Predigt zu Johannes 6, 30-35 von Helmut Liebs
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Predigt zu Johannes 6, 30-35 von Helmut Liebs

Liebe Gemeinde,
  wenn Sie gelegentlich im Radio Popmusik hören, dann dürfte Ihnen in letzter Zeit ein Lied nicht entgangen sein: das Lied mit dem Titel „Wovon sollen wir träumen“. Gesungen von der Musikgruppe Frida Gold. Eine Sängerin und drei Musiker aus dem Ruhrgebiet haben diesen Song veröffentlicht, der spätestens seit der Frauenfußball-WM weithin bekannt geworden ist, denn das ZDF hat „Wovon sollen wir träumen“ stets als Musikteppich unter die so genannten „Bilder des Tages“ gelegt.
  Wobei das Lied mit Fußball eigentlich nichts tun hat.
  Aber hören Sie selbst:
Ich fühl mich leer
  Und die Nacht liegt schwer
  So schwer auf meinen Schultern
  All die Hoffnung die war
  Ist schon lang nicht mehr da
  Schon wieder ne Nacht einfach vertan.
Ich hab gesucht und gesucht
  In den hintersten Ecken
  Nach Augen, die mich interessieren
  Noch nie hat es geklappt
  Doch ich mags nicht kapieren.
Wovon sollen wir träumen? So wie wir sind.
  Woran können wir glauben? Wo führt das hin?
Wir lassen uns treiben durch die Clubs der Stadt
  Durch fremde Hände und wir werden nicht satt
  Wir wachen dann auf bei immer anderen Geliebten
  Von denen wir dachten, dass wir sie nie verlassen.
Wir können nicht mehr atmen,
  Und vergessen zu essen
  Wir trinken zu viel
  Es bleibt ein Spiel ohne Ziel
  Wann hört das auf?
  Wann kommen wir hier raus?
  Wovon sollen wir träumen?
  Wo sind wir zu Haus? Wo sind wir zu Haus?
  
  Ich weiß nicht, wie jung oder alt die Musiker dieser Band sind. Zwischen 20 und 30 schätze ich. Sie haben also die Jugend hinter sich, sind aber noch junge Erwachsene, sehen somit nach menschlichem Ermessen die meiste Zeit des Lebens noch vor sich. Vor allem die Zeit, in der man nach herkömmlicher Lebensgestaltung so richtig durchstartet. Und doch singen sie: Alle Hoffnung, die war, ist schon lang nicht mehr da. Und sie singen vom Suchen nach Augen, die interessieren, doch nie haben sie solche gefunden. Und dass sie sich durch die Clubs der Stadt treiben lassen, die mit Edel-Häppchen und Drinks aufwarten, und doch werden sie nicht satt.
  
  Deshalb: Wovon sollen wir träumen, so wie wir sind?
  Woran sollen wir glauben, wo führt das hin?
  
  Versuch einer Antwort:
  „Führe ich gen Himmel, so bist Du da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort Deine Hand mich führen.“ Psalm 139, den wir eingangs gebetet haben.
  
  Wir können vermuten, dass der Dichter und Beter dieses Psalms im Laufe seines Lebens einige krumme Wege gegangen ist und manche waghalsige Fluchten unternommen hat. Sonst würde er nicht reflektieren, was wohl wäre, wenn er die weitest möglichen Strecken fliegend zurücklegen würde. Und er kommt zum Schluss, weil er es so erlebt hat: Wo immer er ist, was immer er tut – Gott ist da.
  
  Doch junge Menschen werden kaum so sprechen. Zu gering noch die Lebenserfahrung. Zu selten noch die Gotteserfahrung. In beidem sind sie noch am Anfang. Das Feld des Lebens und Glaubens liegt noch weithin offen vor ihnen. Wohin die Reise geht ist noch lange nicht festgelegt.
  
  Gewiss: Das Elternhaus gibt tendenziell eine Richtung vor. Aber sind Eltern immer eindeutig? Treffen sie mit ihren Empfehlungen wirklich, was dem Kind angemessen ist? Müssen sie nicht das Kind den eigenen Weg finden lassen?
  
  Und dann beginnt es zu testen: In welcher Kleidung fühle ich mich wohl? Bin ich ungeschminkt schön genug? Bekomme ich bei diesen oder jenen Mitschülern mehr Anerkennung? Respektiert man mich eher, wenn ich mich anpasse oder wenn ich rebelliere? Solche ich Freundschaften locker eine nach der anderen ausprobieren oder auf die große Liebe hoffen? Und was, wenn ich meine, die große Liebe zu haben und dann bitter enttäuscht werde?
  
  Erst war ich atemlos verliebt und dann war ich betrunken verloren. In Gedanken bin ich durch den Himmel geflogen, habe dort aber nichts, das mich hält, gefunden. Dann bin ich halb um die Welt ins indische Aussteigerparadies von Goa gereist, habe aber auch dort niemanden, der mich führt, gefunden.
  
  Deshalb: Wovon sollen wir träumen, so wie wir sind?
  Woran sollen wir glauben, wo führt das hin?
  
  Versuch einer Antwort:
  „Jesus aber sprach. Ich bin das Brot des Lebens.
  Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern.
  Und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“ Johannesevangelium, Kapitel 6.
  
  Hier müssen wir nicht vermuten, sondern hier wissen wir, warum Jesus diese Sätze gesprochen hat. Laut dem Evangelisten Johannes waren nämlich ein außergewöhnliches Ereignis vorangegangen: die Speisung von fünftausend hungrigen Menschen. Sie wurden satt von fünf Broten und zwei Fischen. Ein Wunder nach dem Verständnis der Menschen. Eine Überbietung dessen, was nach irdischem Ermessen möglich ist. Und doch möglich geworden dank der Wunderkraft Jesu, so dachten sie. Sensationell. Wie hat der das gemacht? Diese Fähigkeiten müsste man haben. Dann müsste man nie mehr hungern. Zeig uns mehr davon. Mach es noch einmal. Lass uns wissen, wie der Zauberspruch lautet. Verrate uns, wo das Wunderkraut wächst. Gib uns mehr von dem Vitaltrank. Wir wollen es doch gut haben hier im Leben. Davon haben wir immer geträumt. Wer solche Wunder drauf hat, der braucht nichts weiter.
  
  Doch sie verkennen gänzlich, dass es Jesus gar nicht um das Wunder als Wunder ging. Er wollte vielmehr ein Zeichen setzen. Er wollte sie das Zeichen erleben lassen. Nämlich dass genauso wie künftig im Himmel alle satt sein werden, es so schon jetzt auf Erden möglich ist, dass alle satt werden. Wie im Himmel, so auf Erden. Nämlich dann, wenn man – dankbar vor Gott und fürsorglich voreinander – selbst Weniges untereinander teilt. Sie sollten erleben, dass im Angesicht Jesu keiner den anderen sich selbst überlässt.
  
  Das ist der Vorschein des Reiches Gottes, nach dem sich im Grunde des Herzens jede und jeder sehnt. Nichts Irreales, sondern jederzeit reale Möglichkeit. Menschen stehen im Angesicht Gottes anderen Menschen so zur Seite stehen, dass keiner hungrig oder durstig bleibt.
  
  Das Volk aber verstand es anders und wollte Jesus, wegen des Wunders, sogleich zum König machen. Und als er das merkte, entwich er.
  
  Er entwich; allerdings nur, um sich erneut finden zu lassen. Hören Sie, wie Johannes diese Begegnung erzählt: …
  (Joh. 6, 24 bis 35) …
  
  Man kann es ja verstehen. Sie haben die Speisung so erlebt, als ob Jesus sie auf wunderbare, nahezu magische Weise satt gemacht hat. Und nun sind sie hinter ihm her, um mehr desselben zu bekommen. Denn Brot war und ist das Hauptnahrungsmittel schlecht hin. Kindern wird es als Schulbrot eingepackt, vielleicht nicht mehr in dem Maße wie früher, aber doch noch weitverbreitet. Eine Hälfte aus Weißbrot und die andere Hälfte aus Schwarzbrot: so mochte ich es immer am liebsten. Wanderer legen sich einen ordentlichen Kanten Brot samt Käse und Speck in den Rucksack. Und wer längere Zeit im fernen Ausland lebte, schreibt sehnsuchtsvolle Briefe nach Hause, wie sehr man sich auf herzhafte Mehrkornbrötchen freut. Nicht zu vergessen, dass die Erhöhung von Brotpreisen immer wieder in vielen Ländern massive Proteste auslöst. Von der aktuellen Hungersnot in Ostafrika gar nicht zu reden.
  
  Von einem britischen Journalisten habe ich gelesen: Der kaufte einen Laib Brot und stellte sich damit an belebte Straßenecken verschiedener Städte. Den Vorübergehenden bot er an, für dieses Brot zu arbeiten. Seine Ergebnisse: In Hamburg wurde er ausgelacht. In New York von der Polizei festgenommen. Im afrikanischen Nigeria waren mehrere Personen bereit, drei Stunden dafür zu arbeiten. Im indischen Neu Delhi sammelten sich rasch mehrere hundert Personen, die für dieses Brot einen ganzen Tag arbeiten wollten.
  
  Ja, Brot ist etwas wundervolles und wertvolles. Verständlich, sich danach zu drängen. Das Volk rund um Jesus erhoffte sich, irgendwie Anteil an dieser Wunderkraft zur Brotvermehrung zu bekommen. Zauberstab, Wunderkraut, Magiewasser – egal. Irgendetwas wollten sie in die Hand bekommen.
  
  Jesus hat das sicher verstanden, doch er versuchte sie von diesem Ansinnen wegzuführen: Ihr sucht das Falsche bei mir. Ihr denkt, ich sei auf Erden, um verzehrbares, vergängliches Brot zu geben. Brot, wie es von Menschen Hand gemacht wird. Aber dafür bin ich nicht hier. Sondern ich bin hier, um unverzehrliches, unvergängliches Brot zu geben, und das ist Brot von Gott. Unvergängliches Brot solltet ihr begehren. Unvergängliches Brot, das zu geben allein Gottes Werk ist.
  
  Ok, ok, bestätigten sie ihm darauf. Gerne, gerne. Unvergängliches Brot von Gott her, das ist ja noch viel besser. Dann sag uns, was wir tun müssen, um dieses unvergängliche Brot von Gott herzubekommen. Wie können wir diese Werk Gottes bewirken?
  
  Doch damit haben sie Jesus erneut missverstanden. Weshalb Jesus antwortet: Es gibt kein Tun, mit dem ihr Gottes Werk bewirken könnt. Vielmehr ereignet sich Gottes Werk genau dann, wenn ihr an mich glaubt. Nicht in dem, was ihr zustande bringt, handelt ihr recht, sondern, indem ihr Gottes Wirken, wie es durch mich geschieht, glaubend an euch geschehen lasst.
  
  Und wieder ist das Volk bereit, Jesus gedanklich und tatsächlich zu folgen. Denn sie erinnern sich daran, dass Gott einst den Israeliten in der Wüste das süßem Brot ähnliche Manna geschenkt hat: Was tust du denn für ein Zeichen, damit wir dir glauben? Was wirkst du? Wirkst Du ähnliches, wie das himmlische Manna, das unsere Vorväter einst in der Wüste gegessen haben? Dann gib uns das. Gib uns allezeit solches Brot. So fragen sie ihn. So reden sie mit ihm.
  
  Das heißt, sie wünschen sich von ihm ein mindestens vergleichbares Wunder wie einst das Manna-Wunder. Und hoffen, dass das, was Jesus gibt, noch größer ist. Denn das Manna mussten sich die Israeliten jeden Tag neu sammeln. Das Volk rund um Jesus hingegen hofft auf etwas, das ihnen allezeit verfügbar ist. Immer noch gehen sie davon aus, dass sie sich dieses Etwas mit Hilfe Jesu aneignen können, dass sie dieses Etwas haben können, irgendetwas – und verstehen nicht, dass Jesus ihnen nicht irgendetwas anbietet, sondern sich selbst.
  
  Um ihnen das zu verdeutlichen, formuliert er einen letzten, einen an Eindeutigkeit nicht mehr zu überbietenden Satz, einen Satz, der ihm möglicherweise schwer gefallen ist, den er aber sprechen muss, weil er doch gekommen ist, nicht einmalig Brot zu schenken. Sondern weil er gekommen ist, um ein für alle mal und für alle Zeit und Ewigkeit sich selbst zu geben. Deshalb überbietet er jegliche Erwartung und spricht: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern. Und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.“
  
  Natürlich bricht die Begegnung zwischen Jesus und den Menschen am See Tiberias an dieser Stelle nicht ab. Die Geschichte geht weiter. Doch davon wird ein anderes Mal zu sprechen sein. Etwa davon, dass es letztlich der Erfahrung von Jesu Tod und Auferstehung bedurfte, damit wirklich verstanden werden konnte, wie weitreichend Jesu Aussage zu verstehen ist. So weitreichend nämlich, dass er sich selbst als Brot des Lebens gibt, hingibt, dahingibt und in unseren Feiern des Abendmahls immer wieder neu sich ausgibt. Als Gabe seiner selbst verausgabt er sich bis zum Tod in die irdische Vergänglichkeit. Um kraft der Auferweckung durch den, der ihn gesandt hat, in die himmlische Unvergänglichkeit aufzuerstehen. Weshalb er sich allen Menschen an allen Orten immer wieder neu geben kann, so dass jeglicher das Brot des Lebens annehmen und aufnehmen kann.
  
  Und Frida Gold? Die Musikgruppe, die nicht weiß, wovon sie träumen und woran sie glauben soll? Frida Gold wäre zu wünschen, dass sie von diesem Brot des Lebens hört. Damit sie wieder zu träumen beginnt. So wie sie ist. Denn anders als sie ist, muss sie gar nicht sein. Ihr wäre zu wünschen, dass sie das Brot des Lebens schmeckt und sieht wie freundlich der Herr ist. Damit sie weiß, woran zu glauben, ihren Hunger stillt. Und weiß, wohin ihr Leben führt. Nämlich selbst, wenn sie ans äußerste Meer flöge: zu Gott. Dann hat das Spiel ein Ziel. Dann ist sie selbst in fremden Händen bei sich und mit sich und in sich zuhause. Denn dann ist sie bei Gott zuhause.
  
  Und wir? Wer kann schon von sich sagen, er sei ohne Einschränkung satt? Wer kann schon sagen, er habe Jesus Christus so angenommen und als Brot des Lebens so in sich aufgenommen, dass er nach nichts anderem verlange?
  Hunger nach Erfolg, Hunger nach Aufstieg.
  Hunger nach Macht, Hunger nach Sieg.
  Hunger nach Höhepunkten, Hunger nach ultimativen Kicks.
  Hunger nach Bestätigung, Hunger nach Internet-Klicks.
  Hunger nach Ehre, Hunger nach Geld.
  Hunger nach Einfluss, Hunger nach der ganzen Welt.
  Das sind die Konkurrenten zum Brot des Lebens. Wir kennen sie gut. Sie gehören zu unserer Welt, zu unserem Leben dazu. Sie sind unvermeidbar. Und sie sind stark. Sehr stark. Und wenn sie zu stark sind, dann machen sie uns kaputt. Machen uns unsympathisch, machen uns gefühllos, machen uns einsam, machen uns womöglich krank. Und das ist schlimm. Doch es kann nie so schlimm sein, dass man nicht auch darin nach dem wahren Brot des Lebens fragen und rufen, bitten und beten kann. Denn wir haben das Versprechen: Wer zu ihm kommt, der wird nicht hungern. Und wer an ihn glaubt, der wird nimmermehr dürsten.
  
  Daran wollen wir festhalten, daran wollen wir glauben,
  davon wollen wir zehren, davon wollen wir leben.
  
  Amen.
Perikope
Datum 07.08.2011
Bibelbuch: Johannes
Kapitel / Verse: 6,24
Wochenlied: 221 326
Wochenspruch: Eph 2,19