Predigt zu Johannes 5, 39-47, Manfred Wussow
5,39

Predigt zu Johannes 5, 39-47, Manfred Wussow

Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist's, die von mir zeugt; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.
Ich nehme nicht Ehre von Menschen; aber ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht?
Ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde; es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft. Wenn ihr Mose glaubtet, so glaubtet ihr auch mir; denn er hat von mir geschrieben. Wenn ihr aber seinen Schriften nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?
Predigt
Abrechnung
Haben Sie sich heute Morgen schön warm angezogen?  Es sprudelt nur so: „ihr wollt nicht zu mir kommen“ – „ihr nehmt mich nicht an“ – „ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde“!  Es sieht ganz so aus, als ob wir in eine Abrechnung geraten sind. Jesus im Frust! Nur: ich weiß gar nicht, worum es geht. Soll ich vorsorglich abwehren – oder vielleicht nicht doch gleich den Kopf einziehen? Heute scheint ja jeder sein Fett abzubekommen …
Erinnerung
Jeder? Wirklich jeder? Wir werden – vielleicht ungewollt – Zeugen einer Auseinandersetzung zwischen  Jesus und seinen jüdischen Zeitgenossen. Wir hören auch nur, was Jesus sagt – die Gegenseite bleibt stumm. Vorsichtshalber muss ich aber einschränken: wir werden zu Zeugen einer Auseinandersetzung, die Johannes als Evangelist lustvoll und dramatisch aufpeppt. Er legt uns, Entschuldigung, ein Ei ins Kuckucksnest. Damals war ein Prozess im Gange, der unheilvoll bis in unsere Gegenwart reicht. Christen setzen sich von den Juden nicht nur ab – sie sprechen ihnen auch ab, überhaupt Gottes Volk zu sein. Zu ihrem Gewährsmann machen sie – Jesus. Oder vereinnahmen sie ihn nicht einfach?
Eigentlich müsste ich Ihnen diese Geschichte mit ihren vielen Facetten erzählen. Es ist eine bittere Geschichte. Bitter vor allem, weil Christen über Jahrhunderte Israel als Volk Gottes enteignet und enterbt haben. Bitter auch, weil Christen sich selbst als Erben eingesetzt haben, immer auch im Besitz der Wahrheit. Das „wahre Israel“! Man muss jetzt nur noch zitieren – dann hat man’s:
  „Ihr wollt nicht zu mir kommen“ – „ihr nehmt mich nicht an“ – „ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde;  es ist einer, der euch verklagt: Mose, auf den ihr hofft“!
Endlich ist es heraus, wer mit „ihr“ gemeint ist – es sind „die Juden“. Mit Genugtuung stellen wir fest, dass Mose gegen sein eigenes Volk gewendet wird. Er bekommt die Rolle des Anklägers. Aber wir sind nur Zuschauer. Aus sicherer Entfernung schauen wir zu. Alles andere hätte auch nicht sein können. Trotzdem spüren wir die Erleichterung. Wir können wieder aus der Verdeckung kommen. Den Kopf heben. Unsere Hände reiben. Eigentlich – wie immer! Unschuldslämmer!
Jesus hat sich mit seinem Volk auseinandergesetzt. Als einer von ihnen. Er hat ihnen Gottes Wort ausgelegt. Die Thora wollte er nicht außer Kraft setzen – erfüllen wollte er sie. Sprich: Gott beim Wort nehmen. Dieses Anliegen teilt er mit vielen, auch mit den viel gescholtenen Pharisäern und Schriftgelehrten. Gemeinsamen ist ihnen allen, dass sie leidenschaftlich und liebevoll die Schrift studieren. Jesus setzt seine eigenen Akzente – das ist nicht einmal ungewöhnlich. Streitgespräche sind der Sache angemessen, viele sind überliefert. Aber Protokolle sind sie nicht. Es sind Nacherzählungen. Nacherzählungen, die in immer neuen Wendungen erzählt werden können. Aus Liebe zu den Menschen. Aus dem unerschöpflichen Vorrat der Geschichten Gottes mit – uns.
Suche
Jetzt müssen wir von uns reden! Unsere Kultur – auch unsere evangelische – ist von den Überlieferungen, sogar vom Wortlaut der Hl. Schrift geprägt. Ihre Spuren finden wir in der Kunst, in der Dichtung, in der Sprache – eigentlich überall. Es soll sogar Gegenden geben, denen man anmerkt, evangelisch zu sein – und wenn es die Putzordnung ist. Aber längst ist uns aufgegangen, was Fassade ist – und was unter der Fassade  immer weiter  zerbröckelt. 
Auch das ist eine unheilvolle Erinnerung. Am Morgen des 22. Juni 1941 – vor 70 Jahren – begann das „Unternehmen Barbarossa“. Deutsche Truppen marschierten in die Sowjetunion ein.  Das Unternehmen endete nicht in Moskau, es endete in Berlin, dreieinhalb Jahre später. 26,6 Millionen Menschen kamen auf sowjetischer Seite um, darunter 15,2 Millionen Zivilisten – und 2,4 Millionen Juden durch nationalsozialistische Vernichtungsorgien. Auf deutscher Seite fielen allein mehr als 2,7 Millionen Mann an der Ostfront. Das christliche Abendland – wenn es nicht schon vorher am Ende war, jetzt war es – am Ende. Und Gott war nicht mit uns! Hinter den kaum vorstellbaren Zahlen aber stehen Menschenleben. Familien. Kinder. Hass. Wut.
Wenn ich heute daran denke, am 26. Juni, haben  Jesu Worte einen besonderen Klang: „Ihr wollt nicht zu mir kommen“ – „ihr nehmt mich nicht an“. Vielleicht ist es gerade diese einfache Sicht, die die Dinge auf den Punkt bringt. Es wurde ein Vernichtungskrieg geführt – und weltanschaulich verbrämt und gerechtfertigt. Ich kann mich nicht entschuldigen, ich kann nicht um Verständnis werben, ich kann keine Gründe finden -  ich muss von Schuld reden! Obwohl ich nicht dabei war. Ein ganzes Volk ging in die Irre. Trotzdem marschieren Neo-Nazis immer noch durch unsere Orte. Sie machen sich Angst zu Nutze –  und sie machen Angst. Das Gras wächst zwar über Gräbern, aber nicht über das Leben.
Das Leben zu finden, ist wohl auch der größte Traum eines Menschen. Nicht einfach die Aneinanderreihung der Tage, nicht die kleinen und großen Herausforderungen, nicht der manchmal so stupide Alltag mit seinen Sorgen. Wenn Jesus von Leben redet, meint er die Mitte, die alles zusammenhält, die allem Glanz verleiht, die alles in Liebe verwandelt. Ich suche nach Worten. Es fällt mir so schwer, das Leben zu beschreiben, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Seiner Widersprüche. Seiner Abgründe.
Jesus sagt:
  „Ihr sucht in der Schrift, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie ist's, die von mir zeugt; aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.“
Darum suche ich. Ich suche immer noch. Ich suche immer wieder. Ich suche in der Schrift, ich suche in den Gedanken, Sehnsüchten und Hoffnungen der Menschen. Ich suche sogar in mir. Jesus erkennt das an. Ihr sucht – sagt er. Interessanterweise: ich sage zwar „meine Suche“, aber in Wirklichkeit bin ich nicht allein. Ich bin sogar mit den Menschen verbunden, die Jesus noch mit ihren eigenen Ohren gehört haben. Mit Schriftgelehrten und Pharisäern. Mit Zöllnern und Sündern. Ich bin Teil einer großen – Nacherzählung.
Zu ihm kommen
Haben Sie sich heute Morgen schön warm angezogen?  Es sprudelte nur so: „ihr wollt nicht zu mir kommen“ – „ihr nehmt mich nicht an“ – „ihr sollt nicht meinen, dass ich euch vor dem Vater verklagen werde“! Sind wir – darf ich das am Schluss so fragen – tatsächlich in eine Abrechnung geraten? 
  Ich kann nicht mehr sagen, ich wüsste nicht, worum es geht.  Es könnte sogar  sein, dass wir  eine Abrechnung brauchen. Um die Dinge klarer zu sehen. Um Schuld zu erkennen. Um einen neuen Weg zu finden.
Ich gebe zu, dass ich den verletzenden, autoritären Ton hat einer Abrechnung nicht mag. Ich merke, wie  empfindlich ich bin  – oder auch wie vornehm.  Eine kleine Spur führt uns aber weiter. Wir haben sie bisher geflissentlich übersehen. Was Jesus negativ formuliert: „aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet“ – ist eine große Einladung. Jesus möchte, dass wir zu ihm kommen, bei ihm auch Zuflucht suchen, uns an ihm ausrichten.  Seine Liebe führt uns aus Schuld hinaus und schenkt uns die herrliche Freiheit der Kinder Gottes.
Meine vorsorgliche Abwehrhaltung gebe ich auf – und den Kopf ziehe ich nicht länger ein. Mein Leben wird nicht – abgerechnet.
Jesus sagt: Kommet her, zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid – ich will euch erquicken.
Und der Friede Gottes,
  der höher ist als alle Vernunft,
  bewahre unsere Herzen und Sinne
  in Christus Jesus,
  unserem Herrn.