Predigt zu Hebräer 12,12-18.22-25 von Frank Zeeb
12,12-18.22-25

Predigt zu Hebräer 12,12-18.22-25 von Frank Zeeb

Liebe Gemeinde,

es kann einen manchmal schon nerven. Da geht man in einen Buchladen, um sich die Neuerscheinungen anzusehen. Vielleicht ist ja etwas Spannendes dabei, ein gutes Buch, von dem man sich anregen, inspirieren lassen kann. Oder ein Buch, bei dem man die Seele baumeln lassen kann. Ich gestehe gern, dass es für mich nicht immer die hohe Literatur sein muss, sondern auch einmal ein historischer Roman. Oder ein guter Krimi. Ich selbst liebe zum Beispiel Regionalkrimis. Und was findet man im Neuigkeitenregal? Ratgeber. Ratgeberliteratur ohne Ende. 15 Kilo in nur sechs Monaten. Ratgeber für Kindererziehung, Partnerschaft, Karriereplanung, Wellness, Work-Life-Balance und noch mehr. Vielleicht empfinde ich es aber auch nur deswegen als nervig, weil das neue Jahr gerade erst drei Wochen alt ist und meine guten Vorsätze langsam wieder – wie jedes Jahr – dem Alltag weichen. Da kann ich keine Belehrungen gebrauchen, wie ich mein Leben vielleicht doch noch in den Griff bekomme.

Dabei glaube ich keineswegs, dass ich keinen guten Rat gebrauchen könnte. Niemand ist allwissend und das Leben ist so kompliziert. Da kann ein guter Rat immer wieder hilfreich sein. Es gibt eine ganze Reihe von Büchern, die ich immer wieder gerne zur Hand, wenn ich in einer Sache nicht weiter weiß oder über etwas gerne mehr wissen möchte. Der Hebräerbrief möchte eine Art Ratgeber sein. Er ist geschrieben an eine Gemeinde, die dringend einen guten Rat braucht. Er versteht sich als ein Lebensbegleiter, als eine Art Wanderführer, der diese frühen Christen an der Hand nimmt. Er möchte sie entlang der alttestamentlichen Reise des Volkes Israel durch die Geschichte führen, hin zu dem großen Ziel. Dabei weiß er wohl um die Durststrecken und die steinigen Wege, die harten Aufstiege in praller Sonne. Lassen Sie uns daher den Predigttext wie einen Wanderführer ansehen. Da wird eindrücklich geschildert, worauf es am Wegesrand zu achten gilt. Und es steht auch ausdrücklich da, dass man immer weiter gehen muss, sonst wird man das angestrebte Ziel nie erreichen. Klar, dass es auf dem Weg auch Überraschungen gibt. Das Ziel aber, das kennen wir am Beginn des neuen Jahres, nämlich aus der Jahreslosung vom Vorjahr. Es ist nicht irgendeine bleibende Stadt, ein Ort, an dem man sich einstweilen niederlassen kann, und der auch noch da sein wird, wenn wir weitergezogen sind. Vielmehr sind wir unterwegs zu der zukünftigen Stadt, die wir suchen. Um es mit einem Songtext von Xavier Naidoo zu sagen, der als Christ vielleicht den Hebräerbrief vor Augen hatte: „Dieser Weg wird kein leichter sein // Dieser Weg wird steinig und schwer // Nicht mit vielen wirst du dir einig sein // doch dieses Leben bietet so viel mehr”. Aber es ist – ganz im Sinne des Themas am heutigen Sonntag, der Weg auf ein Fest hin.

Machen wir uns also auf den Weg. Die erste Station, an der wir unseren Wanderführer zu Rate ziehen, ist mitten auf der Reise. Es ist ein Ort, an dem man schon müde ist, matt. Vielleicht  haben wir eine Felsklamm durchwandert, die eine gewisse Trittsicherheit und höchste Konzentration er­fordert hat. Kein Wunder, dass unsere Knie zittern, nach der Anstrengung. Wir brauchen eine Stär­kung. Die verspricht uns auch der Wanderführer. Er verpackt sie als Aufforderung, „stärkt die müden Hände und die schwankenden Knie“, gemeint ist eine Einladung, eine Verheißung. Es ist näm­lich ein Zitat aus dem Alten Testament, da sind solche Sätze von Gott selbst gesagt und sind als Zusage ge­meint. In Situationen, in denen das Volk Israel nicht mehr weiter weiß, in denen es an sich selbst und seinem Gott verzweifelt, sind immer wieder Propheten aufgetreten, die den Verzagten mit diesen und ähnlichen Worten Mut zugesprochen haben. Die Gemeinde des Hebräer­briefs war in einer solchen Lage der Verzweiflung. Sie ist müde geworden. Die Begeisterung der ersten Genera­tion über die frohe Botschaft, über die guten Gaben Gottes lässt langsam nach und ist einer fragenden Haltung gewichen: Was soll's? Was bringt's? Macht es überhaupt noch Sinn, an der christ­lichen Hoffnung festzuhalten? Dazu kommt, dass die Staatsmacht auf die kleine Gemeinde auf­merksam wird. Die ersten Verfolgungen drohen am Horizont. Und die ersten Gemeinde­glieder beginnen zu resignieren. Sie gehen nicht mehr regelmäßig zum Gottesdienst, kehren gar zu­rück zu den Glaubensgemeinschaften, aus denen sie gekommen sind. Da ist guter Rat teuer. Unser Ratgeber, der Hebräerbrief, wählt die alttestamentlichen Worte, um Mut zuzusprechen. In einem dieser Mutmachworte, beim Propheten Jesaja, ist die Zusage verbunden mit dem Bild einer Quelle, aus der man umsonst trinken und sich erfrischen darf. Das mag auch uns auf unserer Wan­derung gesagt sein. Wenn unser Weg steinig wird, wir matt und müde werden, lädt Gott uns ein, aus der Quelle zu trinken, uns an seinem Wort zu erfrischen, und dann gestärkt weiter zu ziehen.

Die zweite Station, an die uns unser Weg führt, ist ebenfalls ein schwieriger Ort. Im Wanderführer findet sich ein ausdrücklicher Warnhinweis. Im Bild von der Wanderung stellen wir uns vielleicht eine große Lichtung vor, die einen weiten Blick zulässt, aber man sollte besser nicht zu nahe hingehen. Es besteht nämlich Absturzgefahr. Familien mit Kindern sollten aufpassen, denn Kinder naschen gerne von den Früchten, die sie hier finden, die sind aber nicht bekömmlich. Also ein durchaus verlockender Platz, aber man sollte sich eben nicht auf die Verlockungen einlassen. Mit den Worten des Predigttextes: Passt auf, dass die „bittere Wurzel“ nicht Schaden bei euch anrichtet. Gemeint ist in der Ursprungssituation vermutlich die Verlockung, den Glauben nicht mehr ganz ernst zu nehmen. Oder die Verlockung, bei Schwierigkeiten einfach von der Gemeinde wegzubleiben – vermutlich gar nicht einmal ein Problem, das uns Heutigen ganz fremd ist. Eine bittere Wurzel ist das, sie sieht auf den ersten Blick ganz adrett aus, und wahrscheinlich merkt man zuerst gar nicht, was sie alles anrichten kann, aber ihr Gift breitet sich schleichend aus. Es ist das Gift der Zersetzung, das sich langsam breit zu machen droht in der Gemeinde. Der Hebräerbrief ist da relativ radikal. Er geht davon aus, dass der Mensch nur eine Chance hat. Wenn er sich einmal vergiften lässt, dann ist es vorbei, dann gibt es keine Rettung mehr. Martin Luther hat deshalb den Hebräerbrief recht kritisch betrachtet und gesagt, hier ist doch viel Heu in diesem Buch. Er geht davon aus, dass ein getaufter Christ immer wieder die Chance zur Umkehr hat – und doch, er muss um die Verlockung wissen und er soll versuchen, ihr zu widerstehen. Bleibt die Frage, was geschieht, wenn das nicht gelingt. Menschen sind ja schwach und schaffen nicht immer, das zu tun, was sie tun sollten, auch wenn sie wissen, was „eigentlich“ richtig ist. In diesen Gedanken wandern wir weiter. Wir haben den Ort der Gefahr überstanden, aber mit einem zwiespältigen Gefühl. Es hätte auch schiefgehen können … Der dritte Ort, an den wir gelangen, gibt uns vielleicht Antwort auf unsere Fragen.

Dieser dritte Ort ist eine Art Denkmal. Wir werden an eine Person aus der Vergangenheit erinnert, an Esau. Esau war der Bruder Jakobs, also ein Enkel Abrahams. Er hat sich verlocken lassen von dem, was auf den ersten Anblick erstrebenswert schien. Er hat mit leichter Hand seinem Bruder sein Erbrecht versprochen, im Gegentausch für einen Teller Suppe, das so genannte Linsengericht. Die Folgen waren in der Tat entsetzlich. Esau musste für den Rest seines Lebens unstet hin und her wandern, immer auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens, und immer auch am Rand der Gesellschaft. Esau erinnert uns darin, wie ein Leben misslingen kann. Er sucht mit Tränen nach dem, was er in einem unbedachten Moment verspielt hat. Der Hebräerbrief ist auch da rigide. Er sagt „Pech gehabt“ und „selber Schuld“. Fragt man den Hebräerbrief, was das Denkmal für Esau hier am Wegesrand uns sagen will, dann würde er sagen: Das steht uns zur Warnung da, damit wir es nicht so machen wie Esau. Es gibt ein '“zu spät“, das will uns die Geschichte von Esau lehren. Schauen wir aber genauer in den Wanderführer, dann hat das Denkmal noch einen weiteren Sinn. Die Geschichte von Esau geht nämlich noch weiter. Sie endet nicht im Chaos und die Verwerfung ist nicht das letzte Wort. Jakob und Esau versöhnen sich am Ende. Esau findet am Ende der Geschichte doch seinen Frieden und er wird sogar – für das Alte Testament ist das ein hohes Lob – Stammvater einer ganzen Reihe von Königen. Das will uns also das Denkmal von Esau auch sagen. Menschen mögen schuldig werden, Leben kann misslingen, aber bei Gott gibt es auch eine weitere Chance, auch für die Menschen, die sich bewusst und vielleicht sogar absichtlich abwenden. Esau hat unter Tränen die Buße gesucht und – im Gegensatz zum Wortlaut des Predigttextes – auch gefunden. Das Geschenk der Rechtfertigung kann auch den Esaumenschen unter uns zuteil werden. Die Schuld ist groß, aber Gottes Zuwendung ist noch größer. Gibt es ein „zu spät“? Bei Gott wäre das auf jeden Fall später als unser menschlicher Verstand meint.

Wenn wir nun das Esau-Denkmal verlassen und weitergehen, dann sind wir schon kurz vor dem großen und verheißenen Ziel, dem Höhepunkt unserer Wanderung durch die Geschichte von Gott und den Menschen. Das Ziel ist der Berg Zion. Viele Menschen machen sich dorthin auf, Menschen aus verschiedenerlei Umfeld, aus allen Völkern und Religionen, denn es ist der Ort, an dem nach altem Glauben Gott selbst erscheint und das große Fest ausrichtet, auf das die ganze Welt zulebt. Wenn Gott unter uns ist, so erzählt es Jesus oft, dann ist das wie eine Hochzeit, wie ein Freudenfest. Die erlesensten Köstlichkeiten werden da gereicht, man darf von allen Gaben essen und trinken, so viel man mag. Und vor allem ist es ein Fest der Gemeinschaft. Gott selbst ist der Gastgeber, der für jeden ein gutes Wort hat. Und es herrscht eine Atmosphäre der Freude unter allen Anwesenden. So viele gute Gespräche. So viel gutes Miteinander. So gute Stimmung und so viel Liebe in der Gemeinschaft. Eia, wärn wir da. Weit ist es nicht mehr, sagt der Wanderführer ...

Drei Dinge nehme ich mit aus unserer Wanderung, die uns mit verschiedenen Menschen und mit ganz unterschiedlichen Lebens- und Glaubenssituationen ins Gespräch gebracht hat.

Zum einen: Ich will meinen Weg nicht absolut setzen, sondern achtsam und solidarisch sein mit den Menschen, die anders als ich selbst unterwegs sind. Vielleicht ein anderes Tempo haben oder das Ziel auf einem anderen Weg zu erreichen suchen.

Zum zweiten: Ich will mich nicht erheben über andere oder über die Kirche. Wenn ich sehe, dass die Kirche müde und matt geworden ist, dass sie nach Sinn sucht wie Esau, dass mancherlei bittere Wurzeln in ihr festzuwachsen drohen, dann will ich sie nicht verachten, sondern mein Teil dazu beitragen, dass sie sich wieder aufmacht und ihren Weg mutig und stark geht im Vertrauen auf ihren Herrn.

Und drittens und wichtigstens: Ich will nicht über die Steilheit des Weges und über die schlechten Straßenverhältnisse lamentieren, sondern will den Blick richten auf das Ziel, will mich freuen auf das große Fest und den Weg dorthin als einen Weg der Vorfreude gehen: „Wir sind noch nicht im Festsaal, sagt Ernesto Cardenal, „aber wir sind eingeladen. Wir sehen schon die Lichter und wir hören die Musik.“ Amen.