Predigt zu Johannes 3, 1-8+16 von Helmut Dopffel
3,1-8+16

Predigt zu Johannes 3, 1-8+16 von Helmut Dopffel

Liebe Gemeinde,

es ist eine der Nächte, die man nicht vergisst. Und manchmal habe ich das Gefühl, ich sei dabei gewesen und könne mich erinnern an die beiden Männer, die da nachts zusammensitzen, auf der Terrasse hinter dem Haus vielleicht oder auf dem Dach oder auf einer Bank im Garten, mit einem Glas Rotwein vor sich auf dem Tisch. Es ist lau, wie in einer Sommernacht in Italien, der Wind weht sanft und lässt ab und an ein paar Zweige rascheln, oder sind es die kleinen Tiere der Nacht? Der Mond wirft silbernes Licht, am Himmel glänzen die Sterne. Die beiden Männer reden. Nicht über das, worüber Männer üblicherweise reden, Alltag, Politik, Sport, Frauen, Geld, sie lästern nicht und spielen keine Machtspielchen. Es sind die großen Dinge, die Dinge hinter den Dingen, über die sie reden, sie wollen den Dingen auf den Grund gehen, woher komme ich und wohin gehe ich, wie gelingt mein Leben, wo ist die Liebe, wie kann ich mein Leben ändern, wie kommt der Mensch zum Leben, und vielleicht geht es da im Kern immer um dasselbe, um die eine große Frage des Lebens. Wo gibt es das, für uns, für uns Männer vor allem, wo haben die großen Dinge, die großen Themen, die großen Fragen, die großen Erfahrungen ihren Platz und ihren Ort in unserem Leben?

Es ist eine Nacht, die man nicht vergisst. Und wenn man viele Jahre später an diese Nacht zurückdenkt und sich erinnert, dann weiß man nicht mehr genau, was eigentlich geredet wurde. Aber dass es wichtig war, ungeheuer wichtig, das weiß man noch, als sei es gestern gewesen. Man erinnert sich an einzelne Worte und Bilder, die schwebend durchs ganze Leben mit einem gehen, wie der Wind. Und man erinnert sich an das Gefühl, das da war, wie ich mich gefühlt habe in jener Nacht, und dass das bis heute mich begleitet, eine Ahnung vom Leben hinter dem Leben, und dass damit etwas Neues begann.

Nikodemus ist nicht irgendwer. Er ist eine Führungspersönlichkeit, ein Gelehrter vielleicht, Mitglied des Obersten Gerichts, sicher sehr reich und angesehen, ein Promi. Er kommt zu Jesus in der Nacht. Will er nicht gesehen werden? Weiß er um die besondere Qualität der Nachtgespräche? Will er mit Jesus allein sein, ungestört und ohne Ablenkung reden können? Alles ist möglich. Er kommt zu Jesus in der Nacht, und er ist sympathisch offen und ehrlich und legt die Karten sofort auf den Tisch: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen, denn sonst könntest du nicht die Zeichen tun, die du tust. Welche Zeichen? Heilungen, Wunder, Worte, Wirkungen? Das bleibt offen, wie so vieles in dieser Geschichte. Aber klar ist: Nikodemus legt die Karten auf den Tisch, er blufft nicht, er gibt Jesus die Ehre und Würde, die ihm zustehen, er anerkennt, dass Jesus etwas Besonderes ist und bringt, das er selbst nicht hat und ist. Von Gott. Diese Offenheit und Wertschätzung eröffnet das Gespräch, und das ist nicht nur klug, sondern führt direkt zum Kern der Sache.

Und nun reden sie, die beiden Männer in der Nacht über die großen Fragen. Diese Fragen haben es an sich, dass sie sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten lassen, mit So oder anders, plus oder minus. Sie sind sehr einfach, diese Fragen, und auch die Antworten sind am Ende sehr einfach, aber da liegt etwas dazwischen, und sind es überhaupt Antworten? Jemand sagt etwas Kluges, und wir denken: Ist alles richtig und nachvollziehbar, aber trifft es irgendwie nicht, liegt irgendwie daneben. Und eine andere Antwort lässt vieles offen, und doch spüren wir, wissen wir: Ja, darin liegt etwas, darin liegt Wahrheit, auch wenn ich sie nicht ganz verstehen. Das setzt mich auf eine Spur, das hilft mir weiter. Und dann, vielleicht erst später, sehe ich, verstehe ich, werden mir die Augen geöffnet.

An solchen Erfahrungen merken wir: es gibt verschiedene Arten der Wahrheit. Es gibt die Wahrheit des Faktischen, der Tatsachen, klar zu sagen, zu beweisen, zu zählen vielleicht, zu überprüfen. Und es gibt die Wahrheit des Lebens, die Wahrheit hinter den Fakten und Tatsachen und Dingen. Diese Wahrheit liegt im Verborgenen und muss ans Licht kommen, heraustreten, so dass wir plötzlich sehen, was wir bisher nicht gesehen haben, eine Erkenntnis, eine Einsicht, die plötzlich da ist, und wir wissen nicht so recht woher sie kommt und wohin sie führt. Aber ich sehe einen Menschen anders als vorher. Ich sehe mich selbst anders. Ich sehe einen Faden in meinem Leben, den ich bisher nicht sehen konnte. Ich sehe einen Weg vor mir. Ich spüre eine Liebe, für die ich bisher taub war. Es ist, als könnten wir den Wind plötzlich spüren. Und ich weiß, wenigstens in diesem Augenblick: Das ist die Wahrheit. Das ist das Leben.

Jesus antwortet dem Nikodemus:

„Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“

Ist das eine Antwort auf diese würdigende Gesprächseröffnung? Oder reden die beiden aneinander vorbei? Diesen Eindruck kann man ja schon haben, dass die beiden aneinander vorbeireden, dass sie verschiedene Sprachen sprechen, und mir geht es jedenfalls so, dass ich das beinahe quälend finde, wie schwer die beiden sich miteinander tun, oder besser: Wie schwer sich Nikodemus mit Jesus tut. Oder antwortet Jesus doch, zwar nicht direkt, aber dafür auf die heimliche, leise Frage, die in der Aussage des Nikodemus steckt, sozusagen die Frage in der Frage, und Jesus hört sie? Die Frage: Wenn du von Gott kommst und göttliche Zeichen in diese Welt setzt, wenn du ein Lehrer von oben bist – was wird denn nun anders? Wie veränderst du die Welt? Wie veränderst du mich? Wie und was lehrst du denn?

Denn: Wenn einer von Gott kommt, sozusagen Gott in diese Welt hineinträgt, dann muss die Welt doch anders werden! Dann muss diese dunkle, unverständliche, elende Welt doch hell, klar und glückselig werden? Dann muss ich zweifelhafte, abgründige, mir selbst oft unverständliche Gestalt doch hell, klar, liebevoll und glückselig werden!

Und da sind Nikodemus und Jesus nun ganz beieinander. Und ich glaube, wir sind da auch ganz nah dabei.

Jesus antwortet sehr wohl auf diese Frage in der Frage. Aber was für eine Antwort! Nur wer von neuem und von oben geboren wird kann das Reich Gottes sehen, kann also sehen und spüren und erfahren, wie Gott wirkt in dieser Welt, und was Gott an mir und für mich und – vielleicht - auch durch mich tut.

Von neuem geboren werden: Sozusagen von der Rückseite her können wir das ganz gut verstehen: Wir sind alt geworden – wir selbst, aber vielleicht auch unsere Gesellschaft, vielleicht sogar diese Welt. Der Lack ist ab. Wir haben viele Entscheidungen getroffen, die manches möglich und vieles unmöglich gemacht haben und unseren Lebensweg festlegen. Die Dinge sind nun wie sie sind, das Leben ist nun wie es ist, das Alter schreitet fort, die Zeit ist nicht umkehrbar und verschlingt am Ende alles. Gerade deshalb schießt immer wieder die Sehnsucht hoch, nochmals zurückgehen zu können an diesen und jenen Punkt und die Dinge anders zu machen. Vielleicht sogar ganz zurückkehren zu können, zum allerersten Anfang, zu unserer Geburt, und noch einmal neu anfangen können und alles neu machen, ja selbst ganz neu werden. Nochmals neu zu werden – wie ein Kind. Meint Jesus das? Von neuem geboren zu werden, das Leben noch einmal geschenkt zu bekommen, und alle Möglichkeiten vor sich?

Das geht nicht, sagt Nikodemus trocken. Das kann keiner. Das kann nicht einmal Gott. Und wenn, dann wäre das neue Leben doch wie das alte, nur anders.

Und es ist einfach richtig, dass wir das nicht können, so wenig wie wir die Antworten auf die großen Fragen nicht selbst geben, ja nicht einmal finden können. Denn wir sind Fleisch. Die Antwort heißt deshalb auch nicht: Du musst dich ändern, du musst dein Leben ändern. Die Antwort, die Jesus gibt, lautet: Ein Wind muss kommen, Feuer, Geist, und dich umfassen, vielleicht sogar packen und hinreißen. Du kannst die Antwort nicht finden, du kannst sie dir schon gar nicht geben, die Antwort muss dich finden, sie muss zu dir kommen. Und sie kommt zu dir. Denn das ist schon die Antwort: gefunden sein, berührt sein, das Sausen hören. Der Wind, der Geist, das Feuer ist da.

Jesus wird als Lehre angefragt. Was lehrt er? Keine Fakten über die Welt. Auch nicht theologisches Wissen. Auch keine geistlichen Wege und Übungen. Lehren geht ja, im heutigen Verständnis, weit über Fakten und Wissen und Üben hinaus. Die Leiterin einer Kindertagesstätte erklärte mir vor wenigen Tagen: Wenn die Kinder in die Schule kommen müssen sie nicht lesen können, nicht einmal Buchstaben. Aber sie müssen in der Lage sein, einen Vorgang selbst für sich zu organisieren. Selbstständigkeit, gar Selbstmächtigkeit sind die Schlüsselworte heute – und nicht erst heute, wenn wir die großen pädagogischen Texte der Vergangenheit lesen.

Jesus lehrt etwas anderes, und deshalb lehrt er anders: neu geboren werden, den Wind spüren, sein Sausen hören. Da geschieht etwas an mir, da widerfährt mir etwas. Man könnte beinahe von Passivität reden, wäre es nicht eine äußerst aktive Passivität. Es geschieht etwas, Menschen erfahren oder entdecken, dass ihr Leben ein Geschenk ist, dass sie es anderen verdanken; dass die Liebe, die uns trägt und aus der wir leben, ein Geschenk ist – und sogar die Liebe, die wir für andere haben. Dass all unsere Kraft und Energie und Dynamik, mit der wir das Leben gestalten, unser eigenes und das vieler anderer mitgestalten, dass das ein Geschenk ist. Fromm gesprochen: dass alles Güte und Gnade ist. Ich selbst bin ein Geschenk, von weit her. Die Menschen, die mich lieben, sind ein Geschenk. Und auch die Menschen, die mich herausfordern und mir widerstehen. Und aus diesem Stoff aus Güte und Gnade gestalten und verantworten wir das Leben und die Welt. Damit ist unserem Handeln bereits eine Richtung vorgegeben ist, und nur in dieser Richtung kann gedeihen, was wir tun.

Vielleicht ist das der größte Verlust unserer Kultur, dass wir die Widerfahrnisse nicht mehr schätzen, dass wir uns nichts mehr widerfahren und gefallen lassen, weil wir die Abhängigkeit fürchten, die damit verbunden ist, und dass wir auf andere und anderes angewiesen sind. Nur ändert das nichts an den Tatsachen. Aber wir verlieren den Schlüssel zu ihrer Bedeutung, zur Botschaft. Wer sich nichts gefallen lassen kann, kann weder Liebe noch Güte erfahren und schon gar nicht, wie wir Menschen durchs Leben getragen werden.

Das ist die Botschaft, die Jesus von Gott in diese Welt bringt; das ist die Botschaft, die Jesus selbst ist. Ein Blickwechsel, ein ganz neuer Blick auf mich und die Welt. Und in diesem Blick ändert sich die Welt. Wir kommen noch einmal und anders „zur Welt“, werden neu geboren, sozusagen mit dem Blick von oben. So kommt der Mensch zum Leben und zum Glauben. Das ist im Kern dasselbe. Und das ist die Botschaft, die wir in der Taufe vollziehen.

Jesus selbst ist ein solches Widerfahrnis. Es ist ein Wunder und unerklärlich, dass er da war, auf dieser Erde. Es ist ein Wunder und unerklärlich, dass er da ist, und bis heute uns berühren kann. Er ist selbst die Botschaft:

Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.

Nikodemus verschwindet aus dieser Geschichte, wie ein Mensch in der Nacht verschwindet. Später berichtet das Johannesevangelium, dass er sich immer wieder für Jesus eingesetzt hat. Und viel später erzählt die Legende, er habe sich von Petrus und Johannes taufen lassen. Wir wissen es nicht. Aber es würde passen zu dieser Geschichte von der Nacht, und der Gnade, und der Liebe.

Amen.