Predigt zu Johannes 15, 9-12 (17) von Sven Keppler
15,9

Predigt zu Johannes 15, 9-12 (17) von Sven Keppler

I. Was ist eigentlich eine Familie, liebe Gemeinde? Über diese Frage ist in der evangelischen Kirche ein Streit entbrannt. Sollen wir Christen die vielfältigen Formen stärker würdigen, in denen Menschen heute zusammenleben? So fordert es eine im Juni erschienene Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland. Oder wird dann die Ehe in ihrer einmaligen Bedeutung herabgesetzt? Die Kritiker der Orientierungshilfe beklagen das – zum Teil mit großer Heftigkeit.
Was also ist eigentlich eine Familie? Und welche Bedeutung hat dabei die Ehe? Lassen Sie mich mit einer persönlichen Erinnerung beginnen. Als meine Mutter geboren wurde, war ihr Vater als Soldat im Krieg. Als sie ein Kleinkind war, kam er in russische Gefangenschaft. Sie wuchs ohne Geschwister auf. Aber gemeinsam mit ihrem Cousin und ihrer Cousine. Deren Vater war verstorben, die Mutter krank.
Meine Großmutter war also eine Zeit lang alleinerziehend. Mit eigener Tochter und den Kindern ihrer Schwester. Diese verwitwete Schwester hatte sie als Pflegefall im Haus. Eine der vielen ,Patchwork-Familien‘ der Nachkriegszeit.
Die Cousine heiratete dann früh. Dabei mag eine Sehnsucht nach heilen, klaren Verhältnissen eine Rolle gespielt haben. Nach einer von Gott gesegnete Ehe mit zwei Kindern. Dem Ideal der Aufbaujahre. Doch die Ehe zerbrach. Wieder wuchsen zwei Kinder ohne Vater auf. Heute lebt die Tochter in einer festen Beziehung mit ihrer Lebenspartnerin.
Was ist Familie, und welche Bedeutung hat dabei noch die Ehe? Aus meiner Familie könnte ich weitere Beispiele nennen, die das Bild noch bunter machen. Da ist die junge Frau in der Großstadt. Sie lebt alleine, in wechselnden Partnerschaften. Auf der Suche nach dem Mann, der wirklich zu ihr passt. Zu Familienfesten kommt sie sehnsüchtig nach Hause und erlebt Geborgenheit im Schoß ihrer Verwandtschaft.
Oder die drei befreundeten Familien, die sich gemeinsam den Traum vom Wochenendhaus auf dem Land erfüllt haben. Ihre Kinder freuen sich immer riesig auf die gemeinsame Zeit und fühlen sich wie eine große Familie.
Oder die ältere Frau, die nach dem Tod ihres ersten Mannes noch zwei Mal heiratete, um wirtschaftlich versorgt zu sein. Erst nachdem sie zum dritten Mal verwitwet war, zog sie in eine Gemeinschaft mit anderen alten Menschen.
Zu all diesen Menschen sage ich: „meine Familie“. Ein weites Netz von Personen, die in ganz unterschiedlichen Formen zusammenleben. Meistens verwandt. Oft verheiratet. Und alle mehr oder minder eng miteinander verknüpft.
II. So ist die Wirklichkeit in vielen Familien in unserem Land. Aber entspricht das dem, was Gott mit uns vorhat? Es war ja ein durchaus zwiespältiges Bild, das ich gezeichnet habe. Auf der einen Seite Liebe, Verantwortung und Zusammenhalt. Auch über die Grenzen der Kleinfamilie hinweg. Auf der anderen Seite Scheitern und Verlust. Einsamkeit und Schuld. Und immer wieder neue Formen des Zusammenlebens.
Liebe Gemeinde, meine Vermutung ist: Letztlich tragen wir noch das Bild der Großfamilie als Urbild in uns. Verwandtschaftlich verbundene Generationen. In jeder Generation durch neue Eheschließungen und Nachkommen verjüngt. Wer durch ein unglückliches Schicksal vereinsamt, kann durch diesen großen Verband aufgefangen und getragen werden.
Die vielfältigen Formen heutiger Familien erscheinen dann als Bruchstücke der ursprünglichen Einheit ,Großfamilie‘. Wenn eine Frau Nichten und Neffen großzieht, dann ist das Familie – weil das ja auch früher in der Großfamilie vorkam. Wenn eine Witwe mit Gleichaltrigen zusammenlebt, ist auch das Familie – denn auch das kam in der Großfamilie vor. Und wenn ein Ehepaar mit Kindern oder ohne lebt, dann ist uns auch das aus der Großfamilie bekannt.
Die Ehe ist der Spezialfall von Familie. Familie ist auch da, wo keine Ehe ist: wenn die Ehe zerbrochen ist; wenn der Tod sie beendet hat; oder wenn man über die Grenzen der Kleinfamilie hinaus Verantwortung füreinander übernimmt.
Großfamilien, die miteinander leben, sind jedoch selten geworden. Deshalb ist die Kleinfamilie heute zum Leitbild geworden. Und immer steht ein Verlust im Raum. Vom Urbild Großfamilie sind nur noch Bruchstücke geblieben: die kleinfamiliäre Ehe oder lauter andere Formen des Zusammenlebens. Manchmal nagt der Verlust am Gewissen: Zum Beispiel, wenn die Eltern ins Seniorenheim ziehen müssen, obwohl sie das eigentlich nie wollten.
Noch einmal die Frage: Entspricht das dem, was Gott mit uns vorhat? Ist das schon alles, was die Bibel über die Ehe sagt: ein Spezialfall von Familie? Ist die Ehe nicht viel mehr? Der Kern von Familie. Die von Gott gewollte lebenslange Gemeinschaft von Mann und Frau. Das Urbild gelingender Partnerschaft.
III. Was sagt die Bibel? Wir könnten jetzt für jeden Standpunkt die passenden Stellen finden. Wer die Ehe herausstellen will, kann auf die Schöpfungsberichte verweisen. Oder auf das Jesuswort: Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden. Und wer die Homosexualität ablehnt, wird ebenfalls viele Stellen anführen können. Zum Beispiel aus dem Römerbrief, wo der gleichgeschlechtliche Umgang als Inbegriff des gottlosen Lebens erscheint.
Wer dagegen andere Formen des familiären Zusammenlebens würdigen will, wird auch dafür viele Bibelstellen finden – wie zum Beispiel die Erzählung von Rut und ihrer Schwiegermutter Noemi. Die Orientierungshilfe leistet das. Aber reicht das schon? Kommt man weiter, wenn man Bibelstelle gegen Bibelstelle stellt?
Nötig ist eine Antwort von der Mitte des biblischen Zeugnisses her. Auch das versucht die Orientierungshilfe. Von dieser Mitte spricht der heutige Predigttext. Er steht bei Johannes im 15. Kapitel. Bevor ich ihn lese, möchte ich jedoch mit Ihnen singen.
Lied: EG 209 – Ich möcht, dass einer mit mir geht
IV. [lesen: Joh 15,9-17] Der Vater liebt den Sohn. Der Sohn hält die Gebote des Vaters und bekräftigt dadurch, dass er der vom Vater geliebte Sohn ist. Mit derselben Liebe begegnet der Sohn auch seinen Freunden. Und die sollen sich so zum Sohn verhalten, wie der Sohn zum Vater. Die Freunde sollen ebenfalls die Gebote befolgen. So sollen sie sichtbar machen, dass sie in einer liebevollen Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn leben.
Jesus und Gott haben eine Beziehung wie Vater und Sohn. Aber diese Familienbeziehung weist über sich hinaus. Sie nimmt die befreundeten Jünger mit in sich auf. Auch wir dürfen zu Gott ,Vater‘ sagen, so wie er das tut.
Dadurch wird eine Gemeinschaft begründet, die über jeden menschlichen Familienverband hinausweist: die Gemeinde aller Christinnen und Christen. Wir sind also eine Familie eigener Art. Das drückt sich aus in der traditionellen Anrede: Liebe Brüder und Schwestern.
Dreierlei prägt diese Familie: Zum einen sind ihre Beziehungen durch Liebe geprägt. Zum anderen gibt es ein Gefälle. Die Liebe von Gott zu Jesus ist die Quelle. Aus ihr speist sich unsere Liebe zu Jesus und untereinander.
Und schließlich gilt in dieser Familie eine Regel: Wir sollen Jesu Gebote halten, so wie er diejenigen seines Vaters hält. Dabei geht es allerdings nicht um eine Fülle von einzelnen Geboten. Sondern im Kern wiederum um die Liebe. Sie herrscht nämlich nicht einfach von selbst. Sondern sie ist zugleich auch die entscheidende Aufgabe, um die wir uns bemühen sollen.
Liebe Geschwister, das ist das entscheidende Leitbild, wie wir miteinander leben sollen. In der Gemeinde, aber auch in allen anderen Lebenszusammenhängen. Dieses Leitbild ist das eigentliche Urbild. Noch grundlegender als das Urbild der Großfamilie. Noch tiefer als die Gemeinschaft der Ehe.
Diese Gemeinschaft ist uns von Gott und Jesus geschenkt. Und zugleich ist sie uns zur Aufgabe gemacht worden: Liebevoll untereinander umzugehen. Von diesem Urbild her sollen wir auch unsere vielfältigen familiären Beziehungen gestalten – und zwar in jeder unserer Lebensformen.
Ob Klein- oder Großfamilie, ob Patchwork oder alleinerziehend, ob homo- oder heterosexuell. Denn die Liebe ist der Maßstab für jede Beziehung schlechthin. Sie soll die ,heilige Familie‘ von uns Christen prägen, in jeder Gestalt unseres Zusammenlebens.
V. Und was ist von diesem Urbild her zur Ehe zu sagen? Dazu zum Schluss noch drei Gedanken:
Erstens ist gerade im frühen Christentum die Ehe immer auch eingeschränkt worden. Es gab Wichtigeres. Von unserem Predigttext her wird das verständlich. Innerhalb der ,Heiligen Familie‘ des Christentums gibt es auch andere Beziehungen, die an die Stelle der Ehe treten können: der hingebungsvolle Dienst an hilfsbedürftigen Menschen zum Beispiel. Oder ein Leben in der Gemeinschaft Gleichgesinnter, die sich ganz dem Glauben widmen wollen.
Zweitens wird von hierher auch verständlich, warum die katholische Kirche die Ehe als Sakrament versteht. Sie soll ein Abbild der ursprünglichen Liebesbeziehung zwischen Gott und der Christenheit sein. Protestanten haben immer davor gewarnt, die Ehe damit zu überfordern und zu überhöhen. Aber tatsächlich ist ja Gottes Liebe zu uns Ursprung und Vorbild all unserer gelingenden Beziehungen.
Und drittens: Wenn ein Mann und eine Frau ihr Leben miteinander führen wollen, dann liegt darauf ein besonderer Segen. Denn Gott möchte, dass wir liebevoll und verlässlich miteinander leben. Dass in dieser Gemeinschaft sein Gebot dauerhaft beachtet wird. Deshalb ist die uralte Einrichtung der Ehe auch heute eine großartige Verwirklichung von Gottes Liebesgebot.
Amen.
Perikope
Datum 20.10.2013
Bibelbuch: Johannes
Kapitel / Verse: 15,9
Wochenlied: 273 377
Wochenspruch: Röm 12,21