Predigt über Johannes 20, 11-18 von Alfred Buß
20,11

Predigt über Johannes 20, 11-18 von Alfred Buß

Eine Frau steht am Grab und weint. Maria von Magdala. Lange Zeit war sie schwer krank gewesen – und dann Jesus begegnet. Geheilt hatte er sie von sieben bösen Geistern. In seiner Nähe war ihr Leben hell geworden. Von nun an war sie bei ihm geblieben und bei den Zwölfen, gemeinsam mit anderen Frauen. Auch unter seinem Kreuz war sie nicht von ihm gewichen. Alles Furchtbare der Welt war über sie hereingebrochen. Und doch: Verharrt hatte sie dort, bis zuletzt.
Am ersten Tag der Woche kommt Maria von Magdala früh, als es noch finster ist, zu seinem Grab. Wenn ihr schon der Lebende genommen ist, will sie wenigstens nah bei dem Toten sein. Aber selbst den Toten findet sie nicht mehr. Der Stein ist weg, der Tote nicht mehr da. Nichts ist ihr geblieben.
Ein leeres Grab, in dem der Tote fehlt – unheimlicher, grausiger, kälter kann das Nichtige einem Menschen kaum ans Herz fassen. Morgengrauen. Maria von Magdala läuft zurück, läuft und ruft und schreit: sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grab und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben (20,2).
Simon Petrus und der Jünger, den Jesus lieb hatte, Johannes, hören sie und rennen mit ihr zum Grab, Johannes vorneweg. Sie gehen hinein, finden die Leinentücher, darin der Leichnam gewickelt war und das Schweißtuch, zusammengewickeltan einem besonderen Ort (20,7). Doch sie verstanden die Schrift noch nicht, dass er von den Toten auferstehen müsste. Da gingen die Jünger wieder heim (20,9f).
Maria von Magdala steht am Grab und weint. Sie flieht nicht. Sie harrt aus – wieder einmal. Setzt sich dem Furchtbaren aus. Kalt war er liquidiert worden. Gewalt und Unrecht waren gleichgültig über ihn hinweggeschritten. Was bedeutete die Kreuzigung dieses Menschen anderes als dies: für Liebe, Versöhnung und Heilwerden gibt es in dieser Welt keinen Raum.
Maria von Magdala steht am Beginn eines peinigenden Weges in eine lange, dunkle Nacht, wieder einmal. Mit dem Tod des Herrn ist ihr die Quelle des Lebens genommen. Das helle Licht ist ausgelöscht. Selbst Engel in weißen Gewändern nimmt sie kaum wahr. Frau, was weinst du? (20,13)sprechen die Engel sie an. Sie sucht nur den Einen, hat nur dafür Augen und offene Sinne: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben (20,13). Maria sucht den Leichnam des Herrn, sonst nichts. Sucht keine Engel und erst recht keine Ostersonne. Unerreichbar tief versunken in Trauer, gefangen in Einsamkeit sucht sie nur eins: die Nähe des Toten. Nicht mehr und nicht weniger.
Kein Mensch suchte die Ostersonne und das helle Licht der Auferstehung am Ostermorgen. Keiner der Gefährten Jesu, auch nicht die Frauen. Wie auch? Die Hoffnung war tot, mit Verrat und Kreuzigung war sie verfault. Schrecken und Tod hatten gesiegt. Das Nichtige beherrschte das Feld. Beherrscht es immer wieder. Überfällt auch uns mit dem beklemmenden Schrecken, vorgestellte  Katastrophen könnten wahr werden. Weil wir das Maß verloren haben, über unsere Verhältnisse leben und unseren Planeten plündern... Die Reise der Erde - könnte ins Nichtige gehen...
Da war keine Hoffnung am Ostermorgen. Das leere Grab? Veränderte nichts. Die Engel in weißen Gewändern? Bewirkten nichts. Als wären sie nicht da. Die Jünger gingen heim. Versteckten sich hinter verschlossenen Türen.
Maria bleibt am Grab. Aller Leere und Kälte des Todes zum Trotz harrt sie aus. Sie findet sich nicht ab. Sie gibt nicht auf. Maria von Magdala weint. Frau, was weinst du? Ja, Maria kann weinen. Sie hat Tränen. Und sie lässt den Tränen freien Lauf.
Weinen können. Den Tränen freien Lauf lassen. Als Gemeindepfarrer wurde ich angerufen zu nachtschlafener Zeit. Eine Frau war gestorben. Ich hatte sie gut gekannt. Seit fast 60 Jahren war sie verheiratet - mit einem Bergmann. Der einzige Sohn war im Krieg gefallen – irgendwo im Kaukasus, ohne Grab. Die Nachbarin rief an. Ich möge kommen. Der Bestatter sei da, den Leichnam abholen – aber der alte Mann wolle seine Frau nicht hergeben.
Als ich kam, weinte er. Nie zuvor und nie danach habe ich einen Mann so klagend weinen sehen. Unaufhörlich. Er ließ seinen Tränen freien Lauf.
Den Bestatter haben wir heimgeschickt. Der alte Mann weinte stundenlang. Bis seine Tränen versiegten. Dann hat er erzählt, erst stockend, dann fließender, aus dem gemeinsamen Leben. Und irgendwann - nach vielen Stunden - konnte er Abschied nehmen von seiner Frau, sie in Gottes Hand geben und ihren Leichnam aus der Wohnung lassen.
Tränen der Klage sind dem Glauben oft ganz nah. Ein Mensch findet sich nicht ab. Er gibt nicht auf. Solche Tränen halten der Hoffnung eine Stelle frei.
Maria von Magdala hat Tränen. Sie harrt aus am Grab, aller Leere und Kälte des Todes zum Trotz. Da fragt wieder einer: Was weinst du? Es ist ein Unbekannter - wohl ein Gärtner - der so fragt.
Warum erkennt Maria den Herrn nicht? Sie kannte doch seine vertraute Stimme, seine Gestalt, sein Gesicht...
Die meisten Ostererzählungen malen verschwommene Konturen. Es sind Szenen wie im Licht der Morgendämmerung, wenn die Umrisse noch unscharf sind und die Menschen verwechselbar. Da liegt nicht alles klar vor Augen im Lichte praller Ostersonne. Im Gegenteil. Fast alles ist unklar. Das Markusevangelium erzählt: Die Frauen flohen vor dem Grab, denn Zittern und Entsetzen hatte sie ergriffen. Johannes: Der Auferstandene stand am Ufer des Sees – aber die Jünger wussten (nicht, dass es Jesus war (Joh 21, 4). Matthäus schreibt: Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten (Mt 28,17). Und das Lukasevangelium erzählt: Er trat unter sie. Sie erschraken aber und fürchteten sich und meinten, sie sähen einen Geist (Lk 24,37). Der Auferstandene gesellt sich -wie ein fremder Wanderer - zu den beiden verzagten Menschen auf dem Weg nach Emmaus. Sie erkennen ihn erst am Ende des Weges, als er das Brot bricht (Lk 24,31).   
So auch hier, bei Maria von Magdala am Grab. Sie erkennt den auferstandenen Herrn nicht. Doch, was weder Gestalt noch Gesicht noch Stimme bewirken, löst die Anrede aus: Maria.
Die Anrede des Auferstandenen ist ein Schöpfungswort. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen – du bist mein (Jes 43,1)Dieser Namensruf macht alles neu: er ruft Maria von Magdala ins Leben. Von einem Augenblick zum andern überfällt diese Frau die Gewissheit: alles Lebenswidrige und Menschenverachtende hat keine Macht mehr! Alles Schauerliche und Grauenvolle ist von gestern. Christ ist erstanden von der Marter alle. Ein Mensch wird zum Leben aufgerichtet, der soeben noch Häuflein Elend war.
Ein Namensruf reicht, um das Unfassbare fassbar zu machen. Dieses knappe Zwiegespräch: Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast, dann will ich ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! (Joh 20,15+16a)– dieses knappe Zwiegespräch ist das abgrundtiefste seit Anbeginn der Welt! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni! das heißt Meister! (Joh 20,16b)
Maria!und sie antwortet: Rabbuni! = übersetztmein Rabbi, mein Herr und Meister. Im Innigsten geht’s wohl nur in der Muttersprache.
Alles ist in diesem knappen Zwiegespräch ausgesprochen. Und alles ist darin aufgehoben. Ja aufgehoben.
Die Macht des Todes ist aufgehoben,= ist zunichte gemacht. Wie ein Insekt hat der Tod seinen giftigen Stachel zurücklassen müssen im Leib des auferstandenen Herrn.
Die gemeinsamen Zeiten von Maria Magdalena mit Jesus –als er sie heilte und ihr Leben hell machte- sind aufgehoben, = bewahrt für immer und ewig.
Und der gekreuzigte Herr ist nicht im Tod geblieben. Gott hat ihn auferweckt, = aufgehoben (hinaufgehoben)in sein ewiges Leben.
Ein knappes Zwiegespräch reicht, um dieses Unfassbare fassbar zu machen.
Aber plötzlich folgt ein schroffes: Rühre mich nicht an!(Joh 20, 17a)Klingt wie: Komm mir nicht zu nah oder Halte mich nicht fest. Jesus ist nicht in das irdische Leben zurückgekehrt. Maria konnte den toten Jesus nicht festhalten, aber nun auch den lebendigen nicht. Sie muss loslassen.
Kein Happy end, wie im Film. Neues, anderes beginnt. Ich fahre auf zum Vater, zu meinem und zu eurem Gott (Joh 20,17b).
Für Maria von Magdala beginnt eine neue Wegstecke, wieder einmal. Doch dieses Mal in einem ganz veränderten Licht. Geh aber zu meinen Brüdern und sage ihnen... (Joh 20,17)Maria von Magdala soll, sie darf Jesu Jüngern und aller Welt ansagen: Der Herr ist auferstanden. Das Dunkle und Nichtige kann uns niemals mehr überfallen wie ein herrenloses Tier. Was immer geschieht, der gekreuzigte und auferstandene Herr wird dabei sein – nur ein Wort weit, ein Seufzen weit, ein Gebet weit entfernt. Er wird abwischen alle Tränen von den Augen.
Neues, anderes ist in der Welt. Alles Nichtige und Lebenswidrige wird vergehen im Licht der Auferstehung Christi von den Toten. Der Herr ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden. So läuft Maria von Magdala vom Grab zurück, läuft und läuft und ruft und ruft. Verkündigt den Jüngern: Ich habe den Herrn gesehen und das hat er zu mir gesagt(Joh 20,18).
Dieser Ruf der Maria von Magdala erreicht uns heute – am Ostermorgen. Wer immer uns diesen Ruf weitergibt – welche Person, in welcher Gestalt, mit welchem Gesicht und welcher Stimme – sie bringt uns Christus nahe. Den auferstandenen Herr, auf dessen Namen wir getauft sind, der uns bei Namen ruft und zusagt: Ich lebe und ihr sollt auch leben (Joh 14,19).
Sein Friede, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne. Frohe Ostern! Amen