Predigt zu 2.Mose 34,4-10 von Anita Christians-Albrecht
34,4-10

Predigt zu 2.Mose 34,4-10 von Anita Christians-Albrecht

4 Mose richtete die beiden Steintafeln wie die vorigen her und machte sich frühmorgens auf den Weg. Wie Gott es ihm aufgetragen hatte, stieg er auf den Berg Sinai; die beiden Steintafeln trug er bei sich.
5 Da kam Gott
in einer Wolke herunter, stellte sich zu Mose und rief seinen Namen aus: »Ich-bin-da«.
6 Dann ging Gott
an Mose vorbei und rief erneut: „Ich-bin-da. Ein mitfühlender, gnädiger Gott bin ich, langmütig, treu und wahrhaftig, Ich-bin-da.
7 Ich sorge für 1 000 Generationen und bin bereit, Schuld, Verirrung und Verfehlung zu vergeben. Doch ich lasse nicht alles durchgehen, ich ahnde auch Schuld der Eltern an Kindern, Enkeln, Urenkeln und Ururenkeln.“
8 Mose warf sich schnell zur Erde und nahm die Gebetshaltung ein.
9 Er sagte: »Mein Herr, wenn du mir wohl willst, dann komm in unsere Mitte und geh mit uns, Herr. Es ist ein starrköpfiges Volk, doch du kannst uns unsere Schuld und Verfehlungen vergeben. Nimm uns doch als dein Eigentum an.«
10 Gott erwiderte: »Gut, ich will einen Bund mit euch schließen. Vor dem ganzen Volk werde ich Erstaunliches tun, wie es auf der ganzen Erde und unter allen Nationen noch nie geschehen ist. Alle Menschen der Gemeinde, in der du lebst, sollen meine
Taten miterleben; gewaltig ist, was
ich für euch tun werde.


Haben Sie das auch schon einmal erlebt, liebe Gemeinde? Ja. Ganz sicher haben Sie das schon erlebt! Dass jemand Sie ganz schrecklich enttäuscht hat.

Da haben Sie auf jemanden gebaut, sich voll und ganz auf ihn verlassen, und dann mussten Sie erkennen, dass dieser Mensch dieses Vertrauen gar nicht verdient hat.

Wie haben Sie reagiert? Gelassen und gnädig? Nein! Normalerweise ist da Traurigkeit im Spiel und Wut und vielleicht auch der Wunsch nach Vergeltung.

Wenn Kinder ihre Eltern oder Lehrer enttäuschen, überlegen sie sich eine Strafe.

Wenn jemand mir weh tut oder nicht hält, was er verspricht, kündige ich ihm die Freundschaft. Oder ich wechsle den Chef, den Anbieter oder den Ehepartner. Ich lasse es den anderen spüren, was er mir angetan hat.

In der Geschichte, aus der unser heutiger Predigttext stammt, wird auch jemand bitter enttäuscht. Kein Mensch, sondern Gott. 
 
Gott muss erkennen, dass seine Menschen, um die er sich immer liebevoll gekümmert hat, ihm untreu geworden sind. Und Mose, der sich in seinem Auftrag für genau diese Menschen ein Bein ausreißt, der kann es gar nicht fassen:

Gott hat diese Menschen doch aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Sie haben erlebt, dass er sogar in der Wüste für sie sorgt. Aber noch bevor Mose ihnen Gottes Gebote, seine guten Lebensordnungen, vorstellen kann, noch während er auf dem Berg Sinai ist, um sie in auf zwei Steintafeln in Empfang zu nehmen, haben die Israeliten all ihren Schmuck gesammelt, all die Halsketten, Ohrringe und Broschen, und sich daraus einen goldenen Stier gegossen. Ein selbstgebauter Gott! Sie haben sich benommen wie kleine Kinder, die genau das tun, was ihre Eltern nicht wollten. Mose ist so wütend, dass er die beiden Steintafeln zerschmettert.

Das mit dem Goldenen Kalb, davon haben Sie alle schon mal gehört. Ihr, liebe Konfis, vielleicht auch. Nicht nur, dass das Wahrzeichen der Wall Street in New York ein bronzener Bulle ist. Nicht nur, dass im Geldmuseum der Bundesbank direkt am Eingang ein pecus, ein Stier steht, das Symboltier, das die Pecunia, unsere Pekunen und Penunzen, auf den Begriff gebracht hat. Der Tanz um das Goldene Kalb - das ist mittlerweile sogar sprichwörtlich geworden: für unsere moderne Welt, in der an die Stelle Gottes Reichtum, Schönheit und Erfolg und das Gesetz von Macht und Gewalt getreten sind.

Mose ist total enttäuscht, und Gott ist es sicher auch. Da ist etwas kaputt gegangen. Die zerschmetterten Steintafeln stehen für all das, was durch eine solche Enttäuschung kaputt geht. Und weh tut.

Oft beginnt danach das Spiel. Das Spiel der gegenseitigen Schuldzuweisungen und Vorwürfe. Das Spiel der Gemeinheiten. Ehepartner beherrschen dieses Spiel mit ausgeklügelter Perfektion. Von der Zahnpastatube bis hin zum Sorgerecht. Alles spielt mit.  

Auch Mose spielt zunächst dieses Menschen-Spiel. Er zerstört das Götterbild, zermalmt das Gold zu Pulver und lässt das Schwert sprechen. Rache ist süß - und manchmal grausam. 3000 sollen damals umgekommen sein. Unvorstellbar, aber steht so in der Bibel. Und so geht es zu unter den Menschen.
 
Stellen wir uns einmal vor, Gott hätte tatsächlich reagiert wie wir – hätte den Kontakt abgebrochen, seinen Menschen den Rücken gekehrt. Dann säßen wir nicht hier.

Aber das tut er nicht. Gott gibt nicht auf. Er bittet Mose erneut auf den Berg. Vorher - Strafe muss sein - muss er nun neue Tafeln herstellen, sie aus dem Stein hauen, glatt schleifen und beschriften. Das ist viel Arbeit und kühlt anscheinend sein Mütchen. Und dann kommt es - davon erzählt nun unser Predigtext - zu einer atemberaubenden Begegnung: Mose sieht Gott von Angesicht zu Angesicht. Und Gott stellt sich dem Mose vor. Er sagt:

Ich bin Gott. 'Ich-bin-da'- das ist mein Name. Ein mitfühlender, gnädiger Gott bin ich, langmütig, treu und wahrhaftig, Ich-bin-da. Ich sorge für 1000 Generationen und bin bereit, Schuld, Verirrung und Verfehlung zu vergeben. Doch ich lasse nicht alles durchgehen, ich ahnde auch Schuld der Eltern an Kindern, Enkeln, Urenkeln und Ururenkeln.

Das verändert alles. Mose begreift: Gott ist gnädig. Super! Aber der Satz geht weiter:
Ich lasse nicht alles durchgehen, ich ahnde auch Schuld der Eltern an Kindern, Enkeln, Urenkeln und Ururenkeln.

Mancher, der das hört, muss trocken schlucken. Was ist das denn für ein Gott? Nennt sich gnädig und straft die Nachkommen für die Sündern der Eltern und Großeltern! Das machen doch nicht einmal wir Menschen!

Oder? 'Ist das nicht der Enkel von dem? Na ja, dann ...!'

Was wir Menschen damit verfolgen, will ich jetzt einmal dahingestellt lassen. Was Gott damit will, leuchtet mir ein:

Er ist liebevoll und fürsorglich. Aber er ist kein Weichei. Zur Liebe  - jede Mutter, jeder Vater, jeder Lehrer weiß das - zur Liebe gehört auch, dass man Grenzen setzt. Und auch Gott lässt uns nicht einfach so in unser Unglück rennen. Gott liebt uns, und deshalb akzeptiert er unser zerstörerisches Verhalten nicht. Es hat Folgen, wie wir heute leben. Wie wir mit unseren Ressourcen umgehen, ob wir bewahren oder zerstören. Auch ob wir - gerade in unserem Land - die Schuld der Väter und Großväter und Urgroßväter totschweigen oder nicht.

In jüngere Zeit sind die 'Kriegskinder' ja vermehrt ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt, die Menschen, die den 2. Weltkrieg als Kinder erlebt haben. Sie hatten keine Schuld an dem, was die Nazis verbrochen haben, aber sie haben in den Bombennächten oder auf der Flucht traumatisierende Erfahrungen gemacht. Und all das kommt jetzt, wo sie im Ruhestandsalter angelangt ist, wieder hoch und lässt sie nicht schlafen. Die Schuld der Väter musst manchmal noch von den Enkeln und Urenkeln bezahlt werden. Ich bin froh, dass unsere Bibel so realistisch ist.

Das letzte Wort behält in der Bibel allerdings immer die Gnade: Die Aussage über Gott in unserem Predigttext enthält eine wunderbare Asymmetrie: Gottes Strafe gilt höchstens vier Generationen, seine Gnade und Vergebung dagegen tausenden.

Gott versöhnt sich also mit seinem Volk, er gibt ihnen eine zweite Chance. Er schließt den Bund mit den Israeliten neu. So wie bei einem Ehepaar kann man sich das vielleicht vorstellen, das sich auseinander gelebt hat, vielleicht sogar getrennt war – und es doch noch einmal miteinander versucht oder sogar ein zweites Mal heiratet.

Ich finde es interessant, dass sich mittlerweile auch die Medizin mit dem Thema 'Versöhnung' befasst. Wer vergibt, lebt länger, haben die Wissenschaftler in ihren Studien belegt. Und: Menschen, die Wut und Ärger bewältigen können, leiden seltener unter Bluthochdruck, Schweißausbrüchen und Schlafstörungen. Frauen sollen das mit der Versöhnung übrigens besser drauf haben als Männer. (Deshalb leben sie wahrscheinlich auch im Schnitt 7 Jahre länger.) Ausnahmen bestätigen die Regel.

Wer vergibt, lebt länger. Und: Wenn ich nicht vergeben kann oder will, schade ich ausschließlich mir selbst. Darum raten Therapeuten, sich immer wieder um einen Perspektivwechsel zu bemühen. Zu erkennen, dass man selbst auch Fehler macht und sie dadurch beim anderen besser verstehen. In der „Schule des Lebens" müsste Vergebung ein Pflichtfach sein“, sagen sie. Wobei Vergeben nicht bedeutet, dass man alles unter den Teppich kehrt. Vergeben ist nicht passiv, Vergeben ist aktiv.

Und sogar diese Wissenschaftler weisen darauf hin, dass Vergeben biblisch fundiert ist, dass es sich dabei um einen klaren biblischen Auftrag handelt, der jeden Sonntag im Vaterunser vorkommt „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern."

Wenn wir wissen, dass Gott uns vergibt, dann können wir auch vergeben - uns selbst und den anderen.

Dazu gehört für die Forscher auch, dass wir unseren Frieden machen mit unseren  Eltern, ob sie nun noch leben oder nicht. Die Mutter hat vielleicht ständig gemeckert, der Vater ist bei jeder Kleinigkeit ausgerastet: Fast jeder erinnert sich an Situationen in seiner Kindheit, in denen er sich von den Eltern unfair behandelt gefühlt oder gedacht hat: Sie mögen mich nicht mehr. Waren solche Verletzungen an der Tagesordnung, bleibt oft das Gefühl zurück, nichts wert zu sein und nichts richtig zu machen. Und häufig prägen diese Empfindungen das ganze Erwachsenenleben.


Sich selbst einzugestehen, dass man verletzt wurde als Kind, ist dabei der erste Schritt. Vielleicht in einem Brief an Vater oder Mutter, den man nie abschickt. Man ist ja nun erwachsen und nicht mehr das kleine, abhängige Kind von damals und kann vielleicht besser verstehen, wie das Leben der Eltern ablief, wie ihre Kindheit war, welche Schicksalsschläge sie vielleicht zu verkraften hatten. 

'Alles verstehen heißt alles verzeihen', sagt ein Sprichwort. Und ich denke, genau das ist es, was Gott den Israeliten und uns zeigt: Gott kennt uns, er weiß, was in uns vorgeht. Wenn wir etwas verkehrt machen, dann weiß er, warum. Und weil er versteht, kann er verzeihen.
 
Das Volk Israel bekommt die Chance, seinen Frieden zu machen mit dem. was war.
Und wer das schon einmal erlebt hat: eine zweite Chance bekommen, vom Leben oder von einem anderen Menschen, der weiß, was das bedeutet. Eine zweite Chance, unzählige neue Möglichkeiten, Gott zu begegnen.

Und worum geht es bei dieser 2. Chance?

Ich finde interessant, um was Mose Gott bittet da oben auf dem Berg. Um Gnade, ja. Aber dann ganz konkret auch um dieses: Komm in unsere Mitte und geh mit uns! – Mose bittet Gott um seine Nähe. Denn genau das haben die Menschen vermisst. Genau darum haben sie sich ihren Ersatz-Gott gebastelt. Den Stier - dieses Sinnbild für Kraft und Stärke. Das ist es, was die Menschen sich wünschen: einen starken Beschützergott, der möglichst nichts von ihnen verlangt und sie nicht in Frage stellt. Und wehe, Gott zeigt sich anders! Wehe, er kommt uns in die Quere bei unserem Umgang mit Geld und Macht, bei unserer Gleichgültigkeit, unserer Verachtung für andere Menschen.
 
Komm in unsere Mitte. Gott hat das wahr gemacht. Er ist in unsere Mitte gekommen -mit seiner Liebe. Er hat Jesus in unsere Welt geschickt. Er hat uns für immer und ewig mit sich versöhnt. Er hat uns heil gemacht - nicht nur von Bluthochdruck, Schweißausbrüchen und Schlafstörungen. Amen.