Predigt über Philipper 1, 21-26 von Christian-Erdmann Schott
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Predigt über Philipper 1, 21-26 von Christian-Erdmann Schott

„Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn! Wenn ich aber weiterleben soll im Fleisch, so dient mir das dazu, mehr Frucht zu schaffen; und so weiß ich nicht, was ich wählen soll.
  Denn es setzt mir beides hart zu: ich habe Lust aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre! Aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen.
  Und in solcher Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude im Glauben. Damit euer Rühmen in Christus Jesus größer werde durch mich, wenn ich wieder zu euch komme.“
Liebe Gemeinde! Am  letzten Sonntag im Kirchenjahr, dem Totensonntag, denken wir zurück an unsere Verstorbenen; vor allem an die, die im letzten Jahr von uns gegangen sind. Wir blicken aber auch nach vorn und erinnern an unser aller Schicksal, dass wir einmal aus diesem Leben abgerufen werden. Wir tun das nicht, um Angst zu erzeugen oder uns in Verzweiflung zu stürzen, sondern um für unser Leben einen Nutzen daraus zu ziehen, - so wie es der Spruch des Tages nahe legt: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Ps. 90, 12). Normalerweise suchen wir die Gedanken an Tod und Sterben zu vermeiden und weg zu schieben. Insofern ist das „Bedenken“ des  Sterben-Müssens schon eine besondere Sache. Noch bemerkenswerter ist aber, dass es als Weg zur Klugheitanempfohlen wird.
Damit ist allerdings eine besondere Klugheit gemeint; nicht eine besondere Fähigkeit Geschäfte abzuwickeln, Gewinne zu machen, Vorteile auszunutzen. Gemeint ist Lebensklugheit, das heißt Umsicht oder Weisheit in der Gestaltung und Führung unseres Lebens.
Die Erinnerung an unsern Tod  aber kann zur Entwicklung von Lebensklugheit  beitragen, weil sie immer wieder neu  die Frage provoziert,  ob unsere Ziele, unsere  Kämpfe, unsere Streitigkeiten  tatsächlich die Wichtigkeit haben, die wir ihnen beilegen. Sind sie auch angesichts des Todes wirklich so sinnvoll und erstrebenswert, wie wir meinen, oder ist dieser unser Einsatz nur verplemperte Zeit?
 Der Volksmund drückt sich hier ziemlich derb, aber zutreffend aus, wenn er sagt: „Das letzte Hemd hat keine Taschen“. Was eben meint, dass wir ins Grab nichts, aber auch gar nichts mitnehmen können. Gerade darum erweist sich mancher Streit um  Einfluss, Besitz, Ehre oder Prestige, der uns tief aufwühlt und mitunter sogar zu unserm Tode beigetragen hat, als ganz sinnlos: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“, heißt in diesem Sinne: Lehre uns den Wert der Dinge richtig einschätzen, -  das Große groß und das Kleine klein zu sehen und wirklich weise zu werden. Etwa so, wie es in Mainz am Ehrenmahl für die Gefallenen des früheren Infanterieregimentes Nr. 117 zu lesen steht: „Bruder, wie klein ist dein Streit!“.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es in unserem heutigen Predigttext um eine deutlich andere Variante des Todesgedenkens geht; nämlich darum, dass wir den Tod zu ernst nehmen; so ernst, dass wir dem Leben nicht  gerecht werden (können). Diese Problematik wird in der Bibel an verschiedenen Stellen behandelt. Hier zunächst zwei Beispiele ehe wir uns unserem Paulustext zuwenden:
Das erste Beispiel steht im 1. Buch Mose. Es ist die Geschichte vom Linsengericht. Sie erinnern sich, dass der Erzvater Isaak Zwillingssöhne hatte – Esau, den älteren, und Jakob, den jüngeren. Jakob war zweifellos der intelligentere, wendigere; Esau schwerfällig und vielleicht sogar ein wenig tölpelhaft. Eines Tages kam Esau müde und hungrig von der Jagd und fand Jakob mit einem wunderbaren Essen vor; es soll ein Linsengericht gewesen sein. Esau  wollte es haben. Jakob wollte es ihm geben, aber nur unter der Bedingung, dass Esau ihm dafür den Erstgeburtssegen überließ. Esau hat das getan. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist nun aber seine Begründung. Sie steht 1. Mose 25,32: „Siehe, ich muss doch sterben; was soll mir denn die Erstgeburt?“ Das ist ein schwerwiegendes Argument. Es meint, ich fange erst gar nicht an, was soll`s? Es zeigt, dass ein junger Mensch wie dieser Esau von  vornherein darauf verzichtet, einen Anspruch zu formulieren, - denn ich muss ja doch sterben.
Das sieht wie Ernstnahme des Todes aus. In Wirklichkeit ist es eine Flucht vor dem Leben. Dass das die Schrift und der Glaube  ablehnen, sieht man daran, dass sie Jakob den Erstgeburtssegen und den damit verbundenen Anspruch zuerkennen und belassen. Dabei weiß Jakob genauso gut wie Esau, dass auch er einmal sterben wird. Aber Jakob sagt sich, bevor ich sterbe, will ich gelebt haben. Und so hat er anspruchsvoll gelebt: 12 Söhne und 1 Tochter hat er bekommen. Er hat viel gearbeitet, viel erlebt, viel erfahren. Es war kein leichtes Leben. Aber er hat sich dem Anspruch des Lebens gestellt. Und das war wichtig.                                               
Das zweite Beispiel steht im 1. Kapitel der Apostelgeschichte. Eigentlich ist es nur eine Szene. Dort wird von der Himmelfahrt Jesu Christi erzählt: Jesus hat nach den 40 Tagen seiner Auferstehung die Jünger noch einmal um sich versammelt. Er spricht letzte, wichtige Worte und wird schließlich zusehends vor ihren Augen aufgehoben. Die Jünger aber standen und sahen ihm nach, den Blick  immer nach oben, in den Himmel gerichtet. Und dann heißt es, dass zwei Männer zu ihnen traten und sprachen: „Ihr Männer von Galiläa was seht ihr und sehet gen Himmel?“
Das ist ein kritischer Satz, der die Himmelssehnsucht, die Jenseitsgerichtetheit mancher Christen charakterisiert. Er richtet sich gegen Menschen, die das Leben doch nur für ein Vorgeplänkel halten und das Eigentliche vom Himmel erwarten. Dieses Leben hier auf der Erde, so meinen sie, sollte man gar nicht so ernst nehmen. Das muss man recht und schlecht hinter sich bringen, da lohnt es sich auch gar nicht, sich allzu sehr zu engagieren – etwa in der schmutzigen Politik, im Sozialen oder sonst wo. Und so halten sie ihren Blick gerichtet wie die Jünger hier auf das Jenseits, auf den Himmel. Aber das ist nicht im Sinn des Glaubens. Es sind
Engel, die sie zurückverweisen auf die Erde, als wollten sie sagen: Hier ist euer Leben und hierauf sollt ihr eure Augen richten. Ihr sollt jetzt wirklich und ernsthaft hier leben – bis Christus wiederkommt und sein Reich aufrichten wird.
Damit kommen wir zu unserem Predigttext aus dem Philipperbrief. Er ist wahrscheinlich im Gefängnis in Rom von Paulus geschrieben worden. Deshalb spielt in diesem Brief auch die Frage nach dem Ausgang des Prozesses eine Rolle, also die Frage: wird der Apostel hingerichtet und stirbt als Märtyrer oder wird er freigesprochen werden? Wir können uns in diese Situation gut einfühlen. Paulus nun erklärt, dass er zum Martyrium bereit ist. Ja, er geht noch weiter: Er würde im Grunde am liebsten den Märtyrertod sterben und so zu Christus kommen.
Damit steht er nicht allein. Es ist bekannt, dass es im Urchristentum und in der Alten Kirche nicht nur die Angst vor dem Martyrium gegeben hat, sondern auch das Umgekehrte, dass Menschen sich geradezu danach gedrängt haben, ihren Herrn auf diese Weise zu preisen. Als Märtyrer zu sterben, galt vielen als Krönung ihres Glaubens. Die Gemeindeleiter sahen sich genötigt, gegen diese Tendenz einzuschreiten.
Auf den ersten Blick muss uns das eigenartig vorkommen. Aber in abgewandelter Form gibt es das auch noch heute in anderen Bereichen. Denken Sie an die jungen Leute, die ihr Leben für eine vermeintlich große Sache einsetzen, zum Beispiel für das Vaterland die Studentenkompanien, die im Ersten Weltkrieg vor Langemarck singend in den Tod gezogen sind. Oder denken Sie an die Selbstmordattentäter. Es könnte auch sein, dass im Terrorismus mit seiner Todesverachtung diese Dinge eine Rolle spielen. Für eine für groß gehaltene Sache ist der Mensch durchaus bereit, das Opfer seines Lebens zu bringen und das Martyrium auf sich zu nehmen.
Hier ist es  der Apostel selbst, der sich zum Leben zurückruft. Er weiß und macht es ganz klar, dass dieser begeisterte Martyriumswille im Grunde ein Ausweichen vor dem Leben ist, vor der strengen, alltäglichen Arbeit zum Wohle und zur Förderung der Mitmenschen. Er ist fest entschlossen, diesem weltflüchtigen Gefühl nicht nachzugeben. Vielmehr stellt er sich wieder seiner apostolischen Aufgabe,  macht Pläne, will bald die Gemeinde besuchen, ja er fängt wieder an, sich auf die Arbeit zu freuen.
Alle drei Geschichten zeigen, wie wichtig es ist, auf der Hut zu sein und sich vor einem falschen Ernstnehmen des Todes, auch am Totensonntag, zu hüten. Sie zeigen uns, dass Lebensscheu oder Flucht in die Todesbegeisterung nicht die Verhaltensweisen sind, die  Gott und Jesus Christus von uns wollen. Wir sollen – und dürfen -  uns dem Leben stellen. Wir sollen auch die Kleinarbeit, das, was alltäglich bewältigt werden muss, annehmen und auf uns nehmen. Alles andere ist Angst oder Schwärmerei, auf jeden Fall nicht echter christlicher Glaube. Denn der echte Glaube ist nüchtern und auch arbeitsam; so, wie es auch schon 90. Psalm von unserem Leben sagt: „Wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen“ – wenn Gott uns die Kraft gibt bis in die Stunde, in der er uns abruft. Aber vorher wollen wir auch gelebt haben. Amen.