Predigt über Johannes 3, 31-36 von Günter Goldbach
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Predigt über Johannes 3, 31-36 von Günter Goldbach

I.
Frohe Weihnacht!  -  Hören wir diese Worte? Erreichen sie unsere Ohren und unsere Herzen? Frohe Weihnacht!  -  Hundertfach haben wir das in den letzten Tagen und Stunden gesagt und gesagt bekommen. Geschrieben und geschrieben bekommen. Gedankenlos ausgesprochen und weitergegeben. Eine Inflation des Gutgemeinten. Eine abgegriffene Münze, immer wieder ausgegeben und gewechselt. Frohe Weihnacht!  -  gefragt auf Ehre und Gewissen: Welchen Grund sollten wir haben, froh zu sein an diesem Weihnachtstag?!
Unser Predigttext nennt die Begründung: ER kam… Der ganz oben war, ist ganz herunter gekommen. Damit wir obenauf sind. Das ist die Botschaft von Weihnachten: Einer, der ganz oben war, über allem und allen, der Umgang mit Gott selbst hatte, dem er gleich war und mit dem er in Eintracht herrschte, der kam herunter. Der stieg ab, immer tiefer und tiefer, bis er schließlich in unsere Gesellschaft geriet.
Bleiben Sie skeptisch? Wo ist der Vater, von dem der Sohn gekommen ist? Ist Gott wirklich? Und ist er wirklich in Christus? Und ist er in Christus wirklich für uns?
Weihnachten heißt in der Tat: Gott unter seinem Gegenteil suchen und finden. Das verstehen wir nur, wenn wir uns an den halten und auf den blicken, der von oben nach unten gekommen ist. Wenn wir seine Geschichte (und viele seiner „Geschichten“) erinnern: Er herrscht, indem er dient. Er regiert, indem er leidet. Er wird sterblich, damit wir erfahren, was Unsterblichkeit für uns heißen kann. Eben so verwandelt er die Erde in den Himmel. Nicht anders. „In der Tiefe ist Wahrheit“ (Tillich). Die ganze Fülle der Wahrheit.
Das ist eine Erfahrung gegen alle Erfahrung, besser: „Eine Erfahrung mit aller Erfahrung“ (Ebeling). Vielleicht können es überhaupt nur die wirklich erfahren, die unter uns ganz unten sind: die Mühseligen und Beladenen, die Verachteten und Verfolgten, die Habenichtse und Erfolglosen, die Kinder und Alten, die Ausgestoßenen und Kranken: Die sind mit dem vom Himmel herunter gekommenen Jesus obenauf!
Wo immer es zu verantworten war, hatte man die Kranken über die Feiertage nach Hause entlassen. Aber natürlich ging das nicht in allen Fällen. So mussten viele der Schwerkranken auch den Heiligen Abend in Santo Spirito, einem der ältesten Krankenhäuser Roms, verbringen  -  nicht wenige laut klagend und weinend, wie es südländischem Temperament entspricht.
Als der Weihnachtsmorgen heraufdämmerte, betrat der Kardinal das Krankenhaus. Alleine, ohne prunkvolle Gewänder, ging er von einem Raum des Hospitals und von einem Saal der Kranken und Siechen zum anderen, um die am schwersten Betroffenen zu trösten und die Mühseligen und Beladenen aufzurichten mit den Worten des Evangeliums: „Euch ist heute der Heiland geboren!“
Die Kranken waren erstaunt. Und erfreut zugleich. Und sie verstanden, was gemeint war. Und immer mehr Stimmen antworteten ihm mit dem Lobgesang der lateinischen Kirche: Natus est Emanuel  -  Geboren ist Immanuel! (bei einem Weihnachts-Besuch in Rom).
Das ist die Frohbotschaft am hellen Weihnachtsmorgen: Mit dem von oben zu uns ganz unten Herabgekommenen wird das ganze Heil wirklich erfahrbar. Gottes Inkognito lüftet sich.
Wie das? Nicht dass sich die alte Welt total veränderte. Sie bleibt die gleiche. Und wird dennoch für den Glaubenden eine neue Welt!  -  Es bleiben Dunkelheiten und Ängste. Aber Gott ist in ihnen nicht so verborgen, dass er selbst infrage stünde, wo das Leiden unser Leben infrage stellt.
II.
Frohe Weihnacht!  -  Seltsam: Da sind manche, die diese gute Nachricht hören  -  und zu trauern beginnen. Seltsam: Zu kaum einer anderen Gelegenheit sind manche unter uns so anfällig für die Traurigkeit wie gerade zu Weihnachten. Verluste werden schmerzhaft bewusst. Gescheiterte Beziehungen. Verlorene Liebe. Und dann steigt die Traurigkeit empor wie eine Flut und droht, alle Freude in uns völlig zu ersticken.
In der Tat: Ich denke an jene Frau, die in diesem Jahr zum ersten Mal mit ihren Kindern alleine Weihnachten „feiert“. Nicht weil ihr Mann gestorben wäre. Aber weil er seine Familie verlassen hat und zu einer jüngeren Frau gezogen ist.  -  Wer hätte hier den Mut zusagen: Frohe Weihnacht!?
Ich denke an jene bekümmerten Eltern, die auch in diesem Jahr zu Weihnachten ohne Kontakt zu ihrem einzigen Sohn bleiben werden. Weil sie es nicht akzeptieren können, dass er mit einem anderen Mann zusammenlebt. Wer wollte ihnen sagen: Freut euch doch!
Unser Predigttext sagt: Der von oben nach unten gekommen ist, wird, wie wir sind. Damit wird nicht nur der Himmel zur Erde hin aufgerissen. Auch die selbstgebauten Gefängnisse der Menschen werden aufgebrochen. Sein Kommen genügt. Kommt ER von oben, gerät unsere Tiefe in Bewegung.
Kurz vor Weihnachten erhielt Karl Schimanski eine Postkarte von seiner Tochter, von der er seit Jahren nichts mehr gehört hatte. Im Streit waren sie auseinander gegangen. Auf Umwegen hatte er erfahren, dass sie 2 Kinder hatte, die jetzt so 5 oder 3 Jahre alt sein mochten. Und nun schrieb sie auf einer Postkarte, er solle sie doch zu Weihnachten besuchen, Weihnachten ohne Kinder wäre doch nichts. Karl Schimanski wusste auch, womit er seinen Enkelkindern eine Freude machen konnte: mit Geschichten erzählen, mit vielen Geschichten. Er wusste auch viel zu erzählen, war weit gereist und hatte viel erlebt, Lustiges und Ernstes. Auch die Weihnachtsgeschichte wollte er zählen. Extra ein Buch hatte er dazu gekauft. Die Weihnachtsgeschichte, mit allem Drum und Dran wollte er sie erzählen, richtig spannend. So was zu hören, macht allen Kindern Spaß.  -  Aber bei der Tochter angekommen, gab es bald Streit. Die Kinder wollten dem Großvater nicht die Hand geben. Da gab die Tochter ihnen was auf die Finger, schrie sie an und brachte sie bald zu Bett. Karl Schimanski ließ das Weihnachtsbuch erst mal in seinem Koffer.
Am nächsten Morgen machte die Tochter Einkäufe. Ihr Vater sollte auf die Kinder aufpassen. Aber es gab wieder Streit, diesmal um das Spielzeug. Die Kinder beschuldigten sich erst gegenseitig, dann Karl Schimanski, einen Kran kaputtgemacht zu haben. Sie fingen an, sich zu schlagen und zu schubsen. Als Karl Schimanski den Streit schlichten wollte, griffen sie ihn gemeinsam an und drängten ihn zur Tür hinaus. „Du hast uns ja noch nicht einmal etwas mitgebracht!“  -  Karl Schimanski ging auf den Flur, zog seinen Mantel an, legte das Weihnachtsbuch auf den Tisch und fuhr wieder nach Hause.
Am nächsten Tag erhielt er erneut eine Postkarte von seiner Tochter. Warum er denn wieder abgehauen wäre, schrieb sie. Die Kinder hätten dauernd über dem Weihnachtsbuch gehangen. Sie hätte alles mehrmals vorlesen müssen. Und doch gar nicht richtig erklären können: Warum er den Kindern das Buch nicht gleich gegeben und die Geschichte nicht selbst erzählt hätte. Er könne doch so gut Geschichten erzählen  -  Karl Schimanski schüttelte den Kopf und musste doch wieder lachen. Und wischte sich die Augen. Und er freute sich besonders, dass die 2. Postkarte noch vor Weihnachten angekommen war. (nach H. Sievers, Karl Schimanskis Weihnachtsgeschichte).
Das ist die Frohbotschaft am hellen Weihnachtsmorgen: Kommt ER, werden wir zurecht gebracht. Herzen, so hart wie Stein geworden, lassen sich erweichen. Verkrustungen lösen sich. Neue Liebe wird möglich. Und wirkliche Freude. Wenn ER kommt, gibt es keine neue Hoffnung. Nein, er schenkt unverhofft die Erfüllung jeder Hoffnung! 
  Wie das? Nicht dass sich die alte Welt total veränderte. Sie bleibt die gleiche. Und wird dennoch für den Glaubenden eine neue Welt!  -  Es bleiben Irrtümer und schuldhafte Verstrickungen. Aber in unserem Versagen versagt sich uns das Leben nicht mehr. Wenn wir es nicht in unseren Wunschträumen und Illusionen suchen, sondern es uns von Gott selber schenken lassen.
III.
Frohe Weihnacht!  -  Kann man davon eigentlich reden in einem Jahr solcher Erinnerungen, wie sie in diesem Jahr geweckt werden: Die Berliner Wannsee-Konferenz von 1942, auf der die „Endlösung der Judenfrage“ beschlossen wurde und die generalstabsmäßige Organisation des Holocaust begann. Wo aber auch das erste Flächenbombardement der Britischen Luftstreitkräfte auf die Ostseestädte Lübeck und Rostock stattfand. Und die Einkesselung der 6. Armee in Stalingrad den Untergang des Dritten Reiches einläutete.
Man muss nicht 70 Jahre zurückdenken. Die Gegenwart ist bestürzend genug: Der Bürgerkrieg in Syrien, die Tötung tausender Menschen, die Zerstörung ganzer Städte und Dörfer und unwiederbringlicher Kulturgüter durch das eigene Regime. Und Persönliches geht uns womöglich noch mehr unter die Haut, natürliches und unnatürliches Sterben ganz in unserer Nähe. Ich selber denke an jenen kleinen 5-jährigen Jungen, dessen Schicksal ich nur aus der Zeitung kenne: der, im Schwimmbad mit einem älteren und stärkeren Jungen in Streit geraten, von diesem  immer wieder unter Wasser gedrückt wurde. Bis er ertrunken war. Und ohne dass andere zuschauende Badegäste ihm geholfen hätten.
Ist es nicht geradezu zynisch, angesichts all dieser und anderer tragischer Ereignisse in einer von den Machenschaften des Todes beherrschten Welt zu sagen: Frohe Weihnacht!?
Unser Predigttext sagt: Durch Jesus wurde das Oben zu unserem Unten. Will sagen: Das ewige Leben ist jetzt in unserem Leben zu haben. Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort. Das Sterbenmüssen braucht nicht mehr unser Tod zu sein. Der „unten“ am Kreuz Gestorbene ist wieder „oben“. Er lebt, damit wir leben können.
Ein älterer Mann war gestorben. Bei dem Trauergespräch wurde mir gesagt: Es wäre der Wunsch des Verstorbenen, wenn in dem Gottesdienst jenes altbekannte Negro-Spiritual gesungen würde: „O when the saints go marching in…“. Auf meine erstaunte Frage erklärte man mir: Dieses Lied hätte er immer wieder gerne gehört, es auch oft selber gesungen. Und jene Worte ganz unmittelbar auf sich persönlich bezogen: „… then, Lord, let me be in that number“. – Ja, das ist nun auch etwas wirklich Charakteristisches für das, was Weihnachten „wesentlich“ meint: nicht ausgeschlossen zu sein, vielmehr dazuzugehören, wenn Gott sich für alle Ewigkeit zu den Seinen bekennen will: „… then, Lord, let me be in that number“.
Das ist die Frohbotschaft am hellen Weihnachtsmorgen: Uns Sterbenden und Todgeweihten wird ewiges Leben angeboten. Weil ER von oben, aus göttlichem Leben, in die Tiefe unseres Todes heruntergekommen ist, können wir uns darauf verlassen und berufen. Nicht aufgrund irgendwelcher Verheißungen. Nein, er selbst ist der Verheißene.
Wie das? Nicht dass sich die alte Welt total veränderte. Sie bleibt die gleiche. Und wird dennoch für den Glaubenden eine neue Welt.  -  Es bleibt der Tod. Aber der Glaubende braucht ihn nicht zu fürchten oder heroisch auf sich zu nehmen. Er erfährt ihn als Tor zum Leben.
Und nun sei es noch einmal gewagt zu sagen: allen Gleichgültigen, Abgestumpften und Skeptikern, allen am Leben Zerbrochenen, Verzweifelten und mit ihrem Schicksal Hadernden, allen Sterbenden, Trauernden und Hoffnungslosen: Frohe Weihnacht! Amen.