Predigt zu Apostelgeschichte 17,22-28a von Walter Meyer-Roscher
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Predigt zu Apostelgeschichte 17,22-28a von Walter Meyer-Roscher

Konzerne bauen die Kathedralen von heute, Wirtschaftsunternehmen sind die sinnstiftenden Institutionen für die Zukunft. So hat sich der Architekt geäußert, der die Autostadt Wolfsburg direkt neben dem VW-Werk, der Wiege des legendären Käfers, entworfen hat. Die Pavillons, die diese Autostadt bilden, könne man auch als Tempel des Fortschritts ansehen, hat er gesagt. Wer, wenn nicht die großen Industrie- und Wirtschaftsunternehmen, biete denn heute noch Orientierung, hat er gefragt.

Auch auf die Frage, woran wir uns da orientieren sollen, hat er die Antwort gewusst: An der Suche nach der absoluten Sicherheit, am Streben nach Perfektion.

„Tempel des Fortschritts“ -  wir erleben eine neue Religion, die sich da ausbreitet, ihre Anhänger findet, Gläubige begeistert. Ich habe die Autostadt Wolfsburg mehrfach besucht und sie hat mich jedes Mal aufs Neue beeindruckt. Ja, sie ist schon ein sinnenfälliger Ausdruck unseres bis in die letzten Höhen und Tiefen technisierten Alltags, ein Tempel moderner Technikgläubigkeit.

Ich staune auch immer wieder, wenn ich die Skyline der Bankenmetropole Frankfurt sehe. Sie fasziniert besonders bei Nacht, wenn die Kathedralen globaler Geldströme den Himmel ausleuchten.

Aber sind diese Tempel des Fortschritts wirklich die allein sinnstiftenden und Orientierung bietenden Institutionen, die uns den Weg in eine menschwürdige Zukunft weisen? Ich habe da doch meine kritischen Fragen.

Die richten sich nicht  an die Weiterentwicklung der Technik, an den Fortschritt der Wissenschaft, an die Notwendigkeit globalen Wirtschaftsdenkens. Niemand kann aus diesen Entwicklungen aussteigen. Aber fragen muss man doch, wer sie steuert, wer die Maßstäbe setzt und welche Kriterien dabei maßgebend sein sollen. Nur die Suche nach der absoluten Sicherheit und das Streben nach Perfektion? Daraus sind doch längst eine gnadenlose Suche nach immer mehr Profit und ein hemmungsloses Streben nach Alleinherrschaft der Ökonomie über alle anderen Lebensbereiche geworden. Ein auf die eigenen Interessen fixierter, an sich selbst glaubender Egoismus gefährdet alle Gemeinschaftsorientierung. Solidarität mit den Schwachen, den Versagern und Verlierern wird auf den Altären dieser Tempel geopfert. Sollten wir nicht langsam beginnen, uns von den Altären einer neuen Religion, die sich als die heute und morgen allein selig machende propagiert, abzuwenden?

Die Frage nach den sinnstiftenden Institutionen für unsere Zukunft bleibt. Ich weiß auch, wo sie eine gültige Antwort findet. Viele wissen es und noch mehr ahnen es. Da ist noch ein anderer Altar, der seit zwei Jahrtausenden einlädt, sich an seiner Wirkungsmacht zu orientieren.

Die naheliegende Möglichkeit, sich an diesen Altar zurückzuziehen und die Anziehungskraft der neuen Religion einfach auszublenden, hat uns Paulus damals auf dem Areopag verbaut. Angesichts der vielen alten und vor allem neuen Tempel in Athen hat er für sich selbst und für die christlichen Gemeinden nicht an Rückzug in den Tempel seines Gottes gedacht. Nicht den noch engeren Zusammenschluss um den Altar in der eigenen Glaubensgemeinschaft hat er befürwortet.

Er selbst jedenfalls hat den sakralen Raum seines Glaubens verlassen und ist, um seine Fragen und seine Kritik an den faszinierenden Tempeln hörbar zu machen, auf den Areopag hinausgegangen. Dieser Platz unterhalb der Akropolis mit ihren Tempeln war Tagungsort des Hohen Gerichts, Diskussionsforum der Philosophen, Ort der Begegnung für alle, die die Öffentlichkeit suchen. In diese Öffentlichkeit der Gesellschaft mit ihren religiösen Traditionen, Gesetzen und Alltagsregelungen, mit ihren Diskussionen um die Glaubwürdigkeit ihrer Götter, um die Gestaltung ihrer Welt, um den Sinn ihres Lebens wagt sich der Apostel.

Hier will  er sich mit seinem Glauben einbringen. Er sagt, was er sieht: „Ich sehe, dass ihr die Götter in allen Stücken sehr verehrt“. Aber gesehen hat er auch einen Altar mit der Inschrift „Dem unbekannten Gott“. Gespürt hat er die Erkenntnis, dass Menschen schnell bereit sind, den Göttern, die sie verehren, immer mehr Macht über das eigene Leben zu geben. Gespürt hat er die Erfahrung, dass diese Besitz ergreifende Macht Opfer fordert:

die eigene Würde; die Freiheit, selbstverantwortlich zu denken und zu handeln; den Lebensmut, den ein Mensch eintauscht gegen die ewige Angst, den Ansprüchen der angebeteten Götter nicht gerecht zu werden und dafür den Verlust von Lebensqualität hinnehmen zu müssen, aus der Gemeinschaft derer, die sich vom Glanz ihrer Götter blenden lassen, ausgegrenzt zu werden.

Lohnen sich diese Opfer auf den Altären der alles beanspruchenden Götter? Die Frage bleibt wie auch die Sehnsucht, das Leben doch noch anders erfahren, Lebenserfüllung, Lebensglück noch jenseits des Machtbezirks der vielen Tempel finden zu können.

Die Sehnsucht, die Paulus meint gespürt zu haben, ist uns nicht fremd, wenn wir für unser eigenes Leben und auch für die Zukunft unserer Gesellschaft die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, Industrie und Wirtschaft mit bedenkend, mithandelnd, aber auch kritisch begleiten wollen. Niemand kann da einfach aussteigen. Auch den frommen Rückzug in unsere sakralen Kirchenräume würde Paulus uns verbieten. Aber wo angeblich sinnstiftende Tempel des Fortschritts errichtet und in ihnen die Götter einer neuen Religion angebetet werden, sollten wir uns zur Wehr setzen und vernehmlich Nein sagen.

Die Opfer, die diese Götter fordern, wollen wir nicht bringen, auch nicht gut heißen. Wir wollen doch menschenwürdig, sinnvoll leben und uns in eine mitmenschliche Gemeinschaft einbringen, in der alle ihren Platz haben.

Halten wir uns wieder an Paulus, der auf dem Areopag den unbekannten Gott als seinen Gott bekannt machen wollte. Paulus weist einen Weg, den er selbst eingeschlagen hat, als er den Worten und Taten, dem Leben des Jesus von Nazareth gefolgt ist. Der hat seinen Gott als Ursprung und Schöpfer allen Lebens gesehen. Und, so sagt Paulus: „Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, die mit Händen gemacht sind“. Da darf man getrost hinzufügen: Er wohnt auch nicht in den Tempeln des Fortschritts. Paulus gibt eine entscheidende Erfahrung aus dem Leben Jesu weiter:“ Gott ist nicht fern von einem jeden unter uns“. Er ist uns so nahe, dass wir in ihm „leben, weben und sind“. Ihm verdanken wir unser Leben.

Er ist der Grund des Lebens, die tragende Mitte, Anfang und Ende. Daraus erwächst eine Erfahrung, die uns hilft, auf jedem Wegabschnitt unser Leben zu bejahen: die Erfahrung von  Geborgenheit und Gelassenheit. Die Tempel des Fortschritts predigen Maßlosigkeit, hetzen uns von einem atemlosen Augenblick zum anderen: mehr haben, mehr erreichen, mehr sein. Nein, wir haben, was wir brauchen. Wir können die glücklichen Augenblicke genießen. Wir haben die Freiheit, uns für Gottes lebenserhaltende Gebote zu entscheiden. Auch in dunkleren Tagen soll uns der Lebensmut nicht verlassen.

Paulus nennt seinen Zuhörern den Grund für diese Hoffnung: die Erfahrung der Auferstehung Jesu, die Erfahrung von Ostern.

In den Tempeln des Fortschritts mag darüber gespottet werden wie schon damals in Athen auf dem Areopag: unglaublich, realitätsfern, nicht greifbar, abzulehnen.

In der Welt der Fortschrittsgläubigen, die sich in ihren Tempeln an das Machbare halten und deshalb die eigenen Kräfte, die eigene Macht, die eigenen Ziele anbeten, hat die Ostererfahrung der ersten Christen, hat die Hoffnung des Paulus keinen Platz.

Aber diese Erfahrung bewegt doch bis heute Menschen, die glauben. Was Jesus getan und gelebt hat, wofür er gestorben ist, wirkt weiter und muss auch weiterwirken – durch uns im Geist dieses Jesus. Das darf doch im Prozess des Fortschritts nicht verbannt und verfemt werden: Nächstenliebe und Barmherzigkeit, Gnade und Vergebung, Trost für die Trostlosen, Hinwendung zu denen, von denen man sich gern abwendet. Das hat Jesus auf seinem Weg begleitet: Der Zorn über Unrecht, die Wahrnehmung der Welt aus der Perspektive der Opfer. Seit Ostern wirkt dieser Geist weiter. In unserer Kirche soll er wach gehalten, durch uns in die Diskussionen auf dem Areopag unserer Gesellschaft eingebracht werden.

Wer in den Entwicklungsprozessen, die unser Leben und unser Zusammenleben in Atem halten, nach sinnstiftenden Institutionen und nach Orientierung fragt, sollte den Hinweis des Paulus ernst nehmen: Gott, der das Leben gegeben hat und mit seinen Geboten schützen will, ist nicht fern von einem jeden von uns. Wo wir uns vom Geist Jesu leiten lassen, wird uns der unbekannte Gott bekannt. In ihm leben, weben und sind wir.

Amen