Predigt zu Johannes 10,11-16(27-30) von Helmut Dopffel
10,11-30

Predigt zu Johannes 10,11-16(27-30) von Helmut Dopffel

11 Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. 12 Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht - und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -, 13 denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. 14 Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, 15 wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. 16 Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden.

27 Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; 28 und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. 29 Mein Vater, der mir sie gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen. 30 Ich und der Vater sind eins.

Liebe Gemeinde,

Nein, ich bin kein Schaf. Und nein, ich will auch keines sein. Aber einen Hirten hätte ich doch gerne, wenigstens manchmal. Eine oder einen, der oder die auf mich aufpasst, mich ermutigt, mir einen guten Rat gibt und sich auch mal in den Weg stellt: Nein! Davon lässt du die Finger! - Ein Hirte hütet, und ein guter Hirte hütet so, dass seine Schafe versorgt und beschützt sind, dass sie genug zu fressen und zu trinken finden, dass sie sich nicht verirren, verletzen oder gar ihr Leben in Gefahr bringen. Ein guter Hirte sorgt besonders für die müden, schwachen, kranken, verängstigten Schafe, schenkt ihnen Hilfe, Wärme und Unterstützung damit sie wieder auf die Beine kommen. Ein guter Hirte sorgt dafür, dass die starken und gesunden Tiere heiter und die kranken und schwachen sicher leben. Einen solchen Hirten brauche ich manchmal und hätte ich gerne.

Auch heute noch kann es einem in den ländlicheren Gebieten unseres Landes passieren – hier im Süden etwa auf der Schwäbischen Alb – dass eine Schafherde die Straße kreuzt. Und wenn der Hirte die Schafe gut hütet, dann ziehen sie geschlossen und zügig, sicher und eng am Hirten über die Straße. Er ruft, und sie folgen ihm. Es bleibt einem als Autofahrer gar nichts anderes übrig, als zu warten. Da kommt man nicht durch. Da zeigt sich, was echte Autorität ist. Die Schafe folgen ja nicht, weil der Hirte beansprucht, ihr Hirte zu sein, oder weil er ein Amt hat, oder weil er sie zwingt. Sie folgen ihm, weil sie ihn kennen und wissen, dass es für sie gut ist, wenn sie ihm folgen. Für die Schafe ist der Hirte der Himmel. Unschlagbar. Der Hirte hat Autorität, weil die Schafe sie ihm geben und ihn als Hirten anerkennen, weil er ihr Hirte ist. Sie wissen: der Hirte ist da, und dann ist alles gut. Denn du bist bei mir.

Wer hütet uns?

Ich behaupte, dass wir alle einen oder eine brauchen, die oder der uns hütet. Und das sind nicht wir selbst. Und das Wunderbare ist, dass wir alle solche Hüter haben. Kinder haben ihre Eltern. Ist das nicht das elementarste und wichtigste aller Gefühle: Meine Eltern behüten mich. Sie sind für mich da, wenn ich sie brauche. Bei ihnen bin ich geborgen. Natürlich ist das nicht alles, natürlich braucht es auch das andere, die Freiheit, die eigenen Wege zu finden und zu gehen und auszuprobieren und sich zu irren und so zu wachsen. Kinder, so sagt es ein Sprichwort, brauchen Wurzeln und Flügel. Aber die Wurzeln sind zuerst da. Nur aus der Geborgenheit heraus wachsen der Mut und die Kraft, die Welt zu erobern. Nur wer zuhause ist kann in die Fremde gehen. Kinder brauchen Hüter, Behüter. Schutzengel sagt man heute, wenn man es spirituell mag.

Und das hört nicht auf, wenn wir erwachsen werden. Die Gewichte mögen sich verschieben. Aber Menschen, die uns hüten und behüten, und manchmal auch leiten und orientieren, brauchen wir unser ganzes Leben lang. „Pass gut auf dich auf“ sagen wir manchmal, aber ich halte das für einen ziemlich blöden Spruch. Aufpassen kann ja doch nur jemand anders auf mich. Und Gott sei Dank ist die Welt voller Schutzengel. Denn die Welt kann auch heute ein gefährlicher Ort sein. Manchmal fühle ich mich auch als Erwachsener wie ein verlorenes Schaf. Manchmal will ich mich nur anlehnen, klein und beschützt sein, wie ein Kind. Meint Jesus das, wenn er uns ermutigt, so zu sein wie die Kinder? Und dann ist da die Kollegin, die ins Zimmer kommt und irgendwie spürt, dass da eine Wolke der Traurigkeit hängt, und die die Gabe der richtigen Worte hat, die den Zugang zu einer verletzten Seele finden. Da ist der Mitarbeiter, der dem Chef sagt: ich würde das nicht tun. Da ist das Kind, das einem so bezaubernd zulächelt, dass sich meine innere Welt verwandelt. Da ist der ehrliche Finder, der die vollgepackte Brieftasche im Fundbüro abliefert. Da ist der Staat oder die Organisation, die good governance praktiziert und ihre Fürsorge- und Schutzpflichten erfüllt. Da ist die Nachbarin, die sich um die alte Frau kümmert, denn „ich kann sie doch nicht allein lassen.“ Eigentlich eine merkwürdige und nicht hinreichende Begründung, natürlich kann man sie allein lassen, unbehütet, unversorgt. Kann man?

Ziemlich am Anfang der Bibel wird eine ganz fundamentale Frage gestellt: Soll ich meines Bruders Hüter sein? Und die Antwort, liebe Gemeinde, kann doch nur heißen: Ja. Ja, Ja, und nochmals Ja. Wie soll denn diese Welt funktionieren wenn wir nicht Hüterinnen und Hirten füreinander sind? Dazu sind wir geboren, dazu sind wir da. Das Leben besteht aus asymmetrischen Situationen, aus Geben und Nehmen, und nur wenn wir beides sind, sein wollen und sein können, Menschen die geben und Menschen die nehmen, also Hirten und Hüterinnen und dann wieder – Schafe – nur dann ist das Leben gut. Und wenn wir aufhören damit, wenn wir sagen: Von dem nehme ich nichts an – oder: die ist mir egal – oder gar: Ich brauche nichts, und ich gebe nichts – das ist der Anfang vom Ende.

Es ist meines Erachtens durchaus so, dass es Menschen gibt, die mehr Hirten und Hüter sind als andere, die mehr Einfluss haben, mehr bewirken können. Ich meine hier nicht die, die die Führungspositionen besetzen und Entscheidungen treffen. Ich meine die, die Menschen prägen und beeinflussen, weil sie andere überzeugen, weil ihnen Autorität eingeräumt und gegeben wird, weil Menschen sie kennen. Solche Menschen gibt es. Solche Menschen haben Macht. Natürlich lässt solcher Einfluss, lässt sich die Autorität der Hirten auch missbrauchen, wie alles Gute im Leben. Beispiele gibt es genug. Deshalb gelten für Hüterinnen und Hirten ganz besonders strenge Regeln. Und vor allem müssen sie wissen: die Schafe gehören nicht mir, sondern einem anderen.

Aber wer hütet die Hüter?

Wir menschlichen Hirten und Hüterinnen kommen zum einen an unsere Grenzen, und oft ziemlich schnell. Die Tür zur Seele des anderen bleibt trotz allem Werben verschlossen. Die Versuchung, die eigene Macht zu missbrauchen, wächst. Die Kraft schwindet. Den fundamentalen Bedürfnissen der Menschen können wir nicht abhelfen. Oder nur für kurze Zeit, hie und da, einmal oder zweimal, und das ist dann eben doch eher keinmal oder höchstens der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. So zu helfen, wie es der Psalm 23 beschreibt, dass Menschen nichts mangelt, und das nicht nur jetzt, sondern auch in Zukunft, und sie zuhause sind immerdar – das kann keiner von uns. Deshalb heißt es: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Und Jesus sagt: Ich bin der gute Hirte.

Hinter den vielen menschlichen Hütern und Hirten dieser Welt, und neben ihnen, und manchmal auch gegen sie steht also der eine gute Hirte, dem wir uns anvertrauen, und bei dem wir geborgen sind.

Dieser gute Hirte beherrscht die Kunst des Beschützens. Es sind ganz nahe, ganz intime Worte, mit denen sein Verhältnis zu den Schafen, zu denen, die ihm anvertraut sind, beschrieben wird: Sie liegen ihm am Herzen, er kümmert sich um sie, sie gehören ihm, er lässt sie nicht im Stich, nicht in der größten Gefahr, niemals, er gibt sogar sein Leben für sie. Und umgekehrt: sie hören seine Stimme und folgen ihm. Sie kennen ihn, und er kennt sie. Sie sind vertraut miteinander. Wenn wir zu jemandem sagen: Du kennst mich besser als jede andere, dann ist das eine Liebeserklärung. Und wenn ich ihre Stimme auf der Straße sofort erkenne, und ihren Gang unter hunderten auf dem Bahnsteig, dann kenne ich einen Menschen.

So ist es zwischen dem guten Hirten und seinen Schafen, zwischen Jesus und seinen Jüngern, zwischen Gott und uns Menschen: Wir folgen ihm nicht, weil er es beansprucht, oder andere für ihn diesen Anspruch erheben; wir folgen ihm nicht, weil er ein Recht darauf hat, und schon gar nicht, weil er Zwang ausübt. Sondern wir folgen ihm, weil wir ihn kennen, seine Stimme kennen, ihm vertrauen und wissen: Das ist gut für mich.

Dieses Vertrauen ist Glauben, und Glauben ist nichts anderes und nichts weiteres, kein Für-wahr-halten, kein Vermuten, aber auch nicht das Wissen, das sich in fünf Sätzen sagen lässt. Glauben ist dieses Vertrauen, weil wir ihn kennen und weil er uns kennt.. Glauben ist ein Du und ein Du.

Und hier kommt plötzlich eine Schärfe in das Bild. Ich bin es – und nicht ein anderer. Dieses Vertrauen, dieses ganze und volle Vertrauen, das verdient kein Mensch, kein Staat, kein Programm, das verdient nur ER.

Aber mit diesem Vertrauen verknüpfen sich nun Erwartungen. Sie sind menschheitsalt und finden sich in allen Religionen: Antwort auf alle Fragen, Schutz vor allen Gefahren, Heilung von aller Krankheit, das Ende alles Bösen. Der gute Hirte: muss er nicht nun uns und andere, besonders die die wir lieben, wirklich behüten vor allem Schaden und Gefahr. Und wenn das nicht geschieht – und das ist ja so weltweit – taucht unweigerlich die Frage auf: Warum hilft er nicht? Warum lässt er das zu? Warum rettet er nicht? Wo ist der Hüter dieser Welt?

Der gute Hirte, von dem Jesus erzählt, auch er verspricht viel. Aber diese Zusagen decken sich nur zum geringen Teil mit den menschheitsalten und gegenwärtigen Erwartungen an den Hüter dieser Welt. Es sind vor allem zwei Zusagen: Die eine: Er ist da. Er bleibt da. Er flieht nicht. Er lässt uns nicht im Stich, er lässt uns nicht allein. Er ist da, auch wenn wir nichts davon spüren. Wenn die Wölfe einbrechen in unser Leben, dann brauchen wir doch genau dies: Einen der stand hält mit uns, der uns birgt, der uns hütet und die Gewissheit gibt: Hier kann mir nichts geschehen. Ich bin selbst im tiefsten Unglück noch von guten Mächten umgeben. Er gibt sogar sein Leben für die Schafe. Ein „normaler“ Hirte lebt von seinen Schafen. Er schlachtet sie irgendwann. In den alten Zeiten hat er es zum Opferaltar getragen. Aber der gute Hirte ist anders. Er gibt sich selbst. Er lässt sein Leben. Er bleibt bei uns auch im Tod. Das Vertrauen hält selbst im Sterben. Und Vertrauen ist doch der Grund allen Lebens. Ohne Vertrauen müssten wir in Depression oder Zynismus versinken. Woher weiß ein Kind, dass es den Eltern – oder einem anderen Menschen – vertrauen kann? Woher wissen wir es? Woher wissen wir, dass das auch in Zukunft trägt?

Ich kenne dich. Ich kenne deine Stimme, ich kann es in deinen Augen lesen.

Und die zweite Zusage: Er trägt das Schaf nach Hause. Er gibt ewiges Leben. Nie und nimmer werden die Schafe umkommen. Nichts und niemand kann sie rauben. Weder Tod noch Leben, weder die Macht von Menschen noch die der Natur, weder Hohes noch Tiefes, weder Vergangenheit noch Zukunft – heißt es anderswo in der Bibel (Römer 8, 38f.). Am Ende sammelt er alle ein, auch die anderen, von denen wir es nicht glauben können, von denen wir nicht einmal etwas ahnen. Am Ende schenkt er das ewige, das wahre Leben. Viel schöner als jeder Karibikstrand, jedes Fußballspiel, jedes Gourmet-Essen, jedes Selfie, jede Sternennacht. Am Ende ist alles selbstverständlich, das Vertrauen, die Stimme, das Kennen, das Lieben. Am Ende sind wir zuhause.

Amen