Predigt über Johannes 11, 47-53 von Karin Klement
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Predigt über Johannes 11, 47-53 von Karin Klement

Liebe Gemeinde! Liebe Zuhörende!
(zunächst im Tonfall eines Nachrichtensprechers)
Einen schönen guten Morgen. Sie hören die Nachrichten aus Jerusalem: Wie jetzt bekannt wurde, versammelten sich gestern die Mitglieder des Hohen Rates unter Führung des Obersten Priesters KAIPHAS zusammen mit weiteren Gesetzeslehrern in einer Krisensitzung unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Die ungewöhnlichen Aktivitäten eines gewissen JESUS aus Nazareth wurden kritisch betrachtet und ausgiebig erörtert.  Unter anderem war die Rede von der Auferweckung eines Verstorbenen.
Hören Sie dazu den Bericht unseres Korrespondenten JOHANNES aus dem Zentrum der Stadt:
„Seit gut zwei, drei Jahren schon durchwandert dieser JESUS unsere Region. Man weiß wenig über seine Herkunft; er treibt sich mit einer Gruppe arbeitsloser Fischer und junger Leute herum, unter denen sogar weibliche Anhänger sein sollen. Im Unterschied zu anderen Wanderpredigern und Wundertätern bemüht er sich dem gewaltigen Zu­lauf von Menschenmassen, den ihm sein Reden und Handeln einbringt, auszuweichen. Dennoch strömen ihm die Leute zu, erwarten Heilstaten und messianische Zeichen von ihm.
Nach heftigem Streit mit den religiösen Ordnungshütern erteilten ihm diese zeitweilig Hausverbot im Tempel und in der Synagoge. Er wurde verwarnt, aber theologisch sei ihm nicht beizukommen, hieß es. Er kenne die alten Schriften der Thora, der Propheten und andere traditionelle theologische Literatur sehr genau; nur lege er sie eben auf seine Weise aus. Jetzt eskalierte der Streit.
Sein bislang letztes Zeichen verursachte eine heftige Unruhe im Volk. Er brachte den Leichnam eines bereits Begrabenen buchstäblich ins Leben zurück. Laza­rus, der Bruder von Maria und Martha und ein Freund dieses Jesus, lag seit vier Tagen in einem Höhlengrab, als Jesus ihn herausrief. So wie Lazarus ins Grab gelegt war, in Leichentüchern gehüllt, nicht mehr ganz frisch, trat er vor die Au­gen zahlreicher Mitmenschen. Und als Jesus dazu spricht: „Ich bin die Auferstehung und das Le­ben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.“, beginnen immer mehr Menschen in ihm einen göttlichen Heilsbringer zu sehen, an ihn zu glauben.
Dieses völlig überraschende Ereignis rief die Ordnungshüter auf den Plan. Das ginge zu weit. Dazu dürfe man nicht schwei­gen, lautet ihr Tenor. Sie trügen Verantwortung für Sicherheit und Stabilität im Volk. Die kritischen Stimmen gegenüber der römischen Regierung könnten plötzlich Aufwind verspüren. Umsturz, Rebellion läge in der Luft. Sollte es diesem Wundertäter gelingen, weitere Anhänger zu finden, ja vielleicht sogar das ganze Volk aufzuwiegeln, müsste man mit harten Gegenmaßnahmen der Herrschenden rechnen. Eine blutige Unterdrückung wäre die Folge. So die allgemeine Ansicht. Die Frage blieb: Was ist zu tun?
In die allgemeine Ratlosigkeit des Hohen Rates hinein ergriff der Vorsitzende energisch das Wort. KAIPHAS sprach aus, was vermutlich viele dachten, jedoch nicht zu sagen wagten. „Ihr wisst gar nichts“, kanzelte er die Anwesenden ab. „Es ist bes­ser für euch, wenn ein Mensch stirbt für das Volk, als dass alle zugrunde gehen!“
Besser ein Toter, als viele Tote. Das Leben vieler ist mehr wert, als das Leben ei­nes Einzelnen. So lautet KAIPHAS überzeugendes Argument, und keiner, der vernünftig denkt, kann sich dieser politischen Logik entziehen. Das Er­gebnis der Krisensitzung steht damit fest. Und wir dürfen sicher sein, niemand wagt zu widersprechen.
Soweit mein Bericht aus dem Zentrum von Jerusalem. Korrespondent Johannes gibt zurück ans Studio.“
Ein konspiratives Gespräch unter den Mächtigen des Volkes, ausgestattet mit geliehener Autorität, führt zu einer letzten Entscheidung. Jene, die zur Zeit JESU Verantwortung tragen in Politik, Religion und Gesellschaft, sehen sich und das Volk in einer extrem bedrohlichen Situation. Der Konflikt um JESUS – und wer er wirklich ist – beginnt zu eskalieren. Äußerst verwunderliche Geschichten kursierten über ihn. Dieser wundersame Wundertäter begeisterte die einfachen Leute – und entsetzte die Mächtigen.
Sein Predigen und Handeln besaß schon im­mer aufrührerischen Charakter. Offen griff er die gesellschaftliche Ordnung an, stellte sie auf den Kopf speziell dort, wo sie Menschen verletzt: Eine Ehe­brecherin bewahrt er vor der gerechten Strafe. Das Sabbatgebot der Ruhe missachtet er, um zu hinterfragen, was wirklich damit geschützt und geheilt werden soll. Neue, ungewohnte Gedanken bringt er unter das Volk von der Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott. Seine Worte, seine Aktionen gefährden das gewohnte gesell­schaftliche Gefüge. Sie fordern zum Nachdenken heraus und zur persönlichen Stellungnahme. Sie appellieren an das Gewissen, fragen z.B.: Wie verhältst du dich, wenn du bemerkst, dass einem Menschen Unrecht geschieht? Wenn ein Mensch zum Sündenbock abgestempelt wird, zum Schuldigen für die Schuld anderer?
Doch was sich dann ereignete, sprengte den Rah­men alles Vorhergehenden. Mit seinem letzten Zeichen überschritt JESUS in den Augen der Herrschenden jedes Maß. Er setzte die letztgültige Macht, den Tod, außer Kraft. Er stellte damit alles in Frage, die Weltordnung, wie wir sie kennen. ER überschreitet einen Horizont, hinter dem etwas Unglaubliches aufleuchtet: ein Leben, das mehr ist als alles irdisch Erfahrbare.
Der Hohe Rat musste handeln, eine Entscheidung treffen, um das Volk – und sich selbst – vor unerwünschten Konsequenzen zu schützen.
Der Evangelist Johannes schreibt einen Rückblick auf die Umstände, die zur Kreuzigung JESU führten, als wäre er selbst dabei gewesen. Aus dem Abstand mehrerer Generationen schaut er zurück und interpretiert den Tod Jesu als ein unvermeidliches Ereignis, an dem nach außen hin die politisch-religiös Verantwortlichen – stellvertretend für das Volk – Schuld tragen. Nach innen jedoch, erweist sich das Wort des Hohenpriesters als unfreiwillig prophetische Aussage: GOTT selbst nimmt den Tod in Kauf, in Zahlung für das Leben all seiner Menschenkinder.
Wie immer, wenn Menschen sich oder jene, die sie lieben, in Gefahr sehen, wenn Konflikte eskalieren, die Bedrohung übermächtig wird und weder Flucht, noch Kampf möglich ist, suchen sie nach ausweichenden Lösungen: Ein Opfer, das gebracht wird, um den Angreifer zu besänftigen.
EINER FÜR ALLE – als das kleinere Übel. Eine Entscheidung, die leichter fällt, wenn es nicht um das eigene Leben geht.
EINER FÜR ALLE – so spielt es sich immer wieder ab. Hauptsache ein anderer, nur nicht ich. Dann stimme ich allem zu. Besser ein Opfer, das ein an­derer bringen muss, als die Opferung vieler, zu denen ich dann vielleicht selbst gehöre. Der Satz des KAIPHAS diente dem praktischen Nut­zen und ist heute genauso entlarvend wie damals.Menschenopfer nach diesem Schema – selbst wenn sie nicht gleich das Leben kosten – kennen auch wir heute in vielfältigen Formen.
Erwachsene im Beruf, Jugendliche in der Schule erleben es immer wieder: Einer, der sich stark zeigen will, schikaniert einen anderen, der sich nicht zu wehren weiß. Jede scheinbare Schwäche des Opfers wird ausgenutzt, ihn lächerlich vor den anderen zu machen, ihn herabzusetzen, um sich selbst stark zu fühlen. Mobbing treibt einen Menschen in die Falle, bis er sich selbst nur noch als Opfer ansieht, hilflos, ohnmächtig den Attacken anderer ausgesetzt. Ein Sündenbock in einer Endlosschleife – bis sich jemand an seine Seite stellt; mit ihm gemeinsam die Anfeindungen aushält und mitträgt. Dann verändert sich etwas: Aus dem EINEN wird eine Gemeinschaft. Das allgemein-vernichtende Urteil gilt nicht mehr.
EINER FÜR ALLE– kann sich auch auf Gruppen beziehen, z.B. wenn die sogenannten „Sachzwänge“ in Poli­tik und Gesellschaft notwendige Sparmaßnahmen einfordern. Dann versucht man sie vor allem bei jenen durchzusetzen, die am wenigsten Widerstand leisten. Einschränkungen treffen oftmals zunächst die schwächsten Glieder der Gesellschaft: Rent­ner, Alleinerziehende, Familien mit vielen Kindern, Sozialhilfeempfänger, Menschen mit geringem Ein­kommen oder Außenseiter der Gesellschaft. Schnell und leicht werden sie zum Sündenbock gemacht für Fehler in der Arbeitsmarktpolitik. Ihnen werden La­sten aufgebürdet, die eigentlich von jenen zu tragen wären, die eher in der Lage dazu sind. Doch gerade diese, die mehr Macht und Einfluss haben, sind eher erfolgreich darin, ihr „Schäflein ins Trockene zu bringen“.
EINER FÜR ALLEfragt auch danach: Wie geht eine Gemeinschaft mit Minderheiten um? Werden z.B. die Rechte von Aids-Infizierten auf Datenschutz und Gemeinschaft genauso wichtig genommen, wie die Rechte der an­deren auf Schutz vor Ansteckung?
Haben Menschen, deren Leben in ihrem Heimatland durch Ter­ror oder auch „nur“ durch wirtschaftliche Not bedroht ist, weniger Rechte als wir? Dürfen sie sich ihren Lebens­raum nicht dort su­chen, wo es ihnen besser geht, wo sie sich und ihre Kinder geschützter füh­len können, auch wenn sie nicht in diesem Land geboren sind?
Der zum Sündenbock gemachte Jesus stände heute wohl eher auf ihrer Seite, auf der Seite all derer, die um ihr Recht schreien und denen Beistand verweigert wird, die von lebendigen Mitmenschen zum bloßen Faktor in politischen Kalkulationen herabgestuft werden.
Allerdings – Opfer können auch notwendig sein. Es fragt sich nur, auf welche Weise sie erbracht werden. Wir können sie nicht von anderen, nur von uns selbst fordern. Denn der Sinn eines Opfers ist die freiwillige Hingabe oder der Verzicht von sich aus.
Elternverzichten bereitwillig, bringen Opfer von sich aus, weil es für sie einen guten Grund gibt: die Liebe zu ihrem Kind. Sie setzen sich ein für das Leben ihres Kindes, stellen eigene Wünsche zurück, um für diesen kleinen Menschen da zu sein. Jugendliche üben Verzicht ein um einer Freundschaft willen. Um dem anderen entgegenzukommen, wagen sie den ersten Schritt. Und, wenn Gottes Güte so himmelweit reicht, wie Ps 36 sagt, dann können doch auch wir Menschen ein wenig irdische Güte und Gutsein wagen.
Der Evangelist Johannes beschreibt, dass JESUS für den Hohen Rat unfreiwillig geopfert wird im Namen ei­ner politischen Notwendigkeit, aufgrund einer Kos­ten-Nutzen-Rechnung, die ein Menschenleben für leichter „abschreibbar“ hält als eine höhere Anzahl von Menschenleben, und die dabei die Einmaligkeit eines jeden Lebens  missachtet.
Doch das ist nur die eine Seite dieser Geschichte, die uns der Evangelist überliefert. Die logisch ein­wandfreie, dennoch falsche Argumentation des KAIPHAS ist vielschichtiger als sie erscheint. Sie offen­bart noch eine tiefergehende Wahrheit. KAIPHAS wird zum Propheten wider Willen, als er das Opfer des Einen für die Vielen ankündigt.
EINER FÜR ALLE– einer muss sterben, damit alle anderen leben können. Aber dieser EINE übernimmt das Opfer von sich aus und freiwillig. Er stellt sich damit an die Seite all derer, die unfreiwillig leiden, die ihr Opferwerden erdulden müssen, bis hin zum schmerzlichsten Leid: dem Abschied vom Leben, dem Sterben und Tod.
In dem qualvollen, unschuldigen Ster­ben JESU offenbart sich alle Ungerechtigkeit dieser Welt, alle Ge­walt, jedes Leid, jeder Schmerz. ER, der Menschen zum Leben auferweckt, wird mit dem Tode bestraft. ER, der jeden einzelnen Menschen wichtig nimmt und dessen Recht nicht zugunsten einer anonymen Masse vernachlässigt, bekommt selbst die Folgen eines Rechtsver­lustes zu spüren.
Jesus wird zum Sündenbock gemacht. Doch indem er diesen Weg von sich aus geht, bedeutet sein Tod ein Ende aller Legitimation von Gewalt und erzwungenen Opfern.
EINER FÜR ALLE – damit niemand mehr allein Opfer sein oder allein Schuld tragen muss. Denn dieser EINE, der alles Finstere, Schwere, das Leid und die Schuld freiwillig auf sich nimmt, ist kein anderer als GOTT persönlich. JESUS und der VATER sind eins, beschreibt der Evangelist Johannes. Und, wenn GOTT dieses Opfer einfordert, dann fordert er es von sich selbst.
Gott hat das KREUZ – ursprünglich Symbol für Verlorenheit und tiefstes Leiden – für seine Menschenkinder zu einem Zeichen der Hoff­nung gemacht. An dem toten Holz wächst neues Leben, überschreitet die Grenzen unserer Vorstellungskraft.
Und wo immer wir uns von dem freiwilligen Opfer des CHRSTUS anrühren las­sen, werden wir eintreten für das Recht eines jeden Menschen auf Leben und Unversehrtheit. Wir werden aufstehen gegen jedes konspirative Denken, gegen die Machtallüren Einzelner, die anderen Menschen ihr Lebensrecht absprechen. Wir werden den ach so zwingenden, unwiderlegbaren Sachzwän­gen im Alltag unserer Gemeinschaft den Freibrief Gottes entgegenhalten. Denn für Gottes Liebe ist jedes Menschenleben kostbar und einmalig, liebenswert und von aller Schuld befreit!
GOTT sei Dank!
AMEN
Perikope
Datum 17.03.2013
Bibelbuch: Johannes
Kapitel / Verse: 11,47
Wochenlied: 76
Wochenspruch: Mt 20,28