Predigt zu Genesis 50, 15-21 von Eva Rincke
50,15

Predigt zu Genesis 50, 15-21 von Eva Rincke

Liebe Gemeinde!
Sie haben nicht die Wahrheit gesagt. Josefs Brüder haben etwas behauptet, was so nicht gewesen ist.
Es war erst nur ein Verdacht, aber er hat sich bestätigt. Ich habe mir das Vergnügen gegönnt und noch einmal die ganze lange Geschichte von Josef und seinen Brüdern gelesen, die in keiner Kinderbibel fehlt. Ein schönes literarisches Goldstück, an dessen Ende aber mitnichten der Vater Jakob seinen Söhnen den Auftrag erteilt, bei Josef um Vergebung zu bitten.
Man kann natürlich sagen: Niemand kann wissen, was wirklich gewesen ist. Das ist ja klar. Aber darum geht es auch nicht, sondern darum, wie uns die Dinge dargestellt werden.
Nämlich so: Jakob segnet seine Söhne, bevor er stirbt. Jeden einzelnen Namen nennt er und verbindet diesen Segen mit einem Blick auf ihren Charakter, was ihnen einigen Stoff zum Nachdenken gegeben haben dürfte. Außerdem spricht Jakob über den Ort seines Begräbnisses.
Wir hören also in den langen letzten Kapiteln des ersten Buches Mose von einem sterbenden Mann, der weiß, worauf es jetzt noch ankommt: Abschied nehmen, die Kinder in die Zukunft weisen. Und ein Grab bestimmen.
Mehr wird nicht gesagt über Jakobs Worte. Es bleibt dabei: Die Brüder haben nach dem Wortlaut der Geschichte nicht die Wahrheit gesagt. Sie haben den Auftrag ihres Vaters, Josef um Verzeihung zu bitten, einfach erfunden.
Als sie jung waren, wären sie fast zu Mördern an Josef geworden und hatten ihn dann „nur“ in das ferne Land Ägypten als Sklaven verkauft. Sie haben über Jahre ihren Vater betrogen mit ihrer Lügengeschichte über den Verbleib seines Lieblingskindes Josef. Kommt zu diesem ganzen Übel jetzt noch eine vorsätzliche Falschbehauptung, mit der sie nur sich selbst retten wollen?
Mit der Josefs-Geschichte tauchen wir tief ein in die Gefühlswelt einer großen Familie. Beschönigt wird nichts. Da ist, ganz am Anfang, der Vater, der unter seinen vielen Kindern eins sehr klar vorzieht. Da ist das Kind, das sich in diesem Glanz sonnt und seine besondere Stellung gegenüber den Brüdern ausspielt. Geschwister sind da, die das nicht aushalten und vor Neid sogar vor einem Verbrechen nicht zurückschrecken. Da ist die Lüge der Brüder ihrem Vater gegenüber, die sie jahrelang aufrecht erhalten. Da ist das gebrochene Herz des Vaters.
Jahre später kommt man wieder zusammen. Es gibt den großen Moment, in dem die Brüder vor sich selbst ihre Schuld eingestehen. Später kommt eine große Versöhnung. Alles wird wieder gut, alle haben, was sie brauchen. Neid ist Vergangenheit, und darum kann alles friedlich sein.
Bis der Vater gestorben ist. Da kommt die Angst wieder hoch. Die Brüder sprechen: „Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.“ Sie fürchten, dass die Versöhnung um des Vaters willen geschehen sein könnte. Sie wissen, dass das Leid, das sie Josef angetan haben, noch immer ungesühnt ist. Sie trauen sich noch nicht einmal, mit Josef selbst zu sprechen, sondern lassen ihm ihre ausgedachte Geschichte ausrichten: „Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, die sie so übel an dir getan haben.“ Die Angst der Brüder ist so groß, dass sie den Vater so aussehen lassen, als würde auch er geglaubt haben, nach seinem Tod könne Josefs Rache entbrennen. Als würde auch der Vater gemeint haben, dass die Versöhnung nur um seinetwillen geschehen war und dass sie darum nach seinem Tod auf tönernen Füßen stehen würde.
Gerissen und gleichzeitig verzweifelt erscheinen die Brüder; um sich selbst besorgt, aber längst nicht mehr gewaltbereit. Ein bisschen bemitleidenswert. Auch ein bisschen unerwachsen.
Wer die Geschichte liest, kennt den Trick der Brüder und weiß auch, dass Josef nichts davon weiß. Wer die Geschichte liest, könnte an dieser Stelle hoffen, dass Josef ihnen nicht auf den Leim geht oder sie wenigstens noch einmal so gründlich an die Kandare nimmt wie wenige Kapitel zuvor.
Das aber passiert nicht. Josef lässt es gut sein. Seine Antwort hat vier verschiedene Aspekte.
Zuerst wendet er sich an seine Brüder und erlöst sie aus ihrer jämmerlichen Situation mit den berühmten drei Worten: „Fürchtet euch nicht!“ Dieser Satz gehört in der Bibel oft Gott und seinen Engeln, aber immer wieder sagen ihn auch Menschen. Drei Worte der Beruhigung, des Friedens und der Zukunft.
Als zweites lenkt er den Blick auf sich selbst: „Stehe ich denn an Gottes Statt?“ Mit dieser Frage verweigert er nicht die erneute Versöhnung, denn die ist ja schon durch den ersten Satz deutlich geworden. Josef macht klar: Kein Mensch kann in dieser langen, schuldbeladenen und verwickelten Familiengeschichte einen Ausgleich herstellen. Es ist unmöglich. Der Ausgleich ist allein Gottes Sache.
Danach und als drittes fasst Josef die gemeinsame Geschichte zusammen: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Die Schuld wird klar ausgesprochen. Der Plan der Brüder war böse. Aber er kam nicht gegen Gottes Plan an.
Als viertes nennt Josef das Ziel der ganzen Geschichte: „… zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ Darauf, sagt er, zielte alles. Jede Verwicklung der Geschichte führte schließlich zu diesem einen: Leben für das Volk Gottes.
Innerhalb der Geschichte wird jetzt klar, was von dem vorgetäuschten Auftrag der Brüder zu halten ist: Er ist völlig ohne Belang. Sie bitten um etwas, was Josef ihnen schon gegeben hat. Ihre Lage verbessert sich durch ihren Trick nicht; sie haben sich nicht „bereichert“.
War es also überflüssig, dass sie überhaupt um Vergebung gebeten haben? Vom Ausgang her betrachtet schon, denn vergeben ist vergeben. Allerdings gäbe es ohne ihre Bitte um Vergebung den letzten Satz von Josef nicht, in dem klar wird: Er hat ihnen nicht um ihres Vaters willen vergeben, wie sie geglaubt haben, sondern weil er sich in der Macht Gottes geborgen gefühlt hat. Der Grund der Vergebung liegt also für Josef außerhalb der Familienverhältnisse in seiner Beziehung zu Gott.
„Gott gedachte es gut zu machen.“ Das finale Wort und der krönende Abschluss, kurz bevor in der Josefs-Geschichte der Vorhang fällt.
Ich frage mich, wer von Ihnen und Euch alles schon gedacht hat: „Zu schön, um wahr zu sein. Außerdem hat der Josef eine prima Ausgangslage für große Worte am Schluss. Als mächtigster und reichster Mann im Lande gleich nach dem Pharao dürfte es ihm nicht allzu schwer fallen, seinen Brüdern großzügig gegenüberzutreten. Aber das ist nicht der Normalfall. Normal ist, dass ein Schaden bleibt – und nicht, dass erlittenes Leid einen an die Spitze der Gesellschaft spült.“
Das jedenfalls war mein zweiter Gedanke beim Lesen. Erst war ich wie schon oft gerührt über die Größe dieser Worte. Was für eine Geste! Dann aber, beim Drehen und Wenden, wurde mir unbehaglich. Und dieses Unbehagen kam von der Vorstellung, aus der Geschichte eine allgemeine Empfehlung herauslesen zu sollen. Ich habe zu viele Lebensgeschichten gehört, in denen es mit Vergebung schwierig war. Biographien, in denen um Vergebung schwer gerungen wurde und in denen gelitten wurde, weil es Vergebung nicht gab. Diesem Wissen will ich nicht untreu werden, indem ich sage: Macht es doch einfach wie Josef!
Und nun? Ich meine: Die kleinen Sätze helfen. Wenn man die kleinen Sätze nachempfinden kann oder nachmachen, was in ihnen geschieht, kommt Vergebung in Reichweite:
Josefs Brüder finden einen Weg aus ihrer Furcht, auch wenn es kein schnurgerader und vollkommen aufrichtiger Weg ist. Sie denken sich was aus, und es funktioniert.
Der große Josef weint, bevor er spricht. Ein Moment ohne Worte, ohne Heldentum. Ganz bestimmt ein Moment der Nähe.
„Und Josef redete freundlich mit ihnen.“ Vielleicht Belanglosigkeiten. Oder Pläne. Oder Fragen. Egal. Er redete freundlich. Der Ton macht die Musik.
Josef und seine Brüder: Die Geschichte ist groß, weil sie auch klein ist. Helden können sich in ihr was abschauen. Und alle, die es damit nicht so haben, können zwischen den großen Gesten merken: Vergebung kann auch klein aussehen. Es kann sein, dass sie stumm stattfindet. Es kann sein, dass sie sich alltäglich anhört. Das ändert nichts daran, dass sie ist, was sie ist: Ein Gottesgeschenk.
Amen.