Predigt zu 5. Mose 7, 6-12 von Ulrich Braun
7,6

Predigt zu 5. Mose 7, 6-12 von Ulrich Braun

Liebe Gemeinde!
Noch ist es nicht mehr als eine Möglichkeit, vielleicht nur ein Gerücht, dass der Attentäter von Oslo und Udöjet neben anderen Hintergründen auch aus christlich fundamentalistischen Quellen schöpfte. Offenkundig ist der Massenmord die Tat eines Geisteskranken. Ob religiöse Motive für seinen Wahn eine Rolle spielten, muss sich erst noch herausstellen.
Unklar ist auch, ob es Komplizen, Gleichgesinnte oder, wie der Mörder selbst es nennt, Unterstützerzellen in der Wirklichkeit gab und gibt. Möglicherweise existieren sie aber auch nur in einer bizzarren Parallelwelt seiner wahnhaften Vorstellungen.
Auszuschließen ist es allerdings nicht, dass es in irgend einer Weise Mitwisser, Komplizen oder wenigstens Gleichgesinnte gibt. Geisteskrankheit bleibt nicht notwendiger Weise auf ein Individuum begrenzt.
Für kollektive Formen des Wahnsinns hat Religion in der Geschichte immer wieder eine Rolle gespielt. Niemals, so sagte der Mathematiker und Philsosoph Blaise Pascal, niemals sei der Mensch so sehr bereit, Unrecht zu tun, wie dann, wenn er glaubt, es im Namen einer höheren Sache zu tun.
In diesem Sinne waren und sind die Religion und die Religionen immer wieder in Formen individuellen und kollektiven Wahnsinns verwickelt. Und dieser Umstand macht es schier unmöglich, heute über das biblische Motiv der Erwählung nachzudenken, ohne an den Schrecken auf der norwegischen Ferieninsel vom vergangenen Wochenende zu denken. Vielleicht macht es dieser Schreckens aber auch geradezu notwendig, über dies Motiv nachzudenken.
Exklusivität
Erwählung bedeutet Exklusivität. Es gibt ein Drinnen und ein Draußen. Die einen gehören dazu, die anderen nicht. Die einen haben’s, die anderen nun mal nicht. Das kann man, je nachdem von wo man schaut, sehr unterschiedlich gut finden.
Glaubt man den frühen Geschichten des biblischen Buches der Genesis, so findet der erste Mord der Menschheitsgeschichte in einer Art Vorstufe dieser Konstellation sein Motiv. Das Opfer Abels sieht Gott gnädig an, das des Kain nicht. Aus Eifersucht erschlägt der Kain den Bruder.
Schlimmer noch wird es, wenn nicht mehr Eifersucht, sondern Erwählungsbewusstsein selber zum Motiv wird. Die Jakobssöhne kaschieren den Mord an den Söhnen Sichems mit fadenscheinigen Motiven (Genesis 34). König David wähnt sich mindestens zeitweise über die allgemeinen Regeln von Anstand, Recht und Gerechtigkeit erhaben (2. Samuel 11). Elia erschlägt in vermeintlich gerechtem Zorn kurzerhand vierhundertfünfzig Baalspriester (2. Könige 18). Die Spuren des Glaubens, etwas Besseres und damit von einem allgemeinen Sittengesetz entbunden zu sein, ziehen sich viel zu deutlich durch die Geschichte der Menschheit, als dass die Bibel sie verschweigen könnte.
Nun dürfen wir zugunsten der biblischen Überlieferung annehmen, dass ein Großteil der dort benannten Mordtaten so gar nicht stattgefunden kann. Im Falle von Sichem dürfte mndestens das Ausmaß stark übertrieben sein. Im Falle der Zerstörung von Jericho, die nach dem vorliegenden Bericht in Josua 6 eine erhebliche Zahl an Todesofern gefordert haben müsste, zeigen neuzeitliche Ausgrabungsdaten, dass es sich eben nur um eine Erzählung, nämlich um eine sogenannteÄtiologie handelt. Zur Zeit, da das Volk Israel nach Palästina kam, muss die Stadt schon eine Ruine gewesen sein. Die Erzählung gibt also nicht ein historisches Geschehen wieder, sondern das Vorhandensein der Ruinenstadt bringt eine Geschichte von ihrer Enstehung allererst hervor.
Eines verbindet all die genannten Geschichten und die von Tyrannenmord, Notwehr und Nothilfe wie die von Judith und Holofernes. Es handelt sich um Literatur. Und soweit wir wissen, handelt es sich um Literatur, die zum allergrößten Teil enstand, als das Volk Israel fern der Heimat, nämlich im babylonischen Exil lebte.
Hier haben auch die Motive der Erwählung, der wunderbaren Rettung aus Ägyptenland, der Wüstenwanderung und ihrem glücklichen Ende im gelobten Land ihren wesentlichen Ursprung.
Es macht einen großen Unterschied, ob eine Geschichte von der Erschlagung der ägyptischen Erstgeburt im Exil erzählt wird, oder ob Vorsehung und Erwählung in Anspruch genommen werden, um im Namen vorgeblich höherer Werte Völker auszurotten, eine Welt in den Krieg zu stürzen oder ein Ferienlager der norwegischen Arbeiterpartei in ein Blutbad zu verwandeln.
In all den biblischen Geschichten – und seien sie aus historisch-kritischer Sicht noch so übertrieben, seien sie erfunden und eben „nur“ Literatur – spiegeln sich gleichwohl auch Abgründe und Möglichkeiten des Menschlichen.
Nun gibt es die ernstzunehmende These, es sei geradezu notwendig und ein Zeichen der Kultur, dass nämlich diese Abgründe und Möglichkeiten des Menschlichen nicht verdrängt werden können, sondern allererst in Kultur verwandelt werden müssen. Kultur brauche eben auch das andere, das Abgründige – möglicherweise auch Fiktion gewordene Überlieferungen von Hass, Entgrenzung und Gewalt.
Das mag sein. Gleichwohl kann sich die Religion nicht achselzuckend auf die Binsenweisheit zurückziehen, der Geisteskranke könne nun mal nicht zwischen Fiktion und Realität unterscheiden. Man mag sich gar nicht weiter ausmalen, was Sätze des Predigttextes in einem wahnhaft vernebelten Hirn anzurichten vermögen. „… und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen.“
Dass der Herr selbst vergilt, wird einer, dem die Unterscheidungen zwischen mythischen Motiven und allgemeinem Sittengesetz bereits abhanden gekommen sind, geflissentlich übersehen. Mit derlei Feinheiten wird sich der wahnhaft Kranke, sei er Kreuzzügler oder Dschihaddist, nicht aufhalten.
Die jüdisch-christliche Religion muss sich mit dieser Möglichkeit der wahnhaften Verirrung auch deshalb kritisch und selbstkritisch auseinandersetzen, weil sie bei aller Strenge der Unterscheidung auch selbst den Anspruch erhebt, die Wege zu dem, was noch nicht wirklich aber möglich ist, passierbar zu halten. Sie nennt das Verheißung. Und die Motive der Verheißung und der Erwählung sind eng verwandt. Kein ganz ungefährliches Gemisch, wenn es von den historischen Bedingungen abgelöst wird, in denen es beheimatet ist.
Erwählung und Gnade
Erwählung heißt nicht, sich für etwas besseres zu halten. Dass die Gefahr besteht, dies zu tun, hört man dem Predigttext mehr als deutlich an, dort nämlich, wo er ausdrücklich gegensteuert: Nicht hat euch der Herr angenommen und euch erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker – denn du bist deas kleinste unter allen Völkern -, sondern weil er euch geliebt hat.
Es ist kein Verdienst, erwählt zu sein. Erwählung ist nur zu verstehen, wenn man sie im Sinne einer Liebesgeschichte zu begreifen sucht. Dem oder der Einen gehört ein Gefühl, das eben nur ihm oder nur ihr zukommt. Insofern sind Liebesgeschichten exklusiv.
Nach innen hin aber entfaltet sich eine Form der Inklusion, der Einschließlichkeit, die auch für das Motiv der Erwählung wesentlich ist. Es mag für erste Verliebtheiten mancherlei äußere Anlässe geben, Aussehen, Witz und andere besondere Stärken. Wo eine wirkliche Liebesgeschichte daraus entsteht, wird diese gerade auch die Schwächen einschließen.
Das jedenfalls habe ich velen Brautpaaren erzählt, wenn sie sich Verse aus dem Hohenlied der Liebe (1. Korinther 13) zum Traspruch gewählt haben. Dass ich erkennen werde wie ich erkannt bin, wie es dort heißt, bedeutet doch wohl im Zusammenhang der Liebe gerade dies: dass ich nicht trotz meiner Fehler und Schwächen geliebt werde, sondern, wenn nicht gerade ihretwegen so doch in vollem Umfang mit ihnen.
Erwählung im Sinne unbedingter Liebe wendet den Blick von menschlicher Hybris hin zu einer Erfahrung, die wir jedem Menschen nur wünschen können. Der Liedermacher Reinhard Mey beschreibt eine solche Erfahrung in seinem Chanson vom Zeugnistag. Er habe aus Angst vor Schelte und Strafe ein sehr schlechtes Zeugnis kurzerhand selbst unterschrieben, was natürlich moralisch verwerflich und im rechtlichen Sinne Urkundenfälschung zu nennen ist – einmal ganz von der Frage abgesehen, wie es ihm gelungen sein könnte, den Eltern das Zeugnis so ganz vorzuenthalten . Als der Schwindel folgerichtig auffliegt, befreien ihn seine Eltern aus der Notlage, indem sie ohne mit der Wimper zu zucken angeben, die fraglichen Unterschriften selbstverständlich höchst eigenhändig geleistet zu haben. Die Moral des Sängers lautet: … ich weiß nur eins / ich wünsche allen Kindern auf der Welt / und nicht zuletzt natürlich dir, mein Kind, / wenn’s brenzlig wird, wenn schiefgeht, wenn die Welt zusammenfällt, / Eltern die aus diesem Holze sind. / Eltern, die aus diesem Holz geschnitten sind.
Erwählung ist eine Art „parteiischer Gerechtigkeit“. Was wie ein Widerspruch in sich klingt, kann in der Wirklichkeit sehr wohl gerecht sein, indem es nämlich einem Menschen im umfassenderen Sinn gerecht wird. Natürlich hat sich der obige Schüler eines Schwindels und – je nachdem in welcher Klassenstufe er den Schwindel begeht – sogar einer Urkundenfälschung schuldig gemacht. Wer aber den Sachverhalt mit den Augen der Liebe betrachtet, wird die Seelennot des Jungen sehen und damit mehr erkennen als moralisch oder rechtlich fragwürdige – und im übrigen zur Verschleierung eines Schulversagens untaugliche – Handlungsweisen.
Erwählung als Auftrag und Verheißung
Ein Kind mit dieser Form parteiischer Gerechtigkeit zu erziehen, ist selbst wiederum nicht ohne Risiken. Erziehungsratgeber haben derzeit Konjunktur, die davor warnen, dass wir eine Generation von Tyrannen heranziehen, weil wir als Eltern ihnen schuldig bleiben, sie mit den Grenzen vertraut zu machen, ohne die das Leben nicht funktioniert.
Auch diese Ratgeber mögen Recht haben. Erziehung ist ein weites Feld und wir als Eltern befinden uns dort wahrscheinlich ähnlich wie auf hoher See oder vor Gericht in Gottes Hand – auch wenn es sich manchmal so anfühlt wie in Teufels Küche. Es gibt aber eine biblische Geschichte, die uns ermutigt, das Risiko einzugehen, unsere Kinder bis an den Rand des Vernünftigen zu lieben.
Thomas Mann hat in seiner – der biblischen Geschichte kongenialen – Fassung der Josephsgeschichte das Selbstbewusstsein des jungen Joseph dergestalt beschrieben. Ein jeder habe ihn, so sei der junge Joseph überzeugt gewesen, mehr lieben müssen als sich selbst. Die Auswirkungen dieser pubertären Überzeugung trugen alle Anzeichen jenes Erwählungsbewusstseins, dass sich exklusiv nach Außen abgrenzt, Privilegien mit allergrößter Selbstverständlichkeit in Anspruch nimmt und dabei vor Kränkungen und Herabsetzungen anderer keineswegs zurückschreckt.
Das Leben jedoch verwandelt die Hybris des Heranwachsenden ind das Gefühl, von Gott in jedem Moment seines Lebens zu etwas ganz Besonderem bestimmt zu sein. Zu etwas ganz Besonderem allerdings nicht im Sinne des Ausschlusses aller anderen von diesem Segen, sondern für sie und mit ihnen.
In dem Gefühl, Gott habe gerade mit ihm etwas ganz besonderes vor, erträgt Joseph seine Sklavenzeit, Missgunst, Verrat und Kerkerhaft und vermag sich am Ende mit seinen Brüdern zu versöhnen. Im Moment, da er alle Mittel zur Vergeltung in seinen Händen hält, verzichtet er genau darauf. Er verzichtet mit der Begründung, dass er nicht wieder böse machen wolle, was Gott doch mit ihnen so gut gemacht habe.
Schluss
Der Gedanke, dass Gott gerade mit mir etwas ganz Besonderes vorhaben könnte, ist nicht schon an sich gut. Der schrecklichste der Schrecken kann eben gerade der Mensch in seinem Wahn sein.
Der Attentäter, der vor sechzehn Jahren Jizchak Rabin erschoss wähnte sich ebenso dazu ausersehen wie einst Kreuzzügler, die Piloten des 11. September 2001 oder der Attentäter von Stockholm. Selbst in manchen Geschichten der Bibel spiegelt sich noch die Möglichkeit dieses Wahns.
Die biblischen Motive von Verheißung und Erwählung jedoch erzählen eine ganz andere Geschichte. Nämlich die Geschichte der unbedingten Liebe, die sich nicht exklusiv und gegen andere gewendet versteht, sondern inklusiv, nämlich all das in sich aufnehmend, was ich bin. Und wenn all das, was an mir schwach und fehlerhaft ist, darin aufgenommen ist, dann kann es mich über mich selbst hinausführen. Vielleicht kann es mich sogar wie Josph zu einem besseren Menschen machen.
Israel hat, soweit wir sehen, die Quellgründe dieser Liebesgeschichte der Erwählung nie ganz vergessen. Es ist die Erfahrung der Erniedrigung und des Exils, in der die Erfahrung der Befreiung aus der Knechtschaft beschworen wurde, der wunderbaren Bewahrung in der Wüste und der wahrhaftigen Führung in das verheißene Land.
Das Volk der Juden hat mit diesem Gedanken und dieser Tradition noch manch anderes Exil überlebt. Es hat sein Schicksal als Volk damit zu deuten vermocht – manchmal auch angesichts immer neuer Bedrückungen mit dem Augenzwinkernd geäußerten Wunsch, ob Gott nicht auch einmal ein anderes Volk erwählen könnte.
Erwählung im biblischen Sinne ist kein Besitz und kein Privileg, nichts, dass sich gegen andere wenden ließe. Die Erwählung erhebt nicht über das allgemeine Sittengesetz, sondern ist eine besondere Verpflichtung die Gebote zu halten. Erwählung ist auch keine Garantie, dass man besser dran ist als andere. Es gilt, weil es eben eine Liebesgeschichte ist, das, was auch unser Trauversprechen formuliert: In guten wie in bösen Tagen.
Erst wer in aller Nüchternheit – und eben nicht im Wahn – sein Leben darin zu deuten vermag und sich selbst auferlegt, was das an gegenseitiger Verpflichtung bedeutet, könnte in diesem Bund ein besserer Mensch werden.
Dann ist die Erwählung, von der die Bibel spricht, mehr als nur ein Bund fürs Leben. Denn nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, sagt Paulus. Und er mein Gewalten und Mächte aller Art. Wohl auch die, die mit den Abgründen des Menschlichen zu tun haben.
Amen