Predigt über Jeremia 31, 31-36 von Manfred Wussow
31,31

Predigt über Jeremia 31, 31-36 von Manfred Wussow

Eine falsche Spur
  
  Ich muss Euch etwas beichten! Eine richtig neue Predigt wollte ich schreiben und sie heute auch einmal ganz anders halten.  Ich stellte mir schon vor, wie toll das ankommt. Ich sah, wie ihr mir die Worte von den Lippen nehmt. Sollte ich die Presse einladen? Den Organist bitten, heute einmal richtig in die Tasten zu hauen? Einfach mal was Neues. Neuer Ton, neue Gedanken, neue Leidenschaft.  Als ich dann am Schreibtisch saß, wollte das dunkle Loch im Kopf  nicht weichen – und das weiße Papier schlummerte im Drucker. Die Uhr tickte. Über meinen Büchern lugte schon erster Sonnenschein. Der Tag brach an. Nur:  Es gab nichts Neues! Nicht einmal ein neues Wort! Entschuldigung, warum erzähle ich das jetzt eigentlich?
  
  Ein richtiger Text
  
  Beim Propheten Jeremia lesen wir:
  
  Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen,
  nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR;
   sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.
  Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
  
  So spricht der HERR, der die Sonne dem Tage zum Licht gibt und den Mond und die Sterne der Nacht zum Licht bestellt; der das Meer bewegt, dass seine Wellen brausen – HERR Zebaoth ist sein Name –:
  Wenn jemals diese Ordnungen vor mir ins Wanken kämen, spricht der HERR, so müsste auch das Geschlecht Israels aufhören, ein Volk zu sein vor mir ewiglich.
  
  Es wird eine neue Zeit angesagt. Ja, die Formulierung ist eindeutig: sie – die neue Zeit – kommt.
  Die Verheißung gilt – dem Haus Israel und dem Haus Juda. Die Brisanz: das Haus Israel besteht überhaupt nicht mehr. Es ist untergegangen. Von der Landkarte verschwunden. Wo Israel stand – steht jetzt Assyrien. Ein Koloss! Die kleinen Völker drum herum kommen aus der Angst nicht heraus. Sofern sie nicht schon längst geschluckt waren. Es gibt eben eine große Geschichte – und eine kleine. Die große Geschichte kommt in die Geschichtsbücher – die kleine stirbt aus. Sage ich etwas Neues?
  
  Was ich Euch aber erzählen muss, ist, dass hier mehr auf dem Spiel steht als der Untergang von zehn kleinen Stämmen, die als „Haus Israel“ einmal in der Geschichte auftraten. Der Bund Gottes selbst steht in Frage. Hat er, der Ewige, sich nicht ganz und gar seinem Volk verschrieben? Hat man ihn nicht als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs angerufen? Hoffnungen auf ihn gesetzt und seiner Treue geglaubt? Als der fremde und feindliche König seine Unterschrift unter das Edikt setzte, das Haus Israel untergehen zu lassen, machte er auch Gottes Versprechen zur Makulatur. Ob er so weit dachte, so weit denken konnte? Er hatte seinen Gott – was kümmerte ihn der Gott Israels? Wirklich neu ist auch das nicht.
  
  Ich möchte am liebsten die ganze Geschichte erzählen, aber sie ist sehr lang. Der Prophet Jeremia ist bei den Menschen, die jetzt ganz unten sind – kleingemacht und kleingeredet. Er hört zu – und schreibt auch auf, was er hört. Er hat auch etwas zu sagen – und schreibt auf, was er gesagt hat. Dass andere Menschen, später, seine Gedanken, Worte und Leerzeilen neu ordneten, zeigt nur, wie er Menschen beeindruckt – und geholfen hat. Sein Buch, das auf uns gekommen ist, ist ein Kleinod. Ein Kleinod menschlicher Nähe – und ein Kleinod großen Vertrauens. Wir hören ihn sagen:
  
  Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen,
  nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HER.
  
  Die Väter – Abraham, Isaak und Jakob – werden erwähnt. Sie hatten mit Gott – und er mit ihnen – eine besondere Geschichte. Ihre Namen klingen noch Jahrhunderte später. Immer noch. Sie wurden mit dem Bund beschenkt – besser: Gott hat sich ihnen versprochen. Jeremia hebt dann  die wohl größte Erfahrung hervor, die Gottes Volk gemacht hat: es wurde aus der Knechtschaft Ägyptens befreit. Wie schön das formuliert ist: „als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen“. Die Hand sehe ich vor mir. Die Geschichte des Auszugs wird zärtlich erzählt. Lesen wir in den alten Geschichten, fällt auf, wie verliebt Gott in Menschen ist. Er führt sie durch das Meer. Er geht mit ihnen sogar durch die Wüste. Aber: sein Volk hat ihn vergessen, neue Interessen verfolgt, sich emanzipiert. Dass sich da Abgründe auftaten, hatten kluge Leute schon früh gesehen. Mit dem Wohlstand wuchs die soziale Ungerechtigkeit, mit der staatlichen Selbständigkeit der Größenwahn, mit der Bildung der Hochmut. Jetzt kommt es heraus: sie haben den Bund nicht gehalten, „ob ich gleich ihr Herr war, spricht der Herr.“
  
  Ganz alte Überlieferungen wissen sogar zu sagen, dass Gott die Lust verloren hat. Da heißt es dann: ich kümmerte mich nicht mehr um sie – oder wie wir das sagen würden: ich ließ sie laufen. Sie interessierten mich nicht mehr. Guckt, wo ihr bleibt. - Ich spüre den  Schlussstrich,  ich spüre die große Enttäuschung. Aber wenn ich dann  so tief in die alten Überlieferungen einsteige, für die es schriftliche Zeugnisse gibt, stoße ich auf eine große Sehnsucht, ein großes Vertrauen: Gott möge sich doch treu bleiben. Er möge zu seinem Wort stehen. Er möge seine Schöpfung bewahren. Er möge anders sein als ich. So lesen wir heute von einem neuen Bund, der den alten verwandelt – einen Bund, der Menschen verwandelt:
  
  sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.
  
  Es ist eine große, in jedem Fall übermenschliche Zusage: Gott möchte sich in menschlichen Herzen einschreiben, in unseren Herzen und  Sinnen wohnen. Eine größere Nähe und Vertrautheit kann es nicht geben. Nach einer so großen – menschlichen – Niederlage will Gott seine Geschichte mit uns ganz neu aufgreifen. Sie ganz neu schreiben.
  
  Wann das wohl sein wird?
  
  Neu … Neu… Neu
  
  Ich weiß: wir stehen mehr oder weniger ständig unter dem Druck – und der Verheißung – des Neuen.
  Neu ist der Joghurt, der gerade angeboten wird („noch mehr drin“). Dass der Mai alles neu macht, wissen zumindest die, die noch die alten Lieder kennen. Wer die Zeitung liest, fragt überrascht, welche neue Politik denn angestrebt wird, wenn die alten Hasen weiter im Rennen sind. Und dass es nichts Neues unter der Sonne  gibt, verrät schon der alttestamentliche Prediger, dem der Ruf vorauseilt, ein Weiser zu sein. Meinen Reim habe ich mir längst auch darauf gemacht. Ist es nicht am Ende der „alte“ Mensch, der ständig und überall das „Neue“ sucht – und auch das „Neue“ braucht?
  
  Diese Frage gleicht auch einem Offenbarungseid: Ich bin nicht neu. Der Prophet Jeremia  verkündigt eine neue Zeit, aber die Zeit, in die sein Wort fällt, ist – alt. Es ist unsere Zeit, es ist meine Zeit. Gott selbst schenkt das Neue. Ich kann es nicht machen. Ich kann es nicht kaufen. Ich kann es aber auch nicht hindern. Wenn er spricht, so heißt es schon im Psalm, geschieht es. Siehe, ich mache alles neu!
  Oder, in den Worten Jeremias:
  „Der Herr ist mir erschienen von ferne: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“ (31,3). Menschen werden in ihrer Verlorenheit sichtbar, auch sichtbar gemacht  –  und sie werden geliebt. Je und je geliebt, gezogen,  aus lauter Güte. Das ist Evangelium! Schon  in dem „Testament“, das wir gewöhnlich das „alte“ nennen. Wir stoßen auf die alte und bewährte Zusage Gottes, sein Volk nicht zu verlassen, es nicht fallenzulassen. 
  
  Ist das „alt“? Ist das „neu“?
  
  In unserer christlichen Geschichte haben wir mit den Begriffen „alt“ und „neu“ ganze eigene und auch fatale Erfahrungen gemacht. Wir haben den Juden zu verstehen gegeben, dass der alte Bund aufgekündigt und verloren sei, der neue aber uns gehören würde. Wir haben sie enteignet. Wir haben sie auch fallengelassen. Wir haben nicht einmal vor ihrem Leben Halt gemacht. Dabei ist ihnen zugesprochen: Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen.
  
  Verwundert bin ich schon: Keine Aufforderung wird erhoben, keine Voraussetzung eingefordert. Einfach überwältigend und gewiss – ohne Frage, ohne Kritik: Siehe, es kommt die Zeit!
  
  Heute
  
  Heute haben wir uns zum Gottesdienst versammelt. Wir sind nicht „Haus Israel“, auch nicht „Haus Juda“. Aber die alte Verheißung des „Neuen“ wird unter uns laut – und erobert alte Gedanken, alte Vorurteile, alte Ängste. Wir freuen uns mit Israel, dass Gott seine Treue bewährt. Dass wir dazu gehören, verdanken wir Jesus. Der „neue“ Bund, den Gott verheißt, hat in Jesu Weg und Wort, in seinem Leiden und seiner Auferstehung schon Konturen, schon ein Gesicht bekommen. Im Heiligen Abendmahl feiern wir das Leben der zukünftigen Welt. Mir fehlen die Worte, das zu beschreiben. Ich habe nur die Bitte: Komm, Herr.
  
  Unser Sonntag, heute, trägt einen besonderen Namen. Exaudi. So beginnt der Psalm, der seit Jahrhunderten an diesem Sonntag gebetet und gesungen wird: „Höre, Herr, mein lautes Rufen, sei mir gnädig und erhöre mich!“ (Ps. 27,7).
   
  Mit diesen Worten auf den Lippen werden wir davor bewahrt, große und falsche Töne zu spucken. Den neuen Menschen, die neue Welt, die neue Zeit – wir erbitten sie.
  So spricht der HERR, der die Sonne dem Tage zum Licht gibt und den Mond und die Sterne der Nacht zum Licht bestellt; der das Meer bewegt, dass seine Wellen brausen – HERR Zebaoth ist sein Name –:
  Wenn jemals diese Ordnungen vor mir ins Wanken kämen, spricht der HERR, so müsste auch das Geschlecht Israels aufhören, ein Volk zu sein vor mir ewiglich.
  
  Was sagte ich ganz am Anfang? Eine richtig neue Predigt wollte ich schreiben Als ich dann am Schreibtisch saß, wollte das dunkle Loch im Kopf  nicht weichen – und das weiße Papier schlummerte im Drucker. Die Uhr tickte. Über meinen Büchern lugte schon erster Sonnenschein. Der Tag brach an.
  
  Nichts Neues? Nicht einmal ein neues Wort? Sagte ich das?
  Ich Narr:  Soviel Neues!  Ich kann es kaum fassen! Schon gar nicht, dass ich euch nichts Neues mehr sagen kann. Nicht sagen muss.
  Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
  
  Spektakulär ist das Neue nicht, das von Gott kommt. Nur: barmherzig.
  Liebevoll wie eine Hand, die durch Abgründe geleitet.
  Zärtlich wie eine Hand, die in die Zukunft führt.
  
  Der Friede Gottes,
  der höher ist als alle Vernunft,
  bewahre unsere Herzen und Sinne
  in Christus Jesus,
  unserem Herrn.