Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23-34 von Matthias Loerbroks
16,23

Predigt zu Apostelgeschichte 16, 23-34 von Matthias Loerbroks

Die heutige Geschichte handelt – ermutigend und ermunternd für unseren Chor, aber auch für die übrige singende Gemeinde – von der befreienden Wirkung des Singens. Sie handelt aber zuvor davon, dass das Evangelium sich als geschäftsschädigend erweist. Und auch davon, wie sich Geschäftsleute dagegen wehren. Und wie sie sich dabei des Staates bedienen. Und wie sich dafür der Antisemitismus praktisch verwenden lässt.
Paulus und Silas, einer seiner Mitarbeiter, sind in Philippi, einer römischen Garnisonsstadt. Sie verbreiten dort ihr Evangelium, die frohe Botschaft davon, was Gott in und mit Jesus getan hat. Sie versuchen, Anhänger für Jesus zu gewinnen, Bundesgenossen für den Bund zwischen Gott und seinem Volk. Und sie halten sich zur dortigen jüdischen Gemeinde, gehen dort zum Gottesdienst und zum Gebet.
Doch wo immer sie gehen, stets folgt ihnen eine Sklavin, die einen Hellsehergeist hat. Und ihre Besitzer profitieren von dieser Hellseherei, setzen sie offenbar für Geld ein. Sie schreit unentwegt hinter Paulus und Silas her: diese Menschen sind Knechte des höchsten Gottes; sie verkünden euch den Weg der Befreiung. Viele Tage lang tut sie das. Paulus fühlt sich durch ihr Schreien so belästigt, dass er sich schließlich zu ihr umdreht und ihren Wahrsagegeist direkt anspricht: im Namen Jesu Christi gebiete ich dir: fahr aus von ihr. Und der Geist gehorcht, fährt sofort aus.
Doch was hat den Paulus so gestört an dem Geschrei? Es scheint doch, dass sie die Wahrheit sagt, wie sich das für Wahrsager gehört. Paulus und Silas verstehen sich selbst als Gottesknechte. Was ihm dennoch weh tut an der Verkündigung durch die Sklavin, ist ihr Zwangscharakter. Sie ist nicht frei, schreit nur heraus, was in ihr drückt, was sie quält. Zwang aber, Vergewaltigung, Unterdrückung, das verträgt sich nicht mit der frohen, befreienden Botschaft. Alle Zwangsbekehrungen waren darum nie Bekehrungen, und was Staatskirchen mit staatlichen Zwangsmitteln bewirkt haben, war jedenfalls nie ein frohes und freies Bekenntnis. Es ist auch heute kein gutes Zeichen, wenn Kirchen mithilfe staatlicher Gesetze ihre Anhänger zu etwas zwingen wollen, was die freiwillig nicht tun. Und es nützt den Kirchen gar nichts, Kinder und Jugendliche zu Aussagen zu drängeln, wenn die keine erfreuliche, erhellende, befreiende Bedeutung für sie haben.
Was die Sklavin herausschreit, ist kein frohes und kein freies Bekenntnis. So ist sie keine glaubwürdige Zeugin der Befreiungstaten Gottes. Sie erinnert eher an eine drogenabhängige Prostituierte, die nur unter Drogen ihre Arbeit erträgt, von der nicht sie, sondern ihr Zuhälter profitiert. Von diesem Zwangsregime will Paulus sie befreien, völlig unabhängig davon, ob er den Wortlaut ihrer Aussage richtig findet oder falsch. Und dabei fällt auf: Paulus nennt bei seiner Geistaustreibung einen Namen, der im Geschrei der Sklavin fehlte: den Namen Jesus Christus. Der höchste Gott – das ist abstrakt, das ist auch bloß quantitativ. Der Name Jesus Christus aber macht deutlich, dass dieser Gott gerade darin groß und hoch ist, dass er nicht bloß hoch ist, sondern bei den Niedrigen und Erniedrigten, den Mühseligen und Belasteten. Der Name des Menschen Jesus steht für die Menschlichkeit dieses Gottes.
Dass der Wahrsagegeist ausgefahren ist, bemerken auch die Herren der Sklavin. Für sie aber bedeutet das: ausgefahren ist ihre Hoffnung auf Gewinne. Das kommt uns, denke ich, bekannt vor: dass das große Wort Hoffnung beschränkt wird und verengt auf private Gewinnerwartungen. Und auch das kommt uns vielleicht bekannt vor: wenn Geschäftsinteressen gefährdet sind, wendet man sich am besten an den Staat und seine Organe, dass der sie durchboxt. Aber da macht es sich nicht gut, direkt zu sagen, diese Leute haben unsere Gewinnerwartungen ruiniert. Da sucht man besser eine allgemeine, möglichst etwas feierliche Anklage. Und da fällt ihnen ein, dass es sich bei Paulus und Silas um Juden handelt. Natürlich ist es Geschäftsleuten völlig egal, ob sie mit Juden oder Nichtjuden Geschäfte machen, solange sie Geschäfte machen. Aber wenn es opportun ist, wenn es gilt, Konkurrenten auszuschalten oder, wie hier, andere Störfaktoren, dann lässt sich der vorhandene Judenhass ausnutzen, auch etwas anstacheln: diese Leute sind Juden und bringen unsere Stadt in Aufruhr und verkünden eine Lebensweise, die uns – als Römern – ganz fremd ist. Also die ganz große, die patriotische Pose: wir sind wir und die sind fremd – keine Rede mehr von vermasselten Gewinnchancen.
Die Sache klappt: die Menge gerät in Tumult, wird zum Mob, und die staatlichen Befehlshaber befehlen, die beiden auspeitschen zu lassen. Die Sache klären kann man ja immer noch – die Juden erstmal zu verprügeln, wird schon nicht ganz falsch sein. An dieser Stelle beginnt unser Predigttext:
Viele Schläge versetzten sie ihnen und warfen sie in den Kerker und wiesen den Kerkerwächter an, sie sicher zu bewahren.
Da er diese Anweisung empfangen hatte, warf er sie in den inneren Kerker und sicherte ihre Füße im Block.
Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und sie priesen Gott mit Liedern; die Gefangenen lauschten ihnen.
Plötzlich aber geschah ein großes Beben, so dass die Fundamente des Gefängnisses wankten. Und sofort öffneten sich alle Türen und die Fesseln aller sprangen.
Der Gefängniswächter fuhr aus dem Schlaf und sah die geöffneten Türen des Kerkers. Er zog sein Schwert und wollte sich umbringen, weil er meinte, die Gefangenen seien geflohen.
Paulus aber rief mit großer Stimme: tu dir kein Übel an, denn wir sind alle da.
Er forderte Lichter und rannte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen
und er führte sie hinaus und sprach: ihr Herren, was muss ich tun, um befreit zu werden?
Sie sprachen: vertraue auf den Herrn Jesus und du wirst befreit werden – du und dein Haus.
Und sie sagten ihm das Wort des Herrn mit allen in seinem Haus
Und er nahm sie zu sich in jener Nachtstunde, wusch ihre Schlagwunden und wurde sofort getauft, er und die Seinen.
Und er führte sie hinauf ins Haus, bereitete ihnen den Tisch und jubelte mit seinem ganzen Haus, dass er einer geworden war, der Gott vertraut.
Die Wirkung dieses Lobgesangs ist erstaunlich: ein gewaltiges Beben, das die Grundfesten des Gefängnisses ins Wanken bringt, aber nicht zum Einsturz des Hauses führt, womit ja auch niemandem gedient, was auch kein Vorbild für unseren Chor wäre, sondern dazu, dass die Türen sich öffnen, Schloss und Riegel brechen, Ketten gesprengt werden. Ein wörtlich und materiell erschütternder Gesang, Musik mit Sprengkraft, Lieder, die befreien, entfesseln. Aber warum preisen Paulus und Silas Gott bzw. wofür? Sie hätten doch, im Innersten des Gefängnisses, die Füße im Block, gerade erst zusammengeschlagen, allen Grund, Klagelieder anzustimmen, zornige Anklagen, etwa: warum hast du mich verlassen? Oder: wie lange willst du noch zusehen, wie deine Feinde triumphieren?
Dieser Lobgesang ist nicht nur das Pfeifen im dunklen Wald, obwohl die beiden sicher auch Angst haben. Er ist vor allem eine entschlossene Nichtanerkennung dieses Gewaltregimes und seiner Folterknechte. Es wäre ja noch schöner, wenn wir uns von diesem Willkürstaat daran hindern ließen, unseren Gott zu preisen – das wäre zu viel der Ehre für ihn. Der Lobpreis dieses Herrn ist zugleich die Missachtung und Verspottung aller anderen Herren. Stellt euch die Gefängnisse im amerikanischen Süden vor, die nach Aktionen der Bürgerrechtsbewegung mit Demonstranten überfüllt waren, die laut „We shall overcome“ sangen, was ja nicht nur fröhliche Hoffnung ausdrückt, sondern auch eine Drohung.
Auch beim Lobgesang des Paulus und des Silas handelt es sich um Widerstand, um Machtausübung. Aus dem Munde der Kinder und Säuglinge, also der körperlich und gesellschaftlich Schwächsten, hast du eine Macht gegründet gegen deine Bedränger, heißt es in einem Psalm. Singen als Gegenmacht. Durch unser Singen und Beten, unser Lob Gottes verstärken wir die Macht und den Einfluss Gottes, tragen dazu bei, dass er die befreienden Taten tun kann, für die wir ihn preisen. Und umgekehrt: wir schwächen ihn, vermindern seine Macht durch unsere Vergesslichkeit und Mundfaulheit. Nicht nur Gott und seine Macht bestärken und stärken Paulus und Silas durch ihren Gesang, auch nicht nur ihre eigene Widerstandskraft, sondern auch ihre Mitgefangenen, von denen es ausdrücklich heißt, dass sie ihnen lauschten. Sie hören und spüren, dass da von einer Gegenmacht die Rede ist, gesungen wird; dass ihre Quäler nicht alle Macht haben. Meine Seele soll sich rühmen des HERRN, dass es die Elenden hören und sich freuen, heißt es in einem anderen Psalm.
Nicht erfreut, sondern völlig verzweifelt reagiert der Chef des Gefängnisses. Er greift zum Schwert, sozusagen zur Dienstpistole, um sich das Leben zu nehmen. Er wird Gründe haben. Bei seinen römischen Arbeitgebern ist in der Tat nicht damit zu rechnen, dass sie mit einer arbeitsrechtlich soliden Abmahnung reagieren, wenn ihm alle Gefangenen weggelaufen sind. Und der Tod dieses Bedrängers könnte ja durchaus ein Ziel und ein Erfolg dieser widerständigen Gesänge sein: eine Macht aus dem Munde der Unmündigen – deinen Bedrängern entgegen. Doch diese blitzartige Bereitschaft zum Selbstmord zeigt, wie gefangen dieser Gefängniswächter ist. Da sein Schwert offenbar nicht mehr taugt, andere in Schach zu halten, will er es gegen sich selbst richten. Er verurteilt sich selbst zum Tod, weil er meint, beruflich versagt zu haben. Eine ausweglose Lage, eine schreckliche Gefangenschaft. Der Mann ist selbst versklavt, einem Terrorregime unterjocht. Doch Paulus verhindert den Selbstmord, rettet dem gefangenen Gefängniswächter das Leben durch seine laute und mindestens kühne Behauptung, alle Gefangenen seien noch da. Und so kommt es zu der makabren, tragikomischen Situation, dass ein Gefängniswächter zu zweien seiner Gefangenen rennt, sich ihnen zu Füßen wirft, um sie zu fragen: was muss ich tun, um befreit zu werden?
Paulus und Silas empfehlen ihm, einem anderen Herrn zu vertrauen, sich ihm anzuvertrauen, dem Herrn Jesus, und sie erzählen von ihm. Auch dieser Unterricht, diese nächtliche Unterweisung hat erstaunliche Wirkung. Der Gefängniswächter wird befreit nicht nur zum Glauben, sondern auch zur Solidarität: er führt die Gefangenen ins Haus, versorgt ihre Wunden, bereitet ihnen den Tisch – und jubelt nun selbst, dass er einer geworden ist, der diesem Gott vertraut, der sich als Befreier einen Namen gemacht hat – und dass dies Vertrauen größer und stärker ist als seine Angst vor anderen Herren.
Das ist die biblische Hoffnung: dass Gottes Befreiungstaten nicht immer zum Tod der Unterdrücker und ihrer Folterknechte, Handlanger und Vollstrecker führen müssen; dass auch sie davon befreit werden, Unterdrücker zu sein, befreit vom Zwangsregime des Todes – des der anderen oder des eigenen. Und es ist die Verheißung des heutigen Sonntags Kantate, dass wir mit unserem Singen dazu beitragen; dass es befreiend wirkt und entwaffnend.
Amen.