Predigt zu Johannes 6,1-15 von Eberhard Schwarz
6,1-15

Predigt zu Johannes 6,1-15 von Eberhard Schwarz

1 Danach fuhr Jesus weg über das Galiläische Meer, das auch See von Tiberias heißt.
2 Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat.
3 Jesus aber ging auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern.
4 Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden.
5 Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?
6 Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. 7 Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder ein wenig bekomme.
8 Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus:
9 Es ist ein Kind hier, das hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische; aber was ist das für so viele?
10 Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer.
11 Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, soviel sie wollten.
12 Als sie aber satt waren, sprach er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt.
13 Da sammelten sie und füllten von den fünf Gerstenbroten zwölf Körbe mit Brocken, die denen übrig blieben, die gespeist worden waren.
14 Als nun die Menschen das Zeichen sahen, das Jesus tat, sprachen sie: Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll.
15 Als Jesus nun merkte, dass sie kommen würden und ihn ergreifen, um ihn
zum König zu machen, entwich er wieder auf den Berg, er selbst allein. 


Einer ist reich
und einer ist arm,
einer erfriert
und einer hat's warm.

Einer stiehlt
und einer kauft,
einer schwimmt oben
und einer ersauft.

Einer riecht gut
und einer stinkt,
einer fährt weg
und einer winkt.

Einer hat Überfluss
und einer hat Sorgen,
einer kann schenken
und einer muss borgen.

Einer hat Hunger
und einer hat Brot.
Einer lebt noch
und einer ist tot.

Auszählreime der österreichischen Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger, liebe Gemeinde. Kinderverse, die nichts als die Wahrheit sagen in einer Welt, in der tagtäglich ausgezählt wird und ausgesondert.

Einer ist reich
und einer ist arm,
einer erfriert
und einer hat's warm.

Heute, an diesem Morgen ist das nicht so. An diesem 7. Sonntag nach Trinitatis wird nicht ausgezählt; heute wird nicht sortiert. Heute, so Johannes, haben alle Brot. Heute sind wir einander keine Fremdlinge, sondern Mitbürgerinnen und Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen. Heute hören wir eine Erzählung, in der der lebendige Gott selber zu Tisch bittet. Und alle werden satt. Und keiner hat Hunger. Und keiner ist tot.

Es ist eine wundersame Geschichte vom Lebendigsein, die uns das Johannesevangelium erzählt: Satt werden – von so gut wie nichts. Fünftausend zehren von dem, was ein Kind in seinen Händen hält: zwei „Fischlein“ – „Opsaria“ auch im Griechischen eine Verkleinerungsform.

Zwei winzige Fische und fünf Gerstenbrote. Das Billigste vom Billigen. Und trotzdem: aus diesem ‚Fast-Nichts‘ quillt förmlich der Überfluss. Fünftausend werden satt. Zwölf Körbe brechend voll bleiben übrig. Sie könnten stehen für so vieles: für zwölf Jünger, für zwölf Stämme, für das ganze Volk, sie könnten stehen für die Gemeinschaft der Menschen, für dieses große ‚Alle‘. Und sie tun es auch! Und aus der Ferne weht zu uns herüber die uralte Melodie zum Lob des großen Hirten: „Du bereitest vor mir einen Tisch … und schenkest mir voll ein“.

Liebe Gemeinde,
das Johannesevangelium nennt diese Wundergeschichte ein Zeichen. Sieben solcher Zeichen gibt es im vierten Evangelium. Zeichen, das sind Signale, die wie im Straßenverkehr auf etwas Anderes hinweisen. Sie wollen sagen: Sieh genau hin und du wirst sehen: durch dieses Brot- und Fischvermehrungswunder hindurch siehst Du ein anderes, größeres, elementareres Wunder.

Die Menschen, die mit Jesus am See und auf dem Berg sind, ahnen das sehr wohl! Sie spüren, dass es etwas Großes ist, als sie miteinander essen; als alle satt werden, als alle leben. Als keiner aussortiert ist. Und sie sagen auch, was sie empfinden: „Das ist wahrlich der Prophet, der in die Welt kommen soll“.

Nur: sie sehen nicht weit genug. Sie deuten dieses Zeichen zu klein. Und Jesus entzieht sich ihrer Deutung. Er entweicht auf den Berg, er selbst allein.

Was meint „Zeichen“ bei Johannes? Bereits das erste Zeichen, das Weinwunder zu Kana, beginnt mit einem Paukenschlag. Es ist nicht weniger als der Auftakt der messianischen Zeit, die Ermöglichung der Hochzeit, des Lebensfestes, des Überflusses an Gabe und zugleich die Vorwegnahme des Ostermorgens. Seht ihr nicht? Begreift ihr nicht? Versteht ihr, wer da ist, der Wasser in Wein wandelt, der mit Freude füllt? Der Schöpfer kommt in die Zeit. Der Logos hat sich inkarniert. Mit seiner schöpferischen Fülle und Freiheit ist er menschlich bei euch und mitten unter euch. Er heilt, er macht sehend, er macht satt, er weckt vom Tod auf!

In diesen alltäglichen Begegnungen, in diesen Menschengesten, in diesem zerbrechlichen Leben Jesu von Nazareth erscheint das wahre und große Leben, geschieht Ungeheuerliches, erscheint die schöpferische Freiheit Gottes selber.

Es war Goethe auf seiner italienischen Reise, der modernen Bildungsreise schlechthin, der in der Kirche San Giorgio in Rom mitleidigst und staunend zugleich vor zwei riesigen Wänden stand: beide je 30 Fuß lang und 20 Fuß hoch. Und auf der einen Wandseite war die Speisung mit Manna aus dem ersten Teil der Bibel abgebildet.

Und auf der anderen diese Zeichenerzählung von den fünf Broten und den zwei Fischen. Diese großen Bilder, meint Goethe, seien zwar wunderbar ausgeführt.
Aber was seien das bloß für Motive!? Warum bloß so kleinkarierte  Geschichten: Wie hungrige Menschen über ein bisschen Brot herfallen. Es müsse wohl eine Folter für diese großen Künstler gewesen sein, solche banalen Armseligkeiten zu malen und bedeutsam zu machen.

Einer hat Überfluss
und einer hat Sorgen,
einer kann schenken
und einer muss borgen.

Aber Johannes lehrt uns: gerade in diesen banalen Armseligkeiten begegnet der Herr des Lebens.

Philippus, der Jünger Philippus, steht in unserer Geschichte für die Perspektive des reisenden Goethe. ‚Es kostet unglaublich viel, diese Menschen satt zu bekommen‘, sagt er zu Jesus: „Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme“. So viel haben wir nicht. Es ist völlig aussichtslos. Und es ist Andreas, der Bruder des Simon Petrus, der das bestätigt: Das, was wir haben, zwei kleine Fische und fünf Gerstenbrote, reicht nirgendwo hin.

Einer hat Hunger
und einer hat Brot.
Einer lebt noch
und einer ist tot.

So ist das eben. … Nein, so ist es eben nicht!

Bei Johannes lesen wir, dass in dieser Begegnung, keiner aussortiert wird und keiner tot ist. Und die Sorge, der alte Dämon, wird sprachlos. Und da sind Menschen, die haben gefunden, was sie nährt und satt macht. Mehr noch: was sie verbindet. Und sie ahnen: das ist der, den sie am liebsten ergreifen und festhalten möchten, um ihn zum Brotkönig zu machen. Er macht sie satt!

Aber er entzieht sich, er geht auf den Berg, weil sie nicht verstehen, wofür dieses Brotwunder, wofür er selber steht.

"Ihr sucht mich nicht, weil ihr Zeichen gesehen habt, sondern weil ihr von dem Brot gegessen habt und satt geworden seid," (Joh 6,26) wird er wenig später zu ihnen sagen. Ihr begreift nicht, wer euch in mir begegnet: Nicht die Gabe, sondern der Geber selber in seiner Größe und Freiheit.  

Zwei Jahrhunderte nach Goethe, beschreibt der ungarische Jude und Nobelpreisträger Imre Kertész, wie eine Brot-Armseligkeit durchsichtig werden kann auf ein Großes hin. In einer seiner Erzählungen, die immer wieder um seine Erfahrungen als Junge in Buchenwald kreisen, erinnert er sich an den Moment, an dem er zu essen bekommt. Oder genauer, an den Moment, in dem er todkrank und auf einer Bahre liegend bei der Essensverteilung im Lager übergangen wird. Warum sollte man einem sterbenden Kind noch etwas geben? Sinnlos.

Ein anderer bekommt seine Ration. Im Lager nennen sie ihn den „Herrn Lehrer“. Und das sterbende Kind sieht, dass der Herr Lehrer jetzt eine doppelte Chance hat zu überleben. Und dass es selber von den anderen aufgegeben ist.

Einer stiehlt
und einer kauft,
einer schwimmt oben
und einer ersauft.

Aber dann tut dieser Lehrer etwas völlig Unvernünftiges und Gefährliches: Er tritt noch einmal heraus aus den Reihen der Häftlinge unter den Augen der SS und unter der Gefährdung seines eigenen Lebens. Und er gibt diesem Jungen seine Ration zurück. Und niemand versteht es. Und alle halten ihn für verrückt. Warum macht er das? Warum rettet er nicht seine eigene Haut? Warum verdoppelt er nicht seine eigenen Lebenschancen. Und Kertész sagt: Es gibt für diese Tat keine andere Erklärung außer der des Wunders und der Freiheit.

Sehen wir, welches Große sich darin zeigt?

Sehen die Menschen, wer ihnen in Jesus begegnet?

Was sollen sie sehen? Was sollen wir sehen? Einer der Ausleger des Johannesevangeliums hat erklärt, dieses ganze Buch mit seinen Reden und Geschichten, sei so etwas wie ein Palimpsest. Ein Palimpsest ist ein Papyrus oder eine Buchseite, die früher schon einmal beschrieben war und die man abgewaschen oder abgeschabt hat, um sie dann wieder neu zu beschreiben. Papyrus ist kostbar. Aber trotz dieses Wiederbeschreibens erkennt man noch den darunter liegenden alten Text.

Und so ist es auch hier. Unter dieser Brot- und Fischvermehrungsgeschichte liegen andere bedeutende biblische Texte, die wir heute mithören und mitlesen können. Einer davon ist die alte Wüstenerzählung Israels vom Himmelsbrot, vom Manna. Gott befreit sein Volk. Gott ernährt sein Volk in der Wüste. Er verlässt Israel nicht.

Und wieder ein Text ist die Abendmahlserzählung der anderen Evangelien – sie schimmert hindurch: Und Jesus nahm die Brote, dankte und gab sie ihnen … Und wir hören den 23. Psalm wie die Hintergrundmelodie des Ganzen: Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. ‚Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser‘.

„Es war aber viel Gras an dem Ort“, sagt das Johannesevangelium wie beiläufug. Aber es ist nicht nebensächlich. Ja, da ist viel Gras: wir sind auf einer grünen Aue. Dorthin führt uns Jesus.

Er führt uns dorthin, wo die Welt voller Wunder ist. In den Raum der Freiheit Gottes. Wo auf felsigem Boden Wein wächst, wo aus Sand Butter und Brot wird, wo aus einem Stück Materie ein Mensch wird. Wo wir dem Geheimnis des Lebens begegnen. Wo die Vernunft ins Stocken gerät. Und wo, genau besehen, alles Staunen ist.

Mehr noch: diese Zeichengeschichte führt uns allem voran zu einem Menschen, der mit seinem ganzen Wesen Überfluss ist und Geschenk. Sie führt uns zu einem, in dem wir Gott selber begegnen. Und der deshalb nicht etwa nur ein Brotkönig oder ein Prophet einer besseren Welt ist, sondern der den Menschen selber Brot ist. Fünftausend werden satt! Dieser Mensch verkörpert leibhaftig die biblischen Verheißungen von der Güte und Nähe Gottes. Er ist das wahre Überflusswunder.

Er ist es, weil er uns unseres Lebens und Gottes gewiss macht. Weil er uns gegen die Vernunft, die uns sagt: ihr werdet sterben, seinerseits sagt: Ihr werdet leben. Mehr noch: Weil er die Kraft hat, uns jetzt und alle Tage an Hoffnung reich zu machen und lebendig zu halten.

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.


Literatur:
Christine Nöstlinger, Auszählreime (http://www.lyrikline.org/de/gedichte/auszaehlreime-1420#.VaJhavm3q2s)
Imre Kertesz, Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, Berlin 1992