Predigt über Jesaja 65, 17-25 von Hans-Hermann Jantzen
65,17

Predigt über Jesaja 65, 17-25 von Hans-Hermann Jantzen

17 Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.
  18 Freuet euch und seid fröhlich immerdar über das, was ich schaffe. Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen und sein Volk zur Freude,
  19 und ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk. Man soll in ihm nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens.
  (20 Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt; und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht.
  21 Sie werden Häuser bauen und bewohnen, sie werden Weinberge pflanzen und ihre Früchte essen.
  22 Sie sollen nicht bauen, was ein anderer bewohne, und nicht pflanzen, was ein anderer esse. Denn die Tage meines Volks werden sein wie die Tage eines Baumes, und ihrer Hände Werk werden meine Auserwählten genießen.)
  23 Sie sollen nicht umsonst arbeiten und keine Kinder für einen frühen Tod zeugen; denn sie sind das Geschlecht der Gesegneten des Herrn, und ihre Nachkommen sind bei ihnen.
  24 Und es soll geschehen: ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.
  25 Wolf und Lamm sollen beieinander weiden; der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind, aber die Schlange muss Erde fressen. Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der Herr.
  
  
  Liebe Gemeinde,
vor etlichen Jahren erzählte mir ein älterer Kollege von dem Dorf, in dem er aufgewachsen ist. Da gab es einen Friedhof, der nach Konfessionen aufgeteilt war. Links war der evangelische Teil, rechts der katholische. Am Allerseelentag leuchtete der katholische Teil von den unzähligen Lichtern, die überall auf den Gräbern brannten. Der andere Teil wirkte protestantisch kahl und dunkel. „Dieses Bild aus Kindertagen hat sich mir tief eingeprägt,“ sagte er. „Das sah so fröhlich aus, beinahe adventlich. An solchen Tagen wäre ich gern katholisch gewesen.“
Die Kerze auf dem Grab – Symbol für eine getröstete Fröhlichkeit. Hoffnungslicht gegen das Dunkel des Todes. Morgenglanz der Ewigkeit… Ich weiß nicht, auf welcher Seite des Friedhofs Sie gefühlsmäßig stehen, wenn Sie in diesen Tagen an den Gräbern Ihrer Lieben stehen. Es ist schwer, an einem Totensonntag zum ersten Mal an ein Grab zu gehen und zu spüren, wie sehr mir der Mensch, der dort liegt, fehlt. Es ist auch schwer, Monat für Monat, Jahr für Jahr auf den Friedhof zu gehen und die Last des Alleinseins zu fühlen. Gibt es das tatsächlich: getröstete Fröhlichkeit? Lichter der Zuversicht inmitten der Trauer?
In unserer evangelischen Tradition kennen wir das nicht, Kerzen auf die Gräber zu stellen (obwohl das ja eigentlich ein sehr schöner Brauch ist). Aber wir dürfen uns an die Lichter erinnern, die die biblische Überlieferung uns aufsteckt. Solch ein Licht ist für mich auch der heutige Predigttext. Wie ein heller Schein durch die offene Tür in einen dunklen Raum dringt, so fällt das Prophetenwort in die Seele derer, die heute in Gedanken am Grab eines lieben Menschen sind. Hören Sie Verse aus dem Buch des Propheten Jesaja aus dem 65. Kapitel.
Lassen Sie uns noch einen Augenblick bei der geschichtlichen Situation bleiben, in die hinein der Prophet (Tritojesaja) diese Worte vor rund 2500 Jahren gesprochen hat. Die Israeliten sind nach 50 langen Jahren im Babylonischen Exil endlich in ihre Heimat zurückgekehrt. Aber was für ein armseliger, enttäuschender Neuanfang ist das! Das Land ist verwüstet. Jerusalem und der Tempel liegen in Trümmern. So hatten sie sich das nicht vorgestellt, als sie noch in der Fremde waren und sich nach Hause sehnten. Und hatte ihnen nicht dort ein anderer Prophet (Deuterojesaja) in großartigen Bildern vor Augen gemalt, was sie im gelobten Land erwarten würde? Alles nur leere Versprechungen. Die Menschen waren verzweifelt. Konnte aus diesem Trümmerhaufen jemals wieder eine wohnliche Stadt aufgebaut werden?
Die Älteren unter uns können die Stimmung, die damals in Jerusalem herrschte, sicherlich nachempfinden. Viele saßen am Ende des Zweiten Weltkriegs selber buchstäblich auf Trümmern. Auf den Trümmern ihrer Häuser. Auf den Trümmern der Dörfer und Städte. Auf den Trümmern all dessen, woran sie geglaubt und wofür sie gekämpft hatten. Und so mancher konnte sich damals nicht vorstellen, wie daraus wieder ein funktionierendes Gemeinwesen entstehen sollte.
Auch das persönliche Lebensgebäude kann in Trümmer fallen. Wenn die Ehe auseinander bricht; wenn ich durch Krankheit oder Unfall plötzlich den Partner oder sogar ein Kind hergeben muss, dann bekommt mein Lebenshaus Risse. Dann stürzt so manches ein, was ich mir aufgebaut habe und was ich bis dahin für sicher hielt. Beschämend sind die Nachrichten aus unserm reichen Land, dass Familien mit Kindern zunehmend von Armut bedroht sind, weil es zu wenig bezahlbaren Wohnraum gibt und die Schere zwischen Einkommen und Auskommen immer weiter auseinander geht. Für manche allein erziehende Mutter ist der Lebenstraum schon geplatzt, ehe er überhaupt richtig angefangen hat.
Zu Menschen also, die vor den Trümmern ihrer Hoffnungen stehen, spricht der Prophet. Er wagt es, die alten Verheißungen aufzunehmen und sie seinen Mitmenschen neu zuzusprechen. Gott ist noch nicht am Ende: „Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen! Was euch jetzt bedrückt und Angst macht, das wird vergessen sein. Weinen und Klagen werden aufhören. Es gibt wieder Grund sich zu freuen.“
Es fällt auf, dass hier im hebräischen Urtext dasselbe Verb steht wie in der Schöpfungsgeschichte: barah – schaffen, aus dem Nichts ins Leben rufen. Ein kreativer Prozess ist angestoßen. Der Gott, der schon einmal alles Dasein ins Leben gerufen hat, der sagt uns: Ich habe mehr mit euch vor. Eure Zukunft soll mehr sein als die Friedhofsruhe. Von mir könnt ihr mehr erwarten als den Tod. Ich schenke euch Leben, das diesen Namen verdient. Ewiges Leben.
Jerusalem ist damals wieder aufgebaut worden – und ist im Laufe seiner langen Geschichte immer wieder zerstört worden. Bis heute ist die Stadt Zankapfel zwischen den Völkern und Religionen. Der groteske Streit um die Grabeskirche mag uns noch amüsieren. Bei der jüngsten Eskalation der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern bleibt uns das Lachen allerdings im Halse stecken. – Ist das das Jerusalem, über das Gott jubelt und sich freut?
Unser Land ist aus den Trümmern zweier Weltkriege wieder aufgebaut worden. Eine große Leistung unserer Väter und Mütter. Auch die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und den Aufbau Ost dürfen wir in diese Erfolgsgeschichte einbeziehen. Und doch haben wir höchstens einen Warenhimmel auf Erden geschaffen, aber nicht den wahren Himmel auf einer neuen Erde. Im Gegenteil: die wachsende Armut und Ungerechtigkeit in unserm Land schreit immer lauter zum Himmel.
So mancher, der durch den Tod eines geliebten Menschen einsam geworden ist, findet Gott sei Dank neue Menschen, mit denen er weiterleben kann. Es wachsen neue Beziehungen. Bruchstücke des Lebens fügen sich wieder zu einem Ganzen. Aber ist das schon das neue Leben, das Gott verheißt? Es wird wieder zu Trennungen kommen. Am Ende wartet doch der Tod auf uns.
Es fällt schwer, mit dem neuen Himmel und der neuen Erde Gottes zu rechnen. Unsere Erfahrung sagt uns: Es bleibt doch alles beim Alten. Was also ist diese schöne Vision wert? Trösten wir uns nur selber über die Unzulänglichkeiten der alten Schöpfung hinweg?
Liebe Gemeinde, die biblischen Verheißungen sind keine starren Zukunftsprognosen, von denen wir nach einer gewissen Zeit sagen können: sie sind so eingetroffen - oder eben nicht. Gottes Verheißungen an seine Menschen sind ein lebendiger Prozess, wie Gott selber. Sie gehen mit uns im Laufe unserer Geschichte. Sie erfüllen sich, oft anders, als wir denken. Sie verändern sich. Sie setzen neue Verheißungen aus sich heraus. Sie entwickeln sich weiter. Das können wir sehr schön an unserm Predigttext sehen. Der Prophet stellt sich den neuen Himmel und die neue Erde durchaus diesseitig und innerweltlich vor: „Von keinem Menschenleben wird man sagen müssen, es war zu kurz. Niemand muss zu früh sterben. Keiner soll gewaltsam umkommen. Jeder wird sein Auskommen haben und den Ertrag seiner Arbeit genießen können. Keiner muss einem anderen etwas wegnehmen. Keiner muss sich bedroht oder in seinem Leben beeinträchtigt fühlen. Es wird Frieden sein. Umfassender Friede, der die ganze Schöpfung einschließt: sogar Wolf und Schaf sollen beieinander weiden, und der Löwe wird Stroh fressen.“
Ich denke, das sollten wir erst einmal hören: Gottes Neuschöpfung ist nichts Jenseitiges, ist nicht nur ein paradiesischer Traum. Gottes Friede ist nicht der innere Seelenfrieden zwischen mir und meinem Gott. Der neue Himmel und die neue Erde ragen in diese Welt hinein und verändern sie schon jetzt. Gottes Verheißung nimmt uns in die Verantwortung, unsere Welt so zu gestalten, dass wir diesem Frieden immer ein Stückchen näher kommen.
Aber Gottes Geschichte mit seinen Menschen ist weitergegangen. Jesus Christus ist gekommen. Die Geschichten, die die Bibel von ihm erzählt, sind Geschichten neuen Lebens. Weil Jesus Gott zugetraut hat, dass jedes Menschenleben seine unverlierbare Würde hat, konnten Menschen in der Begegnung mit ihm aufatmen und wurden gesund an Leib und Seele. In der Sprache der Bibel heißt das: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und den Armen wird das Evangelium, die frohe Botschaft verkündigt.“ Vorboten des neuen Himmels und der neuen Erde.
Dieser Bogen spannt sich vom ersten bis zum letzten Buch der Bibel, von der ersten Schöpfung über die Vision des Propheten und die Evangelien bis zur Offenbarung des Johannes. Im 21. Kapitel (Epistel) sind die Prophetenworte zum Teil wörtlich aufgenommen, mit dem entscheidenden Unterschied: „Und der Tod wird nicht mehr sein.“ Damit ist auch die letzte Grenze gesprengt. Der Horizont des neuen Himmels und der neuen Erde wird ins Unermessliche ausgeweitet.
Der Stützpfeiler dieses gewaltigen Hoffnungsbogens ist das Kreuz Jesu. Das Kreuz dessen, der von sich gesagt hat: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt.“ Hier am Kreuz berühren der neue Himmel und die neue Erde unsere alte Erde. Hier sind sie in unserer Realität verankert. Hier haben sie Anteil an unseren Enttäuschungen, an unseren Tränen, an all den Entstellungen dieser Welt. Der Gekreuzigte und Auferstandene ist der Bürge, dass die Hoffnung auf Gottes Zukunft durch alle Angst und Verzweiflung hindurch trägt. -
Totensonntag, Ewigkeitssonntag. Wir können miteinander über Tod und Sterben reden, weil unsere Angst in der großen Hoffnung auf Gottes Zukunft aufgehoben ist. (Die ARD hat dem „Leben mit dem Tod“ eine ganze Themenwoche gewidmet!) Ich wünsche uns allen, dass wir uns im Leben wie im Sterben tragen lassen von Gottes großer Verheißung: „Siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen.“ Diese Hoffnung verbindet uns schon jetzt zu einer Gemeinschaft, in der wir miteinander reden und aufeinander hören können und wo wir gewiss sein dürfen, dass Gott unseren kleinen Schritten immer schon voraus ist: „Ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.“ Gott hält uns den Himmel offen und hält die neue Erde bereit als unser Zuhause. Diese Hoffnung leuchtet auch über unseren Gräbern.
Amen.