Predigt über Jeremia 1,4-10 von Heinrich Braunschweiger
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Predigt über Jeremia 1,4-10 von Heinrich Braunschweiger

Liebe Gemeinde!
  „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ So der Titel eines philosophischen Bestsellers.
  Ja, wer bin ich denn? – das ist nicht nur die Frage eines Pubertierenden, dessen Inneres gleichsam noch fließend ist.  Das ist die Lebensfrage schlechthin, verbunden mit der Frage: Was ist denn der Sinn meines Lebens? Wozu lebe ich? Wofür und für wen? Habe ich denn eine Bestimmung?
  Diese Fragen konstituieren unsere Menschlichkeit.
  
  Seit einigen Jahren allerdings meinen einige Neurowissenschaftler, diesen Fragen gleichsam die Luft abgelassen oder besser: sie in neuronale Luft aufgelöst zu haben. Sie behaupten, der Mensch sei nicht mehr als ein komplexes Bündel von feuernden Neuronen, von diesen gesteuert,
  letztlich also eine Gehirnmaschine, und die Vorstellung von der menschlichen Freiheit eine grandiose Illusion.
  
  Für manche durchaus eine attraktive Vorstellung. Nicht nur wären unsere Fragen überflüssig geworden: auch die Verantwortung für unser Tun und seine Folgen wären wir dann ja los.
  Oder etwas poetischer: Der Mensch – „In gedankenloser Lust wird er gezeugt, und in gedankenlosem Krampf wird er aus dem Paradies des Mutterschoßes hinausgestoßen in die buntscheckige, gedankenlose Welt. Er ist ein Narr des Zufalls, das Spielzeug der ziellosen Natur – eine Eintagsfliege, getrieben von den Winden des Chaos“ – so John Barth in seinem Roman „Der Tabakhändler“.
  
  Klar ist, liebe Gemeinde, keine Wissenschaft und kein Mensch kann von sich aus eine zureichende und der Menschlichkeit des Menschen genügende Antwort geben auf die Fragen: „Warum bin ich auf der Welt und wozu? Habe ich eine Bestimmung?“
  Was nicht heißt, dass ich nicht auch ohne Antwort ein menschlicher Mensch sein und meine Aufgaben im Leben und in der Gesellschaft verantwortlich wahrnehmen kann.
  
  Und doch: Warum auf Antwort verzichten, wenn Sie gegeben wird; gegeben von dem, der jetzt auch zu uns sprechen will. Der Geist dessen, der dafür verantwortlich ist, dass ich bin, und dafür, dass überhaupt etwas ist und nicht nichts.
  
  Hören wir von der Berufung des Propheten Jeremia aus dem 1. Kapitel des Jeremiabuches:
  
  Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, HERR HERR, ich tauge nicht zu predigen, denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: „Ich bin zu jung“, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.
  Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.
  
  Liebe Gemeinde,
  über Völker und Königreiche sind wir zwar nicht gesetzt, aber von hohem Adel sind wir alle allzumal. In diese Welt gesetzt und dazu geadelt, mit zu bauen am Reich Gottes, wo Frieden und Gerechtigkeit herrschen.
   In Martin Bubers „Erzählungen der Chassidim“ findet sich folgende kleine Anekdote:
  Rabbi Schlomo fragte: „Was ist die schlimmste Tat des bösen Triebs?“ und er antwortete: „Wenn der Mensch vergisst, dass er ein Königssohn, eine Königstochter ist.“
  Das ist eine ganz andere Auskunft als die der ominösen Neurowissenschaftler.
  
  Die Geschichte von der Berufung des Propheten Jeremia ist zunächst einmal nicht die unsere.
  Und doch erfahren wir hier etwas, was auch uns unbedingt angeht, und uns befreit von der lästigen und unersprießlichen Frage, wozu wir überhaupt auf der Welt sind.
  
  Mit Ultraschall sozusagen wird die pränatale Existenz des Propheten erleuchtet: „Noch ehe ich dich bildete im Mutterleibe, habe ich dich erwählt…zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt.“
  
  Der Prophet ist – wie jeder Mensch – ein eigenes Werk des Schöpfers, ein Gebilde Gottes.
  Um zu werden, was du bist, lieber Mensch, musst du dich darum verstehen lernen als von Gott gewollt und mit einem Auftrag versehen: „ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen…“
  Nicht eine Gehirnmaschinebist du also und nicht ein „Narr des Zufalls“, nein, du bist ein fleischgewordener Gedanke Gottes, hineingestellt in eine Welt, eine Familie, eine Gemeinde und Gesellschaft, die dich braucht, in der du eine Aufgabe hast von Jugend an bis ins Alter.
  
  Jeremia war noch jung, vielleicht 25 Jahre alt, als das Wort Gottes gleichsam wie ein Blitz in sein Leben einschlug.
  Franz Werfel hat in seinem Roman „Jeremias“ versucht, das Unbeschreibliche zu beschreiben, dieses Ereignis mit Worten auszumalen.
  “Die Stimme des HERRN braucht den Innenraum des Menschen“, heißt es da. „Hauch ist Geist. Hand ist nicht Geist. Und doch, wenn Gott auch keine Hand besitzt, so berührt er Jeremia dennoch mit der Hand…Und diese Berührung ist ein kurzer Schlag auf den Mund. Es durchblitzt den Menschensohn mit dem Schmerz aller Schmerzen, mit der Wollust aller Wollust zugleich…Laut schreit Jeremia auf, ehe er zusammenstürzt.“
  
  Vielleicht war es so oder so ähnlich. Jedenfalls: von Gottes Wort gepackt zu werden, ist vermutlich immer ein umstürzendes Ereignis.
  Selbst wenn einer eine Predigt vorzubereiten hat, er sich also dem Text, dem WORT, aussetzt, nimmt das manchmal Züge einer schmerzlichen Geburt an.
  Ja, auch die Lust, nicht gerade die Wollust, aber die Lust ist dabei, die Freude, wenn man weiß, damit kann ich jetzt auf die Kanzel steigen, das muss nun gesagt werden.
  Aber nicht nur Lust, sondern auch Last liegt in jeder Begegnung mit dem Gotteswort.
  Denn dieses WORT steht ja  quer zu dem, was man so denkt und tut in einer Konkurrenz-Gesellschaft, in der sich viele, allzu viele nur um ihr Fortkommen kümmern, um  die Mehrung ihrer Möglichkeiten – und dabei kommen die Schwachen buchstäblich unter die Räder:
  Wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht, wenn die unersättliche Gier  einiger
  ganze Volkswirtschaften in den Ruin treibt, wenn die Spekulationsgewinne der Banken gerettet und die Sozialleistungen derart gekürzt werden, dass in manchen Ländern die Menschen sich nicht mal mehr das tägliche Brot leisten können. Ja, das und noch vieles mehr schreit zum Himmel.
  
  Und der im Himmel hat also nun damals vor etwas mehr als 2 ½ Tausend Jahren mit seinem WORT den  jungen Priestersohn aus Juda gepackt – ihm geradezu Gewalt angetan, wie Jeremia später sagen wird.
  Warum und wozu?
  
  Israel war ja das Experimentierfeld Gottes. Inmitten der Völker sollte eine Gemeinschaft, eine Gesellschaft entstehen, in der der Mensch dem Menschen nicht Wolf, nicht Konkurrent, sondern Bruder und Schwester ist.
  
   Er hatte dem aus der Knechtschaft befreiten Volk ein Grundgesetz gegeben, und ließ es wissen, dass nicht nur – wie bei den übrigen Völkern  - der jeweilige Potentat, sondern jeder einzelne zum Ebenbild Gottes berufen ist.
  Dieses Gesetz sollte vor allem die Schwachen schützen und den Schalom, das friedliche Zusammenleben, garantieren.
  
  Gott hatte also sein Volk dazu befreit, die Freiheit, Gleichheit und Solidarität zu leben – befreit von den Göttern der umliegenden Völker, deren Priester dazu da waren, den Zustand von Herrschaft und Knechtschaft als den Willen der Götter auszugeben.
  
  Aber dieses Experiment war praktisch schon gescheitert, als das Volk wie die übrigen Völker nach einem König rief. Nun gab es in Israel - wie überall in der Welt - wieder Oben und Unten, Herrschende und Beherrschte, solche mit Privilegien und solche, die unter die Räder kamen.
  Immer wieder standen Propheten auf, die im Namen Gottes das Volk zur Umkehr von seinem bösen Wege riefen und das Gericht androhten.
  
  Das Nordreich Israel war dem Gericht schon verfallen, die Assyrer hatten Samaria zerstört und die Oberschicht verschleppt, als Gott die Hand auf den jungen Jeremia legte.
  Es ist sozusagen Gottes letzter Versuch, das Unheil, die Katastrophe von Juda, dem Reststaat Israels, abzuwenden.
  „Vielleicht hören sie und kehren um…, so dass ich mich das Unheil gereuen lasse“ – so hört Jeremia den HERRN Zebaoth zu ihm sprechen.
  
  Die Religion der Leute muss er als Lüge entlarven.
  „Bessert euer Leben und euer Tun, dass ihr recht handelt einer gegen den andern und keine Gewalt übt gegen Fremdlinge (heute heißen sie Migranten), gegen Waisen und Witwen (gegen Alleinerziehende würde das heute heißen)  und nicht anderen Göttern nachlauft zu eurem Schaden… Aber nun verlasst ihr euch auf Lügenworte, die zu nichts nütze sind. Ihr seid Diebe, Mörder, Ehebrecher und Meineidige …Und dann kommt ihr und tretet vor mich in diesem Hause, das nach meinem Namen genannt ist, und sprecht: Wir sind geborgen – und tut weiter solchen Gräuel.“
  
  Nun, ihr seht, liebe Schwestern und Brüder, die Zustände damals in Juda waren durchaus vergleichbar mit den unseren  heute – übrigens auch in Sachen Religion, wo sich inzwischen fast jeder seinen eigenen Gott zurechtzimmert, den „lieben Gott“, der nur noch lieb sein darf.
  Aber die Kehrseite der Liebe ist der Zorn Gottes über eine Menschheit, die seine Schöpfung ruiniert.
   Ja, seine Liebe ist brennend, weil er für seine Geschöpfe brennt. Und an seinem Feuer der Liebe kann man sich auch verbrennen.
  
  Kein Wunder jedenfalls, dass Jeremia sich zunächst wehrt gegen den Auftrag, im Namen Gottes zu predigen. „Ach HERR HERR, ich tauge nicht zu predigen, denn ich bin zu jung.“
  Der Priestersohn aus Anathoth, ahnte wohl, welche Last ihm da aufgebürdet würde.
  
  Und wie steht es mit uns? Nein, ich will weder mir noch sonst jemandem, der mit mir jetzt den Gottesdienst feiert, den Prophetenmantel überwerfen. „Noch Keiner, der ein Prophet sein wollte, und wäre es auch nur ein kleiner, ist es wirklich gewesen.“
  Aber, liebe Gemeinde, die Kirche insgesamt hat einen prophetischen Auftrag, ein Wächteramt. Und wenn sie das nicht wahrnimmt, wenn sie angesichts der Gefahren, der Katastrophen, auf die unsere Welt zusteuert, nicht ihre Stimme erhebt,
  dann wird sie in allernächster Zukunft noch mehr ins Abseits geraten.
  
  Und wer ist die Kirche? Die Antwort ist klar.
   Martin Luther schreibt: „Jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, ist schon zum Priester und Bischof geweiht.“
  Jeder, jede ist an ihrem Ort berufen, an der Heilung der Welt mitzuarbeiten.
  Ach HERR HERR… möchten wohl auch wir jetzt sagen…
  Ach HERR, wir sind doch nur kleine Rädchen in diesem großen Räderwerk der Welt.
  Was können wir denn schon ausrichten? Man kann eh nichts machen. Die Welt ist nun mal, wie sie ist.
  
  Aber, liebe Freunde, was ist die schlimmste Tat des bösen Triebes?  –
  Wenn der Mensch vergisst, dass er ein Königssohn, eine Königstochter ist.
  Und Adel verpflichtet.
  
  Der neunzigjährige Jörg Zink hat nochmals zur Feder gegriffen und ein Büchlein voller Altersweisheit geschrieben. Ein Kapitel darin ist überschrieben mit „Was erwartet unsere Welt von uns Alten?“
  
  Darin zählt er die vielen Baustellen auf, wo unser Engagement gefragt ist. Von der Umweltproblematik über das Thema Verschuldung, die auf unseren Enkeln lasten wird, bis hin zu der Verelendung ganzer Völker.
  Und er hat Verständnis für jeden, den angesichts dieser gewaltigen Herausforderungen Müdigkeit und Angst ergreift und der sich in sein privates Gehäuse zurückzieht.
  
  Aber wenn der christliche Glaube recht hat, dann, so sagt er, gelten für uns folgende Regeln:
  „Scheue dich nicht, den Kürzeren zu ziehen. Das ist der Weg der Gerechtigkeit.
  Lass dir etwas entgehen. Das ist der Weg zur Rettung der Erde.
  Verzichte darauf, siegen zu wollen. Das ist der Weg zum Frieden.
  Sorge nicht immer in erster Linie für dich selbst. Das ist der Weg zum Glück.
  Setze dein Leben für etwas Lohnendes ein, das dir keinen Lohn verspricht. Das ist der Weg der Erfüllung.
  Verzichte darauf, dich in allem selbst verwirklichen zu wollen. So wirst du dich gewinnen.
  Liebe! Das heißt: Lass dich los. So wirst du dich in die Hand bekommen.
  Wenn du solchen Regeln nachlebst, bist du nicht weit von denen, die Jesus ‚glücklich’ nennt.“
  
  Dieses Glück, liebe Gemeinde, das wir auf diesem Weg erfahren, erinnert mich ein wenig an jene Lust, mit der nach  Franz Werfel der junge Mann Jeremia durchflutet wird.
  Denn es ist ja das Feuer der Liebe Gottes, das in berührt. Von Gott berührt sein, sein Ja-Wort hören, vom Schöpfer zu hören: Ich habe dich erwählt, dich in diese Welt gerufen, damit du mein Zeuge seist, der Zeuge meiner Liebe zur Welt.
  Das heißt doch:
  nun zu wissen, wer ich bin und wozu ich da bin. Und d.h. mit sich eins sein. Größeres Glück gibt es nicht.
  
  Im Vertrauen auf Gottes Wort, liebe Gemeinde, haben wir daran teil, sind wir glückliche Menschen, sind wir Königskinder.
  Denn mit dem Psalmbeter dürfen wir wissen und bekennen:
  „Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten…“
  Und darum dichtet und singt Paul Gerhardt selbst in den fürchterlichen Jahren des 30-jährigen Krieges:
  „Eh ich durch deine Hand gemacht,/ da hast du schon bei dir bedacht,/wie du mein wolltest werden.“
  
  Natürlich ist dieses Glück in einer Welt, die von Gott nichts wissen will, nicht ungetrübt. Der, der mit Gott ganz eins ist, das fleischgewordene WORT Gottes – der Prophet aus Nazareth – endete am Kreuz.
  Jeremia war so etwas wie eine Vorabschattung des Gekreuzigten.
  
  An seinem Leben und gar an seinem Gott wird er verzweifeln, von seinen Angehörigen wird er verstoßen und völlig vereinsamen.
  Nicht mehr will er an Gott denken, nicht mehr predigen, aber Gott lässt ihn nicht los, sein WORT brennt wie Feuer in seinem Herzen.
  
  Ja, liebe Brüder und Schwestern, die Liebe Gottes ist brennend…Der, der ganz davon erfüllt war, und deshalb Sohn des lebendigen Gottes heißt, spricht:
  „Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden; was wollte ich lieber, als dass es schon brennte!“
  
  Als Getaufte hat dieses Feuer auch uns berührt. Und so sind wir dazu berufen, dieses Feuer weiterzutragen.
  Wir werden dabei immer wieder müde werden, dürfen zu Gott klagen. Und wir dürfen immer wieder scheitern – an uns selbst an unserem Auftrag. Und immer wieder neu beginnen.
  Und im Namen Jesu  beim Vater im Himmel anklopfen und beten:  Dein Reich komme!
  Und auch zu uns ist gesagt: „Fürchtet euch nicht!
  Denn siehe, ich bin bei euch alle Tage – bis an der Welt Ende.“
  Amen
Perikope
Datum 05.08.2012
Bibelbuch: Jeremia
Kapitel / Verse: 1,4
Wochenlied: 497
Wochenspruch: Lk 12,48