Predigt zu Johannes 9, 1-7 von Johannes Block
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Predigt zu Johannes 9, 1-7 von Johannes Block

Auf die Perspektive kommt es an! Wie einem Blinden die Augen aufgetan werden, so sollen heute morgen allen Hörern der Bibel die Augen aufgehen – für eine neue Perspektive, für ein neue Sichtweise. Das Lebensgefühl wird auch dadurch bestimmt, mit welchen Augen man durchs Leben geht. Auf die Perspektive kommt es an!
Gewiss, ein jeder Mensch lebt erst einmal vom „täglich Brot“(Mt 6,11). Jeder Mensch braucht Nahrung und Kleidung, Arbeit und Wohnung, um am Leben zu bleiben und um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Doch der Kampf und die Sorge um die materielle Absicherung der Existenz ist häufig übergroß und überlaut – gerade in Zeiten des Wahlkampfs. Mindestlöhne, Rentenhöhe oder bezahlbare Mieten sind wichtige Stichworte in der Debatte. In der Hitze des politischen Wettbewerbs und in der Sorge der Bürger um das „täglich Brot“ tritt häufig eine alte Erkenntnis und Lebenswahrheit in den Hintergrund:
Der Mensch lebt nicht vom Brot allein
  (Mt 4,4).
Neben der materiellen Existenz kommt es im Leben auch auf eine geistige Perspektive an. Ohne eine geistige Perspektive bleibt das Leben ziellos und inhaltsleer. Was nützt ein glänzendes Einkaufszentrum und was nützen sanierte Häuserfassenden, wenn die Seelen der Bewohner leer und hungrig bleiben? Ohne eine geistige Perspektive bleibt selbst eine materiell abgesicherte Existenz ein Goldenes Gefängnis. Wie gesagt: Auf die Perspektive kommt es an!
Der Abschnitt aus dem Johannesevangelium über die Heilung eines Blindgeborenen steckt voller Worte des Sehens – des Nicht-Sehens und des Neu-Sehens:
Jesus sah einen Menschen, der blind geboren war; Jesus antwortete: Es sollen die Werke Gottes offenbar werden; Jesus spricht: Ich bin das Licht der Welt; Jesus strich den Brei auf die Augen des Blinden; da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.
Es gibt Perspektiven und Sichtweisen, die können wir uns nicht selbst aufschließen. Es braucht einen Offenbarer, der aus blinden Augen sehende Augen macht. Dann kommt man aus dem Staunen nicht heraus, weil man auf einmal etwas zu sehen bekommt, was man auf sich allein gestellt nicht zu erkennen vermag. Für eine neue Perspektive, für eine neue Sichtweise, braucht es eines Offenbarers, eines Anstoßes von außen.
  Dazu kann es ganz unverhofft kommen an der einen oder anderen Straßenecke. Irgendwo auf einer staubigen Straße in Palästina sieht Jesus, der Nazarener, einen Menschen, der wie viele andere Blindgeborene am Wegesrand betteln muss. Das Neu-Sehen, die neue Perspektive, steht nicht in dicken Büchern und wird nicht am Grünen Tisch entschieden. Das Neu-Sehen, die neue Perspektive, beginnt mitten im Alltag in der armseligen Not eines Blindgeborenen:
Da ging der Blindgeborene hin und wusch sich und kam sehend wieder.
Das Neu-Sehen, die neue Perspektive, hat immer auch eine körperliche, eine greifbare Seite. Wenn der Offenbarer die neue Perspektive, die neue Sichtweise, offenbar macht, dann wächst zusammen, was zusammengehört: Wort und Tat, Heil und Heilung, Geist und Körper.
Fragen wir uns: Worin genau besteht die neue Perspektive, die neue Sichtweise? Und worin besteht dann die alte Perspektive, die alte Sichtweise? Blicken wir in einem ersten Schritt auf die alte Perspektive.
1. Die alte Perspektive (V 1-2)
Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?
Die Frage der Jünger repräsentiert die alte Perspektive. Ohne die Offenbarung der neuen Perspektive würde man die alte Perspektive gar nicht als alt empfinden. Denn sie ist weit verbreitet und bestimmt das Denken und Urteil von uns Menschen. In der alten Perspektive geht es um das Denken in Ursache und Wirkung, Tun und Ergehen, Schuld und Strafe. Hinter der alten Perspektive steckt ein Schuld- und Ursachen-Denken:
Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist?
Das Schuld- und Ursachen-Denken ist deshalb beliebt und verbreitet, weil es im Alltag hilfreich und notwendig erscheint. Jeder Verkehrsunfall würde zu einer unendlichen Geschichte werden, wenn man nicht den Verursacher des Unfalls ermitteln würde. Große Gerichtsverfahren wie der Prozeß um den NSU-Terror suchen nach den Schuldigen, die die Tötung ausländischer Mitbürger verursacht haben. Auch die anhaltende Euro-Krise ist immer wieder neu auf deren Ursachen zu befragen. Überall im Alltag braucht man das Schuld- und Ursachen-Denken, um zu prüfen, zu bewerten, zu urteilen, zu planen. Jede gute Schulnote, jede erfolgreiche Therapie und jedes leckere Mittagessen lässt sich auf bestimmte Ursachen zurückführen – und sei es die Kartoffel schälende Hausfrau am Sonntag in der Küche des Hauses.
Doch in jedem Gebrauch schlummert immer auch die Gefahr des Mißbrauchs. Das Schuld- und Ursachen-Denken wird zum Gefängnis, wenn es den Leisten bildet, über den das ganze Leben geschlagen wird. Dann werden Menschen auf eine bestimmte Schuld-Perspektive fixiert:
„Wer keine Arbeit hat, ist selber Schuld“; „wer kein Geld hat, hat irgendetwas falsch gemacht“; „wer ohne Beziehung lebt, ist ein seltsamer Vogel“.
Aus dem Schuld- und Ursachen-Denken heraus fallen dann Sätze wie Beton:
„Das hat er sich selbst zu verdanken“; „der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“; „wer nicht hören will, muss fühlen“.
Vielleicht ist das Schuld- und Ursachen-Denken auch deshalb beliebt, weil man andere auf ihre Schuld fixieren kann: „Das hast du verursacht und verbockt“; „du musst die Suppe schon selber auslöffeln“; „das hängt dir ein Leben lang nach“.
Halten wir fest: Die alte Perspektive besteht in einem Schuld- und Ursachen-Denken. Dieses hat in bestimmten Lebensbereichen seinen Nutzen und Vorteil. Doch es wird zum Gefängnis, wenn es Menschen auf ihre Schuld und Sünde fixiert, wenn die entdeckte Schuld und Sünde zur Zwangsjacke für ein ganzes Menschenleben wird. Dann werden Ursachen zu Haft- und Fixpunkten, die das ganze Leben festzurren und einschnüren. Dann wird das Leben durch das Schuld- und Ursachen-Denken buchstäblich ver-haftet. Dann wird eine lebenswichtige Perspektive verdeckt und verborgen - die Perspektive der unbegründbaren und der unberechenbaren Gnade. Blicken wir in einem zweiten Schritt auf diese neue Perspektive.
2. Die neue Perspektive (V 3-5)
Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.
Die Antwort von Jesus, dem Offenbarer, repräsentiert die neue Perspektive. Sie bricht hinein in die alte Perspektive: in das Schuld- und Ursachen-Denken. Dann ist die Schuld und Sünde des Menschen kein Haft- und Fixpunkt mehr, sondern die wundersame Bühne der Gnade Gottes. Die Gnade öffnet das alte Leben so, wie blinde Augen geöffnet werden: unvorhersehbar, unberechenbar, unkalkulierbar, unerklärlich, erstaunlich, verwunderlich.
Die alte Perspektive hat aus Schuld und Sünde ein Gefängnis gemacht. Die neue Perspektve macht aus Schuld und Sünde eine wundersame Bühne, auf der Gottes Werke offenbar werden. Schuld und Sünde werden zu einem Ackerboden, aus dem Neues wächst. Davon erzählt Johannes Tauler, der berühmte Prediger und Mystiker im Hochmittelalter. Johannes Tauler stellt folgendes Bild vor Augen:
Das Pferd macht den Mist im Stall, und obgleich der Mist üblen Geruch an sich hat, so zieht doch dasselbe Pferd denselben Mist mit großer Mühe auf das Feld; und daraus wächst der edle schöne Weizen und der edle süße Wein, der niemals so wüchse, wäre der Mist nicht da.
  Nun, dein Mist, das sind deine eigenen Mängel, die du nicht beseitigen, weder überwinden noch ablegen kannst; die trage mit Mühe und Fleiß auf den Acker des liebreichen Willens Gottes in rechter Gelassenheit deiner selbst. Streue deinen Mist auf dieses edle Feld; daraus sprießt ohne allen Zweifel in demütiger Gelassenheit edle, wonnigliche Frucht auf.
Das nenne ich eine gute Theologie! Eine gute Theologie sieht all die Schuld und Sünde, all den Mist und Mangel als den Stoff an, aus dem die Gnade Gottes etwas macht und an dem Gottes Werke offenbar werden. Schuld und Sünde werden - theologisch gesehen - zum kostbaren Mist, der auf dem Acker des liebreichen Gottes Getreide und Wein wachsen lässt. Das ist die neue Perspektive, die aus Schuld und Sünde etwas Neues wachsen lässt.
Halten wir fest: Die neue Perspektive sprengt das Gefängnis des Schuld- und Ursachen-Denkens auf. Jesus, der Offenbarer, öffnet die Augen für das Werk der Gnade Gottes, die aus Schuld und Sünde Neues wachsen lässt: unvorhersehbar, unberechenbar, unkalkulierbar, unerklärlich, erstaunlich, verwunderlich wie die Heilung eines Blindgeborenen. Das verstrickte und verlorene Leben gewinnt eine neue Perspektive, eine neue Sichtweise - so überraschend und so befreiend als wenn einem Blinden die Augen aufgetan werden.
3. Die Heilung eines Blindgeborenen
  (V 6-7)
Jesus spuckte auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden.Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.
Auf die Perspektive kommt es an! Auch beim Hören der Geschichte von der Heilung eines Blindgeborenen. Man kann die Geschichte von der Heilung eines Blindgeborenen im Sinne der alten Perspektive hören. Dann fragt man sich: Wie ist das möglich? Was ist die Ursache? Wie lässt sich das erklären?
  Solche Fragen sollen und müssen wir stellen: im Alltag, in der Schule, im Beruf, in der Wissenschaft. Doch das Schuld- und Ursachen-Denken darf das Leben nicht über einen Leisten schlagen und die neue Perspektive verdecken und verdrängen. Die neue Perspektive zielt nicht auf ein forschendes Fragen, sondern auf ein heilsames Wundern: Wenn einem die Augen aufgehen über das Wirken der unberechenbaren Gnade; wenn aus Schuld und Sünde, aus Mist und Mangel dennoch etwas wird; wenn aus einem fixierten, festgezurrten Leben ein befreites Leben wird; wenn aus Verlorenen Gefundene und wenn aus Blinden Sehende werden.
Uns muss die Frage nach der Ursache, nach dem Warum, gar nicht quälen und sorgen. Das Heil und die Heilung besorgt Jesus, der Offenbarer, ganz von sich allein. Dazu kann es ganz unverhofft kommen an der einen oder anderen Straßenecke wie bei einem Blindgeborenen in Palästina. All die Schuld und Sünde, all der Mist und Mangel ist nur der Ackerboden der Gnade des liebreichen Gottes:
Wo die Sünde groß geworden, dort ist die Gnade umso größer geworden
  (Röm 5,20).
Tauchen wir ein in diese Gelassenheit! Aus all der Schuld und Sünde, aus all dem Mist und Mangel, den wir mit uns herumtragen, wird Gott etwas machen.Denn es sollen die Werke Gottes offenbar werden.