Predigt über Offenbarung 3, 14-22 von Hans Uwe Hüllweg
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Predigt über Offenbarung 3, 14-22 von Hans Uwe Hüllweg

Liebe Gemeinde,
„du musst nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze zur Maus - und fraß sie.
So endet die berühmte „Kleine Fabel“ von Franz Kafka, dem Dichter des Düsteren und Unausweichlichen, das - nach seiner Sicht - unser Leben bestimmt. Wer sich in der Welt umsieht, merkt, für viele Menschen und für viele Lebensumstände stimmt das auch. Vielleicht haben ja auch Sie in Ihrem eigenen Leben schon einmal eine Situation als unabwendbar und schicksalhaft erlebt. Wer dieses Kabinettstückchen moderner Literatur kennt, wird sich erinnern. Für die, die sich nicht kennen, lese ich die wenigen Zeilen vor:
„Ach“, sagte die Maus, „die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.“ – „Du musst nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie. -
In frappierender Knappheit zeigt uns Kafka seinen Blick auf das Leben. Er beschreibt seine Gestalten oft in einem undurchsichtigen, verstörenden Labyrinth, anonymen Mächten ausgeliefert. Sie streben vergeblich nach Sinn und Glück und scheitern am Leben und seinen Verhältnissen. So auch hier: Aus der Angst vor der Freiheit wird Enge, das Leben läuft ungebremst auf die Falle zu, und sie schnappt nur deshalb nicht zu, weil vorher die böse, gefräßige Katze auftaucht. Die Pointe der „Kleinen Fabel“ hat es mir angetan, weil sie, genau wie die Katze, am Ende unvermittelt zubeißt. „Du musst nur die Laufrichtung ändern“ - aber dazu hat die arme Maus gar keine Gelegenheit mehr. Sie endet im Rachen ihrer ärgsten Feindin.
Nun will ich Ihnen heute - am Bußtag -. kein germanistisches Seminar halten; dazu besteht weder der Anlass, noch bin ich dazu berufen. Doch können wir, das haben Autoren nachgewiesen, wie der Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel zum Beispiel, bei Künstlern und Literaten auch für unseren christlichen Glauben eine Menge lernen.
„Du musst nur die Laufrichtung ändern“ - könnte das nicht auch eine kurze Beschreibung für das sein, was die Bibel „Buße“ nennt? Wie viele Predigten habe ich zeit meines Lebens schon gehört oder gehalten, in denen Buße mit „Umkehr“ übersetzt wurde. Du musst umkehren. Du musst umkehren von deinem verkehrten Leben aus Angst und Enge, musst umkehren aus Sünde und Schande, musst umkehren aus deinem gottlosen Leben. Umkehren zu Gott, umkehren zum Kreuz Jesu Christi, umkehren zu einem Leben, das Gott gefällt.
Falsch ist das ja nicht. Aber wenn das so einfach wäre! Schon Kafka sieht diese Möglichkeit in seiner „Kleinen Fabel“ nicht vor. Da läuft die Maus ungebremst und unvermeidlich, läuft schicksalhaft auf das Scheitern, läuft auf die Falle zu, auf das Gefressenwerden, läuft auf den Tod zu.
„Du musst nur die Laufrichtung ändern“ - das tönt unter diesen Umständen gemein und grausam. Die Maus hatte ja gar keine Chance.
In der Bibel klingt das allerdings anders. Zwar heißt es in unserem Text auch „Sei eifrig und tue Buße!“, also „Kehre um, ändere die Laufrichtung!“ Der Unterschied zu Kafka ist: Wir haben eine Chance. In der Bildersprache der Offenbarung: „Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen.“
So spricht Christus, der nicht auf den Christenmenschen wartet, wie die Kafka‘sche Katze auf die Maus, um ihn zu verschlingen, sondern um ihm alle Chancen zu schenken. Die Überwindung, das Bestehen in Anfechtungen, die Umkehr vom falschen, verhängnisvollen Weg, ist also nicht nur eine Notwendigkeit, sondern auch eine Möglichkeit. Nur schaffen wir sie nicht aus eigener Kraft, sondern brauchen seine Hilfe dazu.
Was war denn eigentlich in dieser antiken Stadt Laodicea los, dass dieses sog. Sendschreiben so heftig mit der Gemeinde dort ins Gericht geht? „Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst: Ich bin reich und habe genug und brauche nichts! und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.“ (V. 16+17) Starker Tobak, da muss in dieser Gemeinde ja wohl einiges schief gelaufen sein!
In römischer Zeit war Laodicea weithin bekannt als wirtschaftliches und medizinisches Zentrum. Es lag in einem weitläufigen Baumwollanbaugebiet. Die Baumwolle wurde gleich an Ort und Stelle verarbeitet, und die Stoffe, die daraus gewebt wurden, waren bis hin nach Rom berühmt und begehrt.
Dazu kam, dass dort eine neue Methode erfunden worden war, Stoffe purpurn zu färben, so dass man nicht mehr auf das extrem teure Purpurschneckenverfahren in Syrien angewiesen war. Laodicea wurde zum Zentrum des Römischen Reiches für Purpurstoffe.
Ferner profitierte die Stadt von den nahegelegenen Thermalquellen von Hieropolis. Türkeireisende kennen den Ort unter dem heutigen Namen Pamukkale. So wurde die Stadt von der Textilherstellung und von Kurgästen reich. Sie konnte sich nach verheerenden Erdbeben, die die Stadt immer mal wieder zerstörten, jeweils aus eigener Kraft wieder aufbauen und benötigte dazu keinen „Marshallplan“.
Zu guter Letzt fabrizierten die Apotheken in Laodicea eine Augensalbe, der wahre Wunder nachgesagt wurden. Kurzum, die Stadt blühte und gedieh, und die christliche Gemeinde in ihr hatte gewiss daran ihren gehörigen Anteil: Die Christen arbeiteten vermutlich, wie die anderen auch, in der Baumwollverarbeitung, färbten Stoffe, verschrieben Augensalbe, bedienten an den heißen Quellen, saßen an den Schaltern der Banken… Auf all dies wird in den Zeilen unseres Textes angespielt. Es ging ihnen gut, es fehlte ihnen nichts.
Doch, lässt der Seher Johannes Christus sprechen, euch fehlt Entscheidendes. In eurem Wohlstand seid ihr lau geworden. Euer christlicher Glaube ist bis zur Unkenntlichkeit verblasst. Ihr habt euch wohlig eingerichtet in eurer „bequemen und selbstgenügsamen Gemeindeexistenz, die ihr eigentliches Ziel aus den Augen verloren hat“ (Klinnert). Stattdessen müsst ihr „die Laufrichtung ändern“, sonst bleibt euer Glaube von eurer Apathie gelähmt und wird von eurer Lauheit langsam aufgefressen.
Wenn ihr aber die Laufrichtung ändert und euch wieder auf Gott konzentriert, wenn ihr Jesus Christus die Tür aufmacht - dann ändert sich euer Glauben und Leben. Tut Buße! Kehrt um!
Ist das nicht auch ein Vorwurf, den man heute gelegentlich uns Christen macht, etwa von islamischer Seite? Dass Gleichgültigkeit und Desinteresse unseren Glauben weithin aufgelöst haben? Dass das „Sich-Bekennen“ im „Christlichen Abendland“ selten geworden ist? Und hat nicht schon der Pfarrerssohn und Gegner des Christentums Friedrich Nietzsche Ende des 19. Jahrhunderts. eingefordert, die Christen müssten erlöster aussehen, wenn man ihnen glauben sollte? Mir scheint unser biblischer Text sehr aktuell zu sein! Und so lesen wir ihn nicht nur als an Laodicea, sondern über die Zeiten hinweg, auch als an uns gerichtet. Auch wir müssen uns ernstlich fragen lassen, ob nicht wir „lau, arm, blind und bloß“ sind, als einzelne Christenmenschen, als Gemeinde und als Kirche.
Man hat diesen Bußtag oft so verstanden, als richte er sich an nur die einzelnen Christen, als wäre seine Botschaft: Du musst umkehren. Du musst umkehren von deinem verkehrten Leben aus Angst und Enge, musst umkehren aus Sünde und Schande, musst umkehren aus deinem gottlosen Leben. Umkehren zu Gott, umkehren zum Kreuz Jesu Christi, umkehren zu einem Leben, das Gott gefällt.
Andererseits wurde er ursprünglich als öffentlicher Buß- und Bettag, als Tag des Betens in Notzeiten, als Tag des „fürbittenden Eintretens der Kirche für die Schuld der Gläubigen vor Gott“ (Wikipedia) begangen.
Beides gehört allerdings zusammen. In unserem Text ist zweifellos die Gemeinde angesprochen. Die Gemeinde besteht aber einzelnen Gläubigen. Also darf man das nicht auseinanderdividieren. Der Bußtag fragt mich und Sie, die Gemeinde und die Kirche insgesamt: „Hörst du, hört ihr das Klopfen an der Tür? Und wirst du, werdet ihr die Tür auftun?“
Der Text ist kein „Strategiepapier, wie das müde Glaubensleben wieder belebt werden kann“ (Klinnert), kein Memorandum für Leuchtturmprojekte, keine Zielvereinbarung im Mitarbeitergespräch, keine Synodalvorlage zur Strukturveränderung und was dergleichen ehrenwerte Versuche in Kirche und Gemeinde in den letzten Jahren gewesen sein mögen - sondern schlicht eine Einladung zur Änderung der Laufrichtung, eine Einladung zur Änderung der Blickrichtung, hin auf das Kreuz Christi, in dem unsere ganze Kraft liegt. Das Heilige Abendmahl, das wir in diesem Gottesdienst miteinander feiern, schenkt uns die Vorfreude auf das Abendmahl, von dem die Offenbarung spricht, das Christus verspricht zu feiern in seinem Reich mit denen, die ihm die Tür auftun.
Wir müssen nur mit Gottes Hilfe die Laufrichtung ändern - hin zum Kreuz von Golgatha.
Amen.
Lit.: Franz Kafka, Kleine Fabel (versch. Quellen, z.B. Ralf Sudau, Kafka, Kurze Prosa/Erzählungen, 16 Interpretationshilfen, ISBN 978-3-12-922637-7); Lars Klinnert, Predigtimpulse, in: Deutsches Pfarrerblatt, Heft 10/2012, S. 578; Art. „Buß- und Bettag“, sowie „Laodicea“ in Wikipedia.