Predigt zu 1. Korinther 9,16-23 von Ralph Hochschild
9,16-23

Predigt zu 1. Korinther 9,16-23 von Ralph Hochschild

Ich bin so frei und fange einfach mit der Predigt an.

Ich bin so frei, und schiebe all die üblichen Formeln beiseite. Kein Kanzelgruß, kein Predigttext, kein Kanzelgebet. Nicht einmal als “Liebe Gemeinde”, comme il faut, spreche ich Sie an.

Ich bin so frei und lege los.

Und falls ich Sie jetzt mit diesem unüblichen und übrigens unhöflichen Predigtanfang ein klein wenig irritiert habe, dann ist das gut so. Denn sie haben jetzt im Kleinen erlebt, was die Menschen in den ersten christlichen Gemeinden im Großen spürten, wenn sie dem Apostel Paulus begegnet sind. Eine Irritation. Ist er überhaupt ein Apostel? Er gehörte nicht zu den Jüngern Jesu! Ist er ein richtiger Missionar? Er arbeitet und verdient Geld, statt sich von der Gemeinde bezahlen zu lassen! Ist er ein wahrer Nachfolger Jesu? Er kann andere Menschen nicht heilen, er ist selbst schwach und krank! Ist er noch einer von uns? Heute isst er mit uns nach den Regeln der Thora. Morgen isst er bei einem Heiden Fleisch vom Markt, unter Anrufung der Götzen geschlachtet. Und übermorgen verzichtet er freiwillig darauf - um der schwachen Menschen willen, die davor Angst haben! Warum darf er das? Warum kann er sich diese Freiheit nehmen?

Paulus gibt darüber Rechenschaft in seinem 1. Korintherbrief. Wir hören daraus im 9. Kapitel die Verse 16 bis 22

16 Denn dass ich das Evangelium predige, dessen darf ich mich nicht rühmen; denn ich muss es tun. Und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte! 17 Täte ich's aus eigenem Willen, so erhielte ich Lohn. Tue ich's aber nicht aus eigenem Willen, so ist mir doch das Amt anvertraut. 18 Was ist denn nun mein Lohn? Dass ich das Evangelium predige ohne Entgelt und von meinem Recht am Evangelium nicht Gebrauch mache. 19 Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne. 20 Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden - obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin -, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. 21 Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden - obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi -, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. 22 Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. 23 Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben.

Herr, segne unser Reden und Hören. Amen.

Liebe Gemeinde,

er ist anders als die Apostel, die wir aus den Evangelien kennen. Er ist ein anderer Missionar, als ihn die Korinther gerne hätten.

Kein Wundertäter, der Gottes Nähe in Heilungen spüren lässt. Paulus ist ein kranker Mann, der sich und andere nicht heilen kann. Aber er weiß: Gottes Kraft ist dennoch in mir mächtig. So mächtig, dass ich gar nicht anders kann, als das Evangelium verkünden, es ist ihm Notwendigkeit, Schicksal, geradezu ein Zwang.

Keiner der zwölf Apostel ist er, dem irdischen Jesus ist er nie begegnet, der irdische Jesus hat ihn nie gesandt. Aber der Auferstandene. Er ist in sein Leben getreten, ihm ist er begegnet und das wird ihm zur Gewissheit: Jesus Christus hat mich gesandt, meine Aufgabe, das Evangelium, meinen Auftrag verdanke ich ihm.

Es muss ein dramatisches Ereignis in seinem Leben gewesen sein. Ein Erlebnis, über das Paulus selbst wenig spricht, aber dessen Wirkung wir in seinen Briefen, in seinem Denken, in seinem Tun spüren können. Eine Erfahrung, die ihn für sein ganzes Leben an Jesus Christus binden wird. Eine Bindung, ein Glaube, der ihn seine Freiheit entdecken lässt. Eine Freiheit, die Folgen haben wird.

Denn die einen nehmen ihren gerechten Lohn für ihre Arbeit von den Gemeinden, aber Paulus will sich seinen Lebensunterhalt verdienen. Er wählt die Unabhängigkeit.

Die einen konzentrieren sich auf die Gemeinde und achten ihre Grenzen. Aber Paulus wählt die Freiheit und schiebt Regeln, Gesetze und Konventionen auf die Seite. Er ist so frei und wird den Juden ein Jude, denen, die alte Gesetze halten wollen, stellt er sich gleich. Denen, die dieses Gesetz nicht kennen, wird er gerecht. Für die Schwachen macht er sich zum Schwachen, er ist so frei, um alle für das Evangelium von Jesus Christus zu gewinnen.

Die einen leben mit vollem Herzen aus ihren Erinnerungen an den irdischen Jesus, aber Paulus lebt ganz aus der Begegnung mit seinem auferstandenen Herrn.

Auch wir, liebe Gemeinde, leben aus der Begegnung mit Jesus Christus. Auch wir erfahren Freiheit. Nicht nur im Glauben. Nicht nur hier im Gottesdienst. Nicht nur als innere Freiheit wie viele Menschen vor uns und leider noch heute. Freiheit ist der zentrale Wert unserer Gesellschaft. Wir streben danach, frei von Einschränkungen zu werden, uns von Bevormundung, fremden Ansprüchen, Abhängigkeiten und Konventionen zu lösen. Wir wollen unsere Freiheit haben. Aber wir tragen auch Bedenken vor zu viel Freiheit. Führt sie nicht zu Bindungslosigkeit?

Wir haben längst gelernt, den alten großen Erzählungen nicht blind und unkritisch zu vertrauen. Auch der großen Erzählung von der Befreiung des Menschen. Denn zu oft war in unserer Geschichte die Freiheit der einen mit der Sklaverei der anderen verbunden, die Zunahme von Freiheit zugleich ein Verlust von Sicherheit und Geborgenheit. Können wir diesem Wert noch trauen?

Als Gemeinden sind wir oft nicht so frei wie Paulus. Wir erwarten oft, dass sich die anderen uns anpassen, sich einfügen. Veränderungen fürchten wir. Wir hängen an lieb gewordenen Traditionen, an unserer guten Gemeinschaft und tun uns schwer, die aufzusuchen, die ihr Christsein anders verstehen als wir. Wir sind nicht frei und selbstbewusst, die zu suchen, die anders fühlen als wir, die andere Dinge schön finden, die manches bei uns befremdet. Schnell fragen wir uns, wo die Grenze zwischen Öffnung und Anpassung liegt und wo ein zu viel an Freiheit unsere Identität als christliche Gemeinde bedroht.

Wo es um das Evangelium geht, scheint Paulus selbst solche Bedenken nicht zu kennen. Und er muss sie auch nicht haben. Denn seine persönliche Freiheit setzt er für das Evangelium ein. Seine Freiheit setzt er für die Menschen ein, die das Evangelium erreichen soll. Ihnen zuliebe macht er sich zu ihrem Knecht. Allen wird er alles, um sie für das Evangelium zu gewinnen. Er geht über Grenzen um der Menschen willen und folgt auf seine Weise Jesus nach. Denn Jesus ging über Grenzen, über die zwischen Erwachsenen und Kindern, um zu segnen, über die zwischen Juden und Nicht-Juden, um dem Hauptmann von Kapernaum und um der blutflüssigen Frau zu helfen, über die Grenzen von anständig und unanständig.

Paulus lebt also seine christliche Freiheit als eine Freiheit von Bindungen und als Freiheit für den Nächsten. Er lebt als mündiger Mensch, der seine Freiheit für den Nächsten einsetzt. Er verbindet Freiheit und Nächstenliebe. Das schützt ihn vor Beliebigkeit und billiger Anbiederung. Und es kennzeichnet uns Christen. Die Freiheit von Bindungen und die Freiheit für den Nächsten gehören für uns zusammen.

Im Gottesdienst erfahren wir die Befreiung von Bindungen wie unserer Schuld. Viele haben in unserer Gemeinschaft schon in Mutlosigkeit und Zukunftsangst Ermutigung erfahren. Sie haben gespürt wie sie frei wurden, wie ihr Herz frei wurde für den, der Hilfe brauchte, ein gutes Wort, ein offenes Ohr, eine helfende Hand. Den Enttäuschten, der Halt suchte, der Konfirmand, der seinen Platz im Leben finden wollte, die Eltern, die zwischen Beruf und Familie der Überforderung nahe waren, die pflegende Tochter, die mit ihren Kräften am Ende war.

Liebe Gemeinde,

“Ich bin so frei”, ich wünsche Ihnen, dass Sie das von sich sagen können. “Ich bin so frei”, weil Jesus Christus mich frei gemacht hat - für meinen Nächsten. Amen.