Predigt zu Genesis 11, 1-9, Luise Stribrny de Estrada
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Predigt zu Genesis 11, 1-9, Luise Stribrny de Estrada

Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Sich verstehen – das ist gut! Sich zu verstehen ist ein Grund zu feiern. Das tun wir zu Pfingsten. Da versteht plötzlich eine den anderen, obwohl er aus einem fremden Land kommt. Da spielen die unterschiedlichen Sprachen keine Rolle mehr. Gottes Geist sorgt dafür, dass die Sprachbarrieren fallen. Ein Wunder!
Wirklich ein Wunder, denn sehr oft erleben wir etwas anderes. Verschiedene Sprachen schieben sich trennend zwischen uns, es fällt schwer, den anderen und das, was ihn geprägt hat, zu verstehen. Vor kurzem habe ich das bei einem Traugespräch erlebt. Als ich fragte, warum der Bräutigam aus der Kirche ausgetreten sei, erklärte mir die Braut, die Kirchensteuer sei ihm zu teuer und sie würden sowieso nie in die Kirche gehen. Ich antwortete, aber trotzdem sei es ihnen doch wichtig, dass an bestimmten Punkten ihres Lebens die Kirche für sie da sei, wie bei der Hochzeit oder auch bei einer Taufe. Das zu ermöglichen, koste einiges an Geld. Die Braut entgegnete, dass sie nicht planen würden, Kinder zu haben. Daraufhin ich: „Auch wenn ich keine eigenen Kinder hätte, wäre es mir wichtig, dass Kinder mit Kirche in Berührung kommen und in eine Gemeinschaft hineinwachsen können durch Taufe oder Kindergottesdienst.“ Die Braut entgeistert: „Aber wer macht das denn heute noch? Wen interessiert das noch? Ich glaube, wir leben in ganz verschiedenen Welten!“
Verschiedene Welten, verschiedene Sprachen. Braut und Bräutigam sind beide in Deutschland aufgewachsen, sind getauft und konfirmiert in der evangelischen Kirche. Aber das, was mich als Kirchenfrau bewegt, ist für sie so fremd, als käme ich von einem anderen Stern. Wir haben es schwer, zueinander zu kommen, weil wir uns in ganz unterschiedlichen Welten bewegen.
Auch unser Predigttext erzählt eine Geschichte vom Nicht-Verstehen. Es ist eine Gegengeschichte zu der Begeisterung und Harmonie von Pfingsten: die Geschichte vom Turmbau zu Babel. Hören wir jetzt aus dem 1. Buch Mose im 11. Kapitel:
„Es hatte aber alle Welt einerlei Zunge und Sprache. Als sie nun nach Osten zogen, fanden sie eine Ebene im Lande Schinar und wohnten daselbst. Und sie sprachen untereinander: Wohlauf, lasst uns Ziegel streichen und brennen! - und nahmen Ziegel als Stein und Erdharz als Mörtel und sprachen: Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder.
  Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe!
  So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.“
Mir fällt beim wiederholten Lesen des „Turmbaus zu Babel“ auf, dass viel von Angst die Rede ist. Die Menschen bauen den Turm aus Angst, sonst zerstreut zu werden, als Orientierungsmerkmal, das von weitem zu sehen sein soll. Die Ironie liegt darin, dass sie gerade deshalb zerstreut werden, weil sie den Turm bauen.
Aber nicht nur die Menschen haben Angst, auch Gott fürchtet sich. Er fühlt sich durch die Einigkeit der Menschen bedroht und sieht voraus, dass ihnen auch alles andere gelingen wird, wenn sie erst einmal den Turm fertig gestellt haben. Deshalb gebietet er Einhalt und verwirrt ihre Sprache, so dass keiner mehr den anderen versteht. Was der andere sagt, klingt nur noch wie unverständliches Gebrabbel, auf hebräisch: „Babel“. Gott erreicht damit sein Ziel, die Menschen hören auf, den Turm zu bauen, und zerstreuen sich in verschiedene Länder.
Was ist das für ein Gott, der uns in dieser Geschichte begegnet? Mich provoziert dieser Tyrann, der eifersüchtig über seine Macht wacht. Der von der Angst geplagt ist, seine Privilegien zu verlieren. Nein, das ist nicht mein Gott!
Mir hilft hier die theologische Kritik, die herausgearbeitet hat, dass diese Geschichte vom Anfang der Menschheit erklären will, wie die verschiedenen Sprachen entstanden sind. Die Menschen vor 3.000 Jahren stellten fest, dass die Nachbarvölker andere Sprachen hatten, die sie nicht verstanden, und fragten sich, warum das so sei. Sie entwickelten nach und nach die Geschichte vom Turmbau zu Babel, um zu erklären, dass es nach Gottes Willen die unterschiedlichen Sprachen geben soll. Er wollte so verhindern, dass die Menschen größenwahnsinnig werden. Heute wissen wir, dass es nie eine gemeinsame Ursprache gegeben hat. In verschiedenen Gegenden der Welt haben sich Sprachen entwickelt, weil alle Menschengruppen das Bedürfnis hatten, sich miteinander zu verständigen.
Ich sehe die Vielfalt der Sprachen als Reichtum an, nicht als eine Strafe Gottes. Mich fasziniert, eine neue Sprache zu lernen und damit in das Denken und die Kultur eines anderen Volkes einzudringen. Es wäre, finde ich, ein Verlust, wenn wir auf der ganzen Welt nur eine einzige Sprache hätten.
Das Wunder zu Pfingsten ist, dass die verschiedenen Sprachen verständlich werden. Sie verschwinden nicht, werden nicht eingestampft zu einem Einheitsbrei, aber die Menschen verstehen einander. Alle Gäste aus dem Ausland, die sich in Jerusalem versammelt haben, hören die Jünger Jesu in ihrer jeweiligen Sprache reden: griechisch, lateinisch, persisch, ägyptisch und noch viele mehr. Sie wissen, dass diese galiläischen Fischer diese Sprachen nicht gelernt haben können. Wie das auch immer zugeht, auf jeden Fall hört jeder in seiner Muttersprache, was die Jünger von Tod und Auferstehung Jesu erzählen. So geht es ihnen direkt zu Herzen. Sie lassen sich anrühren und dann auch taufen.
Diese neuen Christen wachsen zu einer Gemeinschaft zusammen. Sie treffen sich täglich zum Gottesdienst, feiern das Abendmahl und teilen miteinander, was sie zum Leben brauchen. Das klingt wunderbar und ist ein Vorbild für alle christlichen Gemeinden, auch heute noch. Streitigkeiten blieben damals nicht aus, nicht alles war ideal, aber es trägt der Glaube an Jesus Christus, der alle eint. Daraus erwächst eine Gemeinschaft, die auch die Menschen beeindruckt, die nicht dazugehören. Die junge Gemeinde setzt sich für diejenigen ein, die sonst in der Gesellschaft verachtet werden: die Armen, die Kranken und die Frauen. Sie gehören als gleichberechtigte Mitglieder zur Gemeinschaft dazu.
Auch heute erleben wir, dass Menschen sich gemeinsam für etwas einsetzen. Viele, nicht alle, werden dazu durch ihren christlichen Glauben ermutigt. Ich denke an die Bewegung gegen Atomkraft, die es mit langem Atem geschafft hat, dass in Deutschland die Atomkraftwerke tatsächlich stillgelegt werden. Dafür haben Menschen sich zusammengeschlossen und nicht auseinanderreißen lassen, so haben sie schließlich die anderen überzeugt. Sie hatten unterschiedliche Motive: Die einen setzten sich ein, weil sie Christen sind und die Schöpfung bewahren wollen, die anderen, weil sie zur Ökologiebewegung gehören. Die einen, weil sie selbst gefährdet sind durch ein Atomkraftwerk in der Nähe, die anderen, weil sie generell skeptisch gegenüber dem sind, was von oben beschlossen wird. Schließlich haben sie es alle zusammen erreicht, dass erneuerbare, umweltfreundliche Energien gefördert werden.
Ein Funke von Pfingsten, vom Geist Gottes? Ich denke, ja. Es ist etwas besonderes, dass Menschen, die eine unterschiedliche Herkunft haben, sich verständigen und für dieselbe Idee einsetzen. Und wenn das gelingt, was sie anstreben, ist es ein Wunder.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft,
  bewahre eure Herzen und Sinne
  in Jesus Christus.
  Amen.
Perikope
Datum 13.06.2013
Bibelbuch: 1. Mose
Kapitel / Verse: 11,1
Wochenlied: 125 129
Wochenspruch: Sach 4,6