehm, sich ständig in der Minderheitenposition wiederzufinden. Eigentlich lebe ich gern in Harmonie mit meinen Mitmenschen. Ständig aufpassen zu müssen, was man sagt und wie es einem ausgelegt wird, ist nicht angenehm. Smalltalk über den Gartenzaun mit dem Nachbarn zu halten, ist mir lieber, als ständig auf der Hut zu sein.
Und dennoch kann es Zeiten geben, wo dieser Satz „Die Sache ist wichtiger als wir selbst“ wichtig werden kann.
Wann es so weit ist? Wann einer aufstehen und prophetisch reden muss? Ich kann es nicht sagen. Ich denke, man wird es spüren.