Predigt zu 2. Korinther 13,11(12)-13 von Wolfgang Vögele
13,11-13

Predigt zu 2. Korinther 13,11(12)-13 von Wolfgang Vögele

Liebe Gemeinde,

es ist Donnerstag, der 11.Januar 1945. In Deutschland herrschen die Nationalsozialisten. Alles ist vom Krieg bestimmt, aber der Krieg ist so gut wie verloren. In seiner Gefängniszelle sitzt der Widerstandskämpfer Helmuth James Graf von Moltke. Moltke hat Jura studiert, er gehört zum Kreisauer Kreis, einer Gruppe von Intellektuellen, Offizieren und hohen Beamten, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus und den Krieg organisiert.

Moltke sollte niedergeschlagen sein, denn der Volksgerichtshof hat ihn heute zum Tod verurteilt. Nun sitzt er in seiner kargen Gefängniszelle und schreibt einen letzten Brief an seine Frau. Die Kraft, an der Liebe zu seiner Frau festzuhalten und die Schikanen der Richter und Wächter zu ertragen, schöpft Moltke aus seinem christlichen Glauben. Dieser Glaube gibt ihm auch die Ruhe, die Angst vor der unmittelbar drohenden Hinrichtung zu ertragen.

Fast ein Jahr hat es gedauert, bis endlich die Gerichtsverhandlung gegen Moltke angesetzt wurde. Nun haben die ungerechten Richter das Todesurteil gefällt. Moltke weiß nicht, daß bis dahin noch zwölf quälende Tage des Wartens vergehen werden. Seiner Frau schreibt er am Schluß des letzten Briefes: "Ich habe ein wenig geweint, eben, nicht traurig, nicht wehmü­tig, nicht weil ich zurück möchte, nein, sondern vor Dankbarkeit und Erschütterung über diese Dokumentation Gottes, (das letzte Abendmahl, das wir zusammen feiern durften). Uns ist es nicht gegeben, ihn [Gott] von Angesicht zu Angesicht zu sehen, und wir müssen sehr erschüttert sein, wenn wir plötzlich erkennen, daß er ein ganzes Leben hindurch am Tag als Wolke und bei Nacht als Feuersäule vor uns hergezogen ist, und daß er uns erlaubt, das plötzlich in einem Augenblick zu sehen. Nun kann nichts mehr ge­schehen... Mein Herz, mein Leben ist vollendet, und ich kann von mir sagen: er starb alt und lebenssatt. Das ändert nichts daran, daß ich Dich gerne noch ein Stück auf dieser Erde begleitete. Aber dann bedürfte es eines neuen Auftrages Gottes. Der Auftrag, den Gott für mich gemacht hat, ist erfüllt. Will er mir noch einen neuen Auftrag geben, so werden wir es erfahren. Darum strenge Dich ru­hig an, mein Leben zu retten, falls ich den heutigen Tag überle­ben sollte. Vielleicht gibt es doch noch einen Auftrag.

Ich höre auf, denn es ist nichts weiter zu sagen. Ich habe auch niemanden genannt, den Du grüßen und umarmen sollst. Du weißt selbst, wem meine Aufträge für Dich gelten. Alle unsere lieben Sprüche sind in meinem Herzen und in Deinem Herzen. Ich aber sage Dir zum Schluß, kraft des Schatzes, der aus mir gesprochen hat und der dieses bescheidene Gefäß erfüllt: Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen."

So weit der letzte Brief dieses christlichen Widerstandskämp­fers, der sein Leben im Kampf gegen das nationalsozialistische Unrecht gab. Mit ungeheuer bewegenden, zugleich auch ruhigen Worten nimmt Moltke Abschied von seiner Frau. Aus dem Brief sprechen Lebensfreude, Ab­schiedstrauer, Zuversicht und Gottesfurcht. Am Ende des Briefes nimmt Moltke sich selbst ganz zurück, um einen anderen sprechen zu lassen. Er, Moltke, dessen Leben vorbei ist und der nun nichts mehr tun kann, befiehlt seine Frau, Kinder, Freunde, Kollegen, Mitgefangene in die Hand Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Hei­ligen Geistes. Die Segenswünsche am Ende des Briefes übernimmt Moltke aus der Bibel, vom Ende des 2.Korintherbriefs.

Paulus verabschiedet sich von den Korinthern mit denselben Segenswünschen. Auch da­hinter steckt eine bewegende Geschichte. Korinth um das Jahr 55 nach Christus. Seit ein paar Jahren feiert in dieser griechischen Großstadt eine christliche Gemeinde ihre Gottesdienste. Paulus, der Apostel hat die Gemeinde gegründet. Er ist inzwischen weiter­gereist, um andere Städte in Griechenland zu besuchen und weitere Gemeinden zu gründen. Zwischen der Gemeinde in Korinth und dem Apostel herrscht jedoch noch ein reger Briefverkehr. Zweimal hat Paulus die Gemeinde in Korinth besucht. Die Eintracht des enthusiastischen Beginns ist verflogen, inzwischen hat es großen Streit gegeben.

Andere Apostel sind aufgetreten: Sie polemisieren gegen Paulus, verunglimpfen ihn; sie spotten über ihn und ziehen ihn auf, weil er nicht frei reden und predigen kann. Paulus hört von diesen In­trigen in Korinth. Er weiß, wer gegen ihn undurchsichtige Pläne schmiedet und schreibt den Korin­thern einen Brief.

Jedes Mal, wenn Paulus einen Brief schickt, versammeln sich die Christen in einem der Häuser der Gemeinde­glieder, und der Brief wird vorgelesen. So auch dieses Mal. Die Christen in Korinth sitzen da und hören den Worten des Vorlesers zu. Paulus hat ihnen eine erschütternde Strafpredigt geschrieben. Er hält mit seinen Vorwürfen nicht zurück. Er verschweigt keinen Fehler, er klagt an, er kommentiert ironisch, er prangert an, er verteidigt sich selbst und er droht. Die Ge­meinde wie vor den Kopf geschlagen, als sie die Vorwürfe hört. Man schweigt betreten.

In dieses Schweigen hinein spricht der Vorleser den Schlußabschnitt des Briefes. Nach allen Vorwürfen und Anklagen endet der Brief auf einem ganz anderen Ton. Ich lese nun den Briefschluß vor (2.Korinther 13,11-13):

"Freut euch, laßt euch zurechtbringen, laßt euch mahnen, habt einerlei Sinn, haltet Frieden! So wird der Gott der Liebe und des Friedens mit euch sein. Grüßt euch untereinander mit dem heiligen Kuß. Es grüßen euch alle Heiligen. Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen."

Liebe Gemeinde, die Schlußsätze kehren den Zorn und den Ärger nochmals um. Die Strafpredigt, die Drohungen und der Zornausbruch des Paulus gleiten hinein in einen Segenswunsch: Vater, Sohn und heiliger Geist, sie mögen mit euch sein. Sie mögen euch Gnade, Liebe und Gemeinschaft ge­währen. Im Ernst, liebe Gemeinde, würden Sie das jemandem wün­schen, der sie im Streit betrogen hat?

"Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen." Dieser eine Satz des Pau­lus faßt im Grunde den ganzen Glauben zusammen. Wir leben von der Liebe Gottes, von der Gnade Christi, von der Gemeinschaft des Geistes. Überall sprechen sich Christen den Segenswunsch des Paulus zu. Der Widerstandskämpfer von Moltke beendete so seinen Abschiedsbrief. Dieser eine Satz des Paulus war das letzte und wertvollste, was er seiner Frau weitergeben konnte. Dieser Segensspruch des Paulus bestimmt bis heute die Atmosphäre von Gottesdiensten, Gemeindeversammlungen, Bibelstunden und Gesprächskreisen. Bevor ein Pfarrer im Gottesdienst seine Predigt be­ginnt, grüßt er seine Gemeinde mit genau diesem einen Satz aus der Bibel. Viele Gottesdienstbesucher überhören das. Es ist schon so selbstverständlich, daß die Worte uns gar nicht mehr richtig anrühren.

"Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen!" Die Worte beschreiben nicht die abgehobenen Labyrinthe der Dogmatik. Paulus redet so persönlich und direkt wie möglich. Es geht nicht um allgemeine, theologische Fragen, es geht Paulus um die Gemeinde, um jeden einzelnen in der Gemeinde. Er spricht von Gott, von Christus und von Heiligen Geist - in ihrer Beziehung zu jedem Einzelnen. Das will der Schluß dieses Briefes sagen: Du darfst im Namen Jesu lauter Gutes erwarten, denn ein freundliches Auge ist auf dich gerich­tet. Das heißt "Gnade". Und du darfst im Namen Jesu ganz frei und ohne Beschränkung leben, denn du bist umfangen, be­schützt von einer wunderbaren, sorgenden Liebe. Und damit nicht genug: Du darfst auch im Namen Jesu frei und herzlich mit ande­ren Menschen zusammenleben, darfst helfen, das Mißtrauen in der Welt abzubauen und brauchst keine Angst zu haben, daß du zu kurz kommst. So einfach kann das Wirken von Gott, Christus und dem Hei­ligen Geist beschrieben werden, obwohl es den Menschen doch ein Geheimnis bleibt. Gott ist ganz der deinige; Jesus Christus ist ganz nahe; und die Kraft des Trösters, der dich nicht allein läßt, wird dir so faßlich ins Herz gegeben, daß du es verstehen kannst; der Heilige Geist ist bei dir. Deine Sorgen werden kleiner, dein Vertrauen und dein Glauben werden größer.

Und Paulus verknüpft alles, was er sagt von der Gnade des Herrn Jesus Christus , von der Liebe Gottes und der Gemeinschaft des Heiligen Geistes, er verknüpft alles mit persönlichen, einfachen Weisungen, die man in Korinth und anderswo praktizieren kann. Bessert euch! Vertragt euch! Haltet Frieden! Freut euch! So könnte man bei sich denken: Das ist mir dann doch zu persönlich. Das kommt mir zu nahe, da beschränke ich mich lieber auf Beten und Bi­bellesen. Das Evangelium, liebe Gemeinde, besitzt eine überra­schende Eigenheit: Zunächst liest und hört man bloße  Wörter, Hauptwörter: Gnade, Liebe, Gemeinschaft, Gott, Christus, Heili­ger Geist. Lauter alte Bekannte, möchte man sagen, Wörter, die schon zu selbstverständlich und darum abgenutzt sind. Aber dann werden aus diesen Hauptwörtern Zeit- und Tuwörter. Aus dem Wort "Gnade" wird: Ich, Jesus Christus erbarme mich deiner! Aus dem Wort "Gemeinschaft" wird: Ich, der Heilige Geist bin bei dir und trö­ste dich! Aus dem Wort "Liebe" wird: Ich, Gott, der Herr, sorge für dich und lasse dich nicht fallen. In meiner Hand bist du ge­borgen.

Der Segen Gottes, den Paulus den Korinthern wünscht, der Segen Gottes, den sich die Christen einander zusprechen, dieser Segen bleibt nicht wirkungslos. Und dann geschieht es, dann kommt al­les in Bewegung. Die Macht der lebendigen Wahrheit ist nicht mehr aufzuhalten, und die ganze Welt verwandelt sich. Klage ver­wandelt sich in Dank, aus Streit wird Liebe, Trauer und Verzagt­heit weichen der Freude. Das gilt im Alltag ebenso wie in den Grenzsituationen des Lebens. Helmuth von Moltke hat seinen Brief im Bewußtsein seines bevorstehenden Todes geschrieben. Moltke verdrängt die Trauer nicht, auch nicht das Weinen. Doch der Grundton, auf den sein Brief gestimmt ist, ist die Geborgenheit in Gott, der Glaube, von Gott geliebt zu werden. Kein Mensch, keine Drohung, keine Hinrichtung kann dieses Vertrauen in Gott, den Vater, den Sohn und Heiligen Geist erschüttern.

Was für die Grenzsituationen des Lebens gilt, gilt auch für un­seren heutigen Alltag. Christen leben im Kraftfeld des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, im Kraftfeld von Gnade, Ge­meinschaft und Liebe. Nicht Sterne vom Himmel holen, nicht Ge­schichte machen, ist unsere Aufgabe: nein, dem Nachbarn die Sonne der Freundlichkeit aufgehen lassen; die kleine Tageslek­tion der Güte wiederholen. Wer ins Kraftfeld von Gnade, Liebe und Gemeinschaft kommt, der sieht mit einem Male, wie viele auf ihn warten; und er hat nicht genug Hände für all das Gute, das er austeilen darf. Und am verborgenen Dienst der Barmherzigkeit fehlt es noch mehr als an großen Aktionen der Menschenliebe. Die Botschaft, die Jesus in die Welt brachte, wartet immer wieder auf ihre neue, wahre, getreue  Übersetzung ins Leben. Es ist eine gute Sache, sich da mitnehmen, sich dafür ermuntern zu las­sen. Es hat nicht nur einen Sinn; es hat sogar eine Zukunft, ja eine Verheißung.

Der Gott der Liebe und des Friedens und der Ge­meinschaft möge mit euch sein und euch auf diesem Weg begleiten. Amen.