Predigt zu Galater 4,4-7 von Isolde Karle
4,4-7

Predigt zu Galater 4,4-7 von Isolde Karle

Liebe Gemeinde,

(1) Weihnachten ist das Fest der Familie Gottes. Zunächst gehören zu dieser Familie die ganz konkreten Familien, die an Weihnachten zusammen feiern, singen, in die Kirche gehen, zusammen essen und trinken, sich beschenken lassen und Geschenke verteilen. Die meisten Menschen feiern Weihnachten im Kreis der Familie. Weihnachten ist die Zeit der Rituale, der Besinnung, des zu Hause seins. Selbst die erwachsenen Kinder kommen an Weihnachten wieder nach Hause, um mit ihren Eltern und Geschwistern zusammen zu feiern. Wenn möglich sind auch die Großeltern dabei, vielleicht auch eine alleinstehende Tante oder ein geschiedener Patenonkel. An Weihnachten will niemand alleine sein. Weihnachten ist das Fest der Familie und der Gemeinschaft. Weihnachten ist das Fest der Zugehörigkeit.

Gerade das macht Weihnachten für manche aber auch zum Alptraum. Für die schweizerische Schriftstellerin Sibylle Berg ist das so. Sie schreibt in einer Kolumne im Spiegel, wie sie Weihnachten zu entkommen sucht, wie sie vor den religiösen und sozialen Zumutungen und Erwartungen flüchtet, jedes Jahr aufs neue. Sie ist an Heiligabend zu Freunden gegangen, mit denen sie über „die Idioten in der Kirche“ gelästert hat. Sie ist in die Ferne oder auch ins Nachtleben geflüchtet. Das letzte mal ist sie allein daheim geblieben und bildete sich ein, dass das großartig sei. Bis die Glocken läuteten. Ich zitiere aus der Kolumne: „Jetzt gehen die Glocken los. Die Katholiken greifen an, ich möcht verächtlich den Mund verziehen. Die Idioten belächeln, die in die Kirche gehen, sich ein Märchen anhören... Aber ich schließe nur die Augen und höre den Glocken zu. Jeder Schlag hallt in mir, füllt mich aus. Bis ich keine Luft mehr bekomme, bis ich schreien möchte, weglaufen vor diesen Glocken, denn sie werden immer lauter und schlagen in meinem Körper wie gegen Wände aus Eis. Dann ist Ruhe, und ich weiß, was jetzt passiert, in tausend Wohnungen.“

Sibylle Berg beschreibt dann, wie sie sich die Bescherung und das gemeinsame Essen in den Weihnachtszimmern vorstellt. Sie tut es voll beißender Kritik und Ironie. Aber sie weiß zugleich ganz genau, dass sie sich dabei etwas vormacht. Ich zitiere weiter: „Lüg nicht, lüg dich nicht an. Was passiert, ist Heimat. Zu wissen, wo man hingehört. Ist Ruhe.... Morgen ist der erste Weihnachtstag und alles schläft, satt von Liebe, vom Braten, von der Erschöpfung.“ Wenn sie nach den Weihnachtstagen von den anderen gefragt wird, wie Weihnachten denn bei ihr war, dann weiß sie schon jetzt, dass es ihr nicht helfen wird, dass die anderen nach den ganzen Familienbesuchen und den vielen Essensvorbereitungen sie um ihr Alleinsein beneiden werden. Denn Weihnachten ist „zu wissen, wo man hingehört.“ An Weihnachten wird eine neue Gemeinschaft gegründet und in Szene gesetzt, eine Gemeinschaft, die weit über die eigenen Familienbande hinausreicht. So hat es Paulus gesehen. Ich lese als Predigttext Galater 4, 4-7:

„Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.“

(2) Paulus geht es um die Familie Gottes. Da ist der liebende göttliche Vater, der Sohn, der von einer Frau geboren wird, und wir, die Kinder Gottes. Die Familie Gottes ist ein Raum der Freiheit. Das ist die Botschaft des Paulus an uns. Vielleicht würde es Sibylle Berg weiterhelfen, vor diesem Hintergrund auch Weihnachten neu zu verstehen. Weihnachten ist nicht ein Raum der Beengung, der einem die Luft zum Atmen nimmt, ein Fest, das einen einzwängt in ein bürgerliches Korsett bedrängender Erwartungen. Weihnachten, das Fest der Familie Gottes, birgt vielmehr eine große innere Weite und Freiheit. Wie kommt Paulus zu dieser überraschenden Deutung?

Paulus redet nicht direkt von Weihnachten, er erwähnt lediglich die Frau, unter das Gesetz getan, die den Sohn Gottes gebar. Er nennt diese Frau nicht einmal beim Namen. An Maria hat er kein Interesse. Er spricht auch nicht von einem Kind, sondern vom Sohn Gottes. Seine Worte sind im Vergleich zum Lukasevangelium nüchtern-argumentierend und gar nicht poetisch. Keine Bilder vom Stall, von der Krippe, von der schwangeren Maria, vom gutmütigen Joseph, von der Herbergssuche, von den Hirten, Engeln oder Magiern beflügeln unsere Phantasie. Die paulinische Version der Weihnachtsgeschichte kommt ohne die vertrauten Bilder aus. Es fehlt jedes schmückende Beiwerk, jeder weihnachtliche Glanz. Nicht märchengleich ist die Zeitansage wie bei Lukas – „Es begab sich aber zu der Zeit“ –; es heißt vielmehr „als die Zeit erfüllt war“, als es höchste Zeit war, da sandte Gott seinen Sohn. Paulus erlaubt uns keine weihnachtliche Regression. Er führt uns in die Mündigkeit erwachsenen Glaubens.

Paulus stellt damit zugleich die Frage an uns, welche Bedeutung Weihnachten für unser Leben hat. Für Paulus liegt die Antwort auf der Hand: Weihnachten ist das Fest der Familie Gottes und diese Familie ist ein Raum der Freiheit. In der Familie Gottes gibt es keine Ausschlusskriterien qua Kultur, den Ritus oder die Volkszugehörigkeit mehr. In Christus schafft Gott eine Familie, die die Grenzen von Herkunft, Geschlecht, Ethnie souverän hinter sich lässt, eine Gemeinschaft, die einer befreienden Vielfalt von individuellen Begabungen und Persönlichkeiten Raum gibt, egal, woher jemand kommt, egal, was er an kulturellen oder religiösen Voraussetzungen mitbringt. Nur die Taufe ist der Schlüssel zu dieser neuen Familie, mehr nicht. Der Geist, der sich so direkt und vertrauensvoll an Gott wendet, dass Gott „Abba“, lieber Vater, genannt wird, ist nicht regressiv. Er ist ein Freigeist. Er führt in die Freiheit und in die Mündigkeit.

Die Familie Gottes wird durch den Geist Gottes ins Leben gerufen. Wir haben den Geist in der Taufe empfangen; er macht uns zu Erben der Verheißung, so formuliert es Paulus. Wenn jemand in einer Familie etwas erbt, dann gehört es ihm. Niemand kann ihm das Erbe mehr streitig machen. Ein Erbe will angenommen und gestaltet werden, es erfordert Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstsein. Ein Erbe anzutreten, braucht Mut und zwar den Mut zur Freiheit. Deshalb ruft Paulus uns dazu auf: Begebt Euch nicht wieder in falsche Abhängigkeiten, lasst Euch nicht einreden, dass ihr die Verantwortung nicht tragen könnt, sondern lebt Eurer Berufung zur Freiheit gemäß! Ihr seid frei – lasst Euch niemals mehr etwas anderes weismachen, gebt dem Geist der Freiheit Raum! An Weihnachten macht Gott klar, dass wir seine Erben, seine Kinder sind, dass wir – wie sein Sohn – zu seiner großen Familie gehören. Weihnachten ist zu wissen, wo man hingehört und durch diese Zugehörigkeit die Freiheit Christi zu erleben und weiterzutragen.

(3) Die Familie Gottes ist nicht nur ein Raum der Freiheit, sie ist auch ein Raum des Vertrauens, in dem man sich seiner Verletzlichkeit und Schwäche stellen darf. Sie befreit von den Zumutungen einer olympischen Kultur, die von uns immer nur Stärke, Disziplin und Leistungsfähigkeit abverlangt. Sie befreit uns auch von den repressiven Erwartungen, die wir oft genug selbst an uns richten.

Der Regisseur und Aktionskünstler Christoph Schlingensief verstarb 2010 an Lungenkrebs. Er schrieb ein Buch über seine Krankheit: „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ Darin erzählt er von einem Weihnachtsfest mit seiner Mutter. Er hatte schon in fortgeschrittenem Stadium Krebs und wusste, dass er nicht mehr lange leben würde. Er sitzt mit seiner Mutter am Weihnachtsmorgen zu zweit beim Frühstück. Da muss Schlingensief mit den Tränen kämpfen. Seine Mutter sitzt im Rollstuhl und will sich ihm zuwenden. Er geht auf sie zu und legt seinen Kopf auf ihre Schulter. Sie nimmt seine Hand. Das befreit ihn zu weinen. Er beginnt all die Dinge auszusprechen, die ihn so lange schon belasten. Er erzählt seiner Mutter, wie sehr es ihn in all den Jahren angestrengt hat, immer wieder Optimismus und Lebensfreude zu verbreiten. Immer wieder so zu tun, als ob alles ok sei. Und dass er das nicht mehr wolle. Er redet sich die ganze Last von der Seele.

Danach findet er zur Ruhe. Das Gespräch ist für ihn ein Weihnachtswunder, so schreibt er. Christoph Schlingensief hat in der Gemeinschaft mit seiner Mutter den befreienden Geist Gottes erlebt. Ihre Hand spürend wusste er wieder, wo er hin gehört. Er konnte sich frei machen von allem, was ihn quälte und bedrückte, auch von der Zumutung, den anderen gegenüber immer zuversichtlich und stark sein zu müssen. Er wollte das nicht mehr. Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Zu solcher Freiheit, der Freiheit des Vertrauens und der Verletzlichkeit, wurde Christus geboren und ist er in die Welt gekommen.

(4) Nietzsche hat dem Christentum vorgeworfen, dass es die Menschen klein mache, dass es sie verzwerge und immer nur auf ihr Leiden, ihre Sünde und ihre Schwäche anspreche. Doch die Familie Gottes macht die Menschen groß. Vor wenigen Tagen ist in Südafrika einer der beeindruckendsten Menschen des letzten Jahrhunderts unter der Anteilnahme sehr vieler Menschen begraben worden: der Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela. Er ist ein Vorbild für die ganze Welt geworden.

Nelson Mandela war ein gläubiger Methodist, der sein ganzes Leben dem Kampf für die Freiheit widmete. Er glaubte an die große Familie Gottes, an die Gemeinschaft von Schwarzen und Weißen, an die Überwindung von Rassenhass und sozialer Ungerechtigkeit, an die Kraft von Versöhnung und Freiheit. Es ist schwer vorstellbar, aber „Madiba“, wie er in Südafrika genannt wird, hatte auch nach 27 Jahren Haft noch den Mut und die Kraft an die Versöhnung zu glauben. Und er hat als erster schwarzer Präsident Südafrikas mit vielen eindrucksvollen Gesten und Initiativen sehr viel zu Versöhnung und Freiheit beigetragen. Mandela träumte von einer Regenbogennation, in der alle Ethnien als Kinder Gottes miteinander leben. Ich zitiere aus einer seiner Reden:

„Du bist ein Kind Gottes.
Wenn du dich klein machst,
dient das der Welt nicht.
Es hat nichts mit Erleuchtung zu tun,
wenn du schrumpfst,
damit andere um dich herum
sich nicht verunsichert fühlen.
Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit
Gottes zu verwirklichen, die in uns ist.
Sie ist nicht nur in einigen von uns,
sie ist in jedem Menschen.
Und wenn wir unser eigenes Licht
Erstrahlen lassen,
geben wir unbewusst anderen
Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun.
Wenn wir uns von unserer eigenen
Angst befreit haben,
wird unsere Gegenwart
ohne unser Zutun andere befreien.“

Christus, der Sohn, von der Frau geboren, hat uns zu einer Freiheit befreit, die groß macht, nicht klein. Es ist eine Freiheit, die uns nicht schrumpfen lässt, sondern aufrichtet. Es ist eine Freiheit, die nicht unsicher macht, sondern selbstbewusst. Es ist eine Freiheit, die uns den Mut gibt, uns unserer Verletzlichkeit zu stellen, eine Freiheit, die die Angst überwindet und das Licht erstrahlen lässt. Es ist die Freiheit der großen Familie Gottes. Amen.