Predigt zu 1. Korinther 9,16-23 von Manfred Wussow
9,16-23

Predigt zu 1. Korinther 9,16-23 von Manfred Wussow

Denn dass ich das Evangelium predige, dessen darf ich mich nicht rühmen; denn ich muss es tun. Und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte!
Täte ich's aus eigenem Willen, so erhielte ich Lohn. Tue ich's aber nicht aus eigenem Willen, so ist mir doch das Amt anvertraut.
Was ist denn nun mein Lohn? Dass ich das Evangelium predige ohne Entgelt und von meinem Recht am Evangelium nicht Gebrauch mache.

Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne.
Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne.
Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne.
Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi –, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne.
Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne.
Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette.
Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben.

 Predigt

Allen alles sein – ich fasse es nicht! Warum nur versteigt sich Paulus in einen solchen Höhenrausch? Wäre weniger nicht mehr? Aber dann tut er mir leid. Der Paulus. Ich bin noch im Bann seiner Größe, kenne seine historische Bedeutung, stolpere ständig über seine Spuren. Aber dass er sich verteidigen muss, erbittert, leidenschaftlich, überrascht mich dann doch.

Szene 1:
Ein Ringen um Worte

Korinth ist ein heißes Pflaster. Weltstadt, Handelsstadt. Hier legen Schiffe an, die einen weiten Weg hinter sich haben. Wildes Getümmel im Hafen. Ein Geschiebe sondergleichen. Alles muss schnell gehen. Waren werden verladen. Neue Waren aufs Schiff gebracht. Mit ihnen machen sich Geschichten auf die Reise, Neuigkeiten, Gerüchte. Dass es hier einmal eine kleine christliche Gemeinde geben würde, wussten die Alten noch nicht zu sagen. Quicklebendig, streitbar und streitlustig – selbst Sklaven wussten das große Wort zu führen.

Paulus, auf den die Gemeinde zurückgeht, immerhin, sitzt an seinem Tisch, nachdenklich.
Dem Briefpapier vertraut er an:

Paulus, berufen zum Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes, und Sosthenes, unser Bruder,
an die Gemeinde Gottes in Korinth, an die Geheiligten in Christus Jesus, die berufenen Heiligen samt allen, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Ort, bei ihnen und bei uns:
Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus!


Wie sich das anhört, anfühlt: Geheiligte! Wie das auf der Zunge zergeht! Man muss nicht einmal besonders klug sein, um herauszuhören, dass von diesen Menschen Großes, Überwältigendes, Edles gesagt wird. Geheiligte! Menschen in der Obhut Gottes, in der Liebe Jesu, angesteckt von dem einen guten Geist, der von beiden kommt- und nicht, nie,  niemals, leer zurückgeht. Geheiligte! Eine große Zärtlichkeit liegt in diesem Wort. Es ist Gottes Sicht auf diese Menschen hier. Unverdient. Geschuldet ist hier nichts.

Und dann das! In Korinth haben sich Lager gebildet, eins frömmer, klüger, besser als das andere. Die großen Worte werden wie Keulen geschwungen, die Wahrheit mit Löffeln gefressen, die Mäuler voll genommen. Was sich dynamisch anhört, intellektuell leuchtend – legt sich wie Schatten über die Gemeinde in Korinth. Dabei könnte ich Ihnen nicht einmal die Diskussionen wiedergeben, die Streitpunkte benennen. Wie so oft: Ein Wort gibt das andere. Dann tuen sich Grenzen auf, Vorurteile, Verdächtigungen. Am Ende droht Korinth, zerrissen zu werden. Die Gemeinde Gottes in Korinth. Die Geheiligten! Zerrissen!

Und Paulus? Ein Zwerg, körperlich, geistig auch. Mit seiner Fistelstimme. Nicht einmal das kann er – sagen sie. Nicht einmal gut reden kann er. Paulus hat das alles mitbekommen. Was er nicht selber hörte, trug man ihm zu. Manchmal mitleidig, manchmal erbost. Aber das Bild war in der Welt. Sein Bild. Nicht schmeichelhaft. Für Paulus nicht, aber für die Korinther auch nicht. Wollte Paulus überhaupt mithalten auf dem Markt der Eitelkeiten? Der Dummschwätzer? Der Neunmalklugen? Sie meinten zwar in ihren Gruppen und Kreisen, richtige, die richtigen Christen zu sein, aber es tat alles weh, was sie sagten – es verletzte. Nein, jetzt muss – endlich – einmal gesagt werden, was Sache ist, worauf es ankommt , was nicht verkommen darf. Es ist das Evangelium. Das Evangelium Jesu Christi.

Paulus sitzt an seinem Tisch. Noch ist der Brief nicht über die ersten Sätze gediehen. Der fulminante Ausgangspunkt steht. Nur er. Den Satz streichen? Noch einmal neu anfangen? Kritischer? Selbstkritischer?  Nein, Paulus wird nichts streichen. Auch den Brief nicht neu anfangen.
Geheiligte – das sind Menschen, die Gott nicht fallen lässt. Sie haben das Evangelium gehört, sie haben sich taufen lassen, sie feiern das Mahl ihres Herrn. Sie haben sich rufen lassen. Ihnen gilt die Verheißung, geliebt und angenommen zu sein. Alles, was dann geschieht – und zu sagen ist – wird unter Heiligen gesagt. Ich traue mich kaum, dass so zu sagen. Paulus ringt um Worte.

Szene 2:
Alles für das Evangelium

Paulus möchte das Evangelium von Jesus in seiner ganzen Schönheit, Würde und Kraft  zeigen. Die frohe Botschaft, das gute Wort. Evangelium ist Leben, Versprechen, Traum. Evangelium ist Hoffnung, Freude, Mut. Was diese Worte zu übersetzen versuchen, ist:  eine neue Welt zu sehen. Alte Abhängigkeiten und Schuldverstrickungen aufzugeben. Schon einmal in das Reich Gottes zu gehen. Die Türen sind offen. Schau! Geh!

Das Evangelium von Jesus! In der ersten Bedeutung kommt das Evangelium tatsächlich von Jesus. Er ist, wenn man so will, Hauptdarsteller, Gewährsmann und Denkmal in einem. Auch wenn Paulus Jesus nicht hat persönlich kennenlernen können, weiß er doch, was er gesagt und getan hat. Paulus ist eine große Erzählgemeinschaft geraten, in der Jesus so lebendig ist, als würde er jetzt noch Petrus über’s Wasser locken, die Armen selig preisen und dem Schächer am Kreuz – heute noch – das Paradies zusagen.

Das Evangelium von Jesus! In der zweiten Bedeutung ist Jesus dann selbst Gegenstand und Inhalt des Evangeliums. Im wohl ältesten Hymnus heißt es von ihm, dass er sich selbst erniedrigt, Knechtsgestalt angenommen hat – und erhöht wurde. Paulus hat diesen Hymnus vorgefunden – und aufbewahrt. Herr Ist Jesus! Das ist das wohl älteste Bekenntnis zu ihm. Jesus ist für uns gestorben, Jesus wurde für uns von den Toten auferweckt,  Jesus ist der Weg, die Wahrheit, das Leben. So wuchtig sich das anhört – es ist von A – Z ein Wunder der Liebe. Nur immer wieder neu variiert, erzählt und geglaubt. Für die Liebe hat Paulus viele Worte und Bilder: Vergebung, Versöhnung, das Seufzen der Kreatur, unser Gebet: Abba, Vater. Dabei wage ich einen Blick auf unser Leben  – mal mit Allmachtsphantasien, mal mit Schuld, mal strotzend vor Selbstbewusstsein, mal bis auf die Knochen blamiert. Das Evangelium von Jesus! Im Bekenntnis zu ihm finde ich einen eigenen Blick auf die Welt – und auf mein Leben.

Kann Paulus das auch den so kritischen und diskussionsfreudigen Korinthern schreiben? Es fällt auf, dass Paulus sozusagen seine ganze Identität in der Verkündigung des Evangeliums gefunden hat. Obwohl er – eigentlich – auch eine finanzielle Unterstützung erwarten könnte, sogar verdient hat, nimmt er nichts – gibt aber alles. Paulus schlägt sich mehr schlecht als recht durch – und ist doch der freieste Mensch, den man sich denken kann. Beschämend ist es trotzdem. Wir hören den Vorwurf förmlich, Paulus würde Geld nehmen, das Evangelium verkaufen, sich bereichern. Das kann Paulus nicht auf sich beruhen lassen. Aber es gibt keine Klage, keinen Gegenangriff.

 „Denn dass ich das Evangelium predige, dessen darf ich mich nicht rühmen; denn ich muss es tun. Und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte!“

Muss! Paulus nimmt am Evangelium Maß. Für sich – und für die Menschen in Korinth, die dicht davor stehen, das Evangelium zu verlieren. Sind wir nicht alle Glieder an einem Lied? Paulus stellt die Frage ausdrücklich, um sie auch gleich zu beantworten: die vielen Gnadengaben, Fähigkeiten, Erfahrungen – sie spielen und klingen zusammen. Viele Auffassungen, Meinungen, Streite können dann auch getragen, ausgehalten und verändert werden. Sie führen zusammen, nicht auseinander. Paulus stimmt das Hohelied der Liebe an. Ein neuer Ton ist auf einmal in der Welt – ein cantus firmus.

Szene 3
Allen alles sein

Eine Verteidigung will gut überlegt sein! Was kann ich sagen? Wie kann ich es sagen? Oder schreiben? Paulus mag nicht so gekünstelt und schwadronierend reden können wie die bei den Korinthern so beliebten Schönredner – ein Meister des Wortes ist er allemal. So lesen wir seine Verteidigung, ein wenig lächelnd, ein wenig erstaunt. Paulus schreibt, ziemlich offen sogar, den Korinthern, was die Liebe alles macht und kann! Sie kann den anderen Menschen erst einmal so nehmen wir er ist – und ihm dann das Geschenk machen, glauben und hoffen zu können! Gemeinsam, miteinander. Ich sehe die Feder über das Papier huschen. Paulus schreibt, dass er den Juden ein Jude ist – und den Heiden ein Heide! Ich sehe auch die gehobenen Augenbrauen. Biedert er sich jetzt etwa auch noch an? Redet er den Leuten nach dem Mund? Geht er den Weg des geringsten Widerstands? Was Paulus meint, kommt in dem Wort von den Schwachen so deutlich und schön zum Ausdruck, dass wir hier verweilen.

Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne.
Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette.
Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben.


Ich sehe Menschen, die schwach sind – oder auch als schwach gelten -  vor mir. Ich kenne sie auch.
Ich kenne mich auch. Wenn ich Stärke demonstriere, mein ganzes Wissen ausbreite, sie mit meiner Redegewandtheit überfahre – verliere ich sie. Ich mache ihnen Angst. Sie werden sich nie angenommen fühlen, auch nie dazu gehören. Meiden nicht vielleicht auch viele Menschen die Kirche, weil sie dort nicht gehört, nicht verstanden werden – aber überrollt mit fremden Gedanken, Riten und Gebräuchen? Ich bin Paulus dankbar, dass er seine Blicke und seine Worte abwägt: Er möchte Menschen nicht zurücklassen, er möchte mit ihnen gehen – und sie „erretten“. Dieses Wort ist zwar nicht unproblematisch, klingt auch ein wenig altväterlich oder besserwisserisch, aber wir verstehen den Wunsch des Paulus, dass in der Gemeinde Jesu, in der Gemeinde der Heiligen, niemand verloren geht. Den Schwachen ein Schwacher! Das ist die größte Kunst eines klugen Menschen – sich auf Augenhöhe zu begeben, zwischen den Zeilen zu lesen und schwache Menschen stark zu machen. Ihnen nicht davon zu laufen, sondern sich hinter sie zu stellen. Paulus hat wahrgenommen, dass in Korinth viele Gemeindeglieder nicht mehr dazu gehörten – weil sie sich nicht gut verkaufen, nicht gut reden, intellektuell und finanziell nicht beteiligen konnten. Verlierer am Tisch des Herrn, der zum Katzentisch verkommt.

Das Evangelium deckt auf – und befreit.
In Korinth gibt es tatsächlich viele – Sklaven!

Zu guter letzt

Boris Vildé, 1908-1942, ein russisch-französischer Ethnologe und Linguist, hat sich dem Widerstand gegen die Nazis angeschlossen. Im März 1941, gerade 32 Jahre alt, wird er von der SS gefasst. Ein langer Gefängnisaufenthalt in Einzelhaft beginnt, begleitet von Folter und Verhören, bis er im Februar 1942 schließlich hingerichtet wird. In den letzten Monaten seines Lebens durfte er Tagebuch führen, das vor Kurzem unter dem Titel „Trost der Philosophie. Tagebuch und Briefe aus der Haft“, deutsch übersetzt, herausgegeben wurde.

Am 25.06. 1942 heißt es:
„Mein Geburtstag: 33 Jahre!“ – viele Seiten später dann:
„Die christliche Religion (so wie die Kirche sie lehrt) ist eine Religion für Sklaven – nicht im üblichen Wortsinn (wie zum Beispiel bei Lenin), vielmehr für Sklaven ihres „Ich“, für Gefangene, die ihr Gemäuer lieben und die sich vor dem Unbekannten fürchten oder vor der vergessenen freien Luft“.

Paulus kennt „Gefangene, die ihr Gemäuer lieben …“
Allen alles sein – ich fasse es nicht! Warum nur versteigt sich Paulus in einen solchen Höhenrausch? Wäre weniger nicht mehr? Aber dann tut er mir leid. Der Paulus. Ich bin noch im Bann seiner Größe, kenne seine historische Bedeutung, stolpere ständig über seine Spuren. Aber dass er sich verteidigen muss, erbittert, leidenschaftlich, überrascht mich jetzt nicht mehr. In seiner Verteidigung entdecke ich das Evangelium Jesu Christi.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus, unserem Herrn.