Predigt zu Johannes 9, 35-41 von Dietz Lange
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Predigt zu Johannes 9, 35-41 von Dietz Lange

Liebe Gemeinde!
Dies ist der Schluss der Geschichte von der Heilung eines Blindgeborenen, mit der wir uns vor zwei Monaten beschäftigt haben. In dem Stück, das dazwischen steht, wird erzählt, dass die Leute diesen Mann zu den Pharisäern geschickt haben, den religiösen Autoritäten von damals, damit die den Vorgang beurteilen sollten. Die Pharisäer glauben die Sache nicht, denn sie soll an einem Sabbat geschehen sein. Wer so etwas an einem Sabbat macht, hat dazu keine Vollmacht von Gott. Wer aber nicht von Gott bevollmächtigt ist, kann solche Dinge sowieso nicht vollbringen. Also war Jesus nur ein Scharlatan. Mit Scharlatanen und deren Anhängern wollen sie nichts zu tun haben. Darum wird der Geheilte aus der Religionsgemeinschaft ausgeschlossen. So erzählt es Johannes.
Nun wissen wir freilich, dass Jesus und seine Jünger sich in allem Wesentlichen an die jüdische Religion hielten, in der sie groß geworden waren. Sie gehörten trotz erheblicher Streitpunkte immer dazu. Ausschluss von Christen aus der Synagoge gab es erst später. Das hat Johannes also aus seiner eigenen Zeit hinzugefügt. Trotzdem hat er den Knackpunkt richtig gesehen: Die Pharisäer entscheiden juristisch über Sinn und Wahrheit der Religion. Wer nicht nach den Paragraphen handelt, die von der Synagoge festgelegt sind – oder der Kirchenbehörde, oder auch nur der allgemeinen kirchlichen Meinung –, der kann nicht Recht haben, und der kann auch nicht dazugehören. Kommt Ihnen bekannt vor? In der Tat, das gibt es auch bei uns Christen, und zwar keineswegs etwa bloß in der katholischen Kirche. Es ist eine in allen Religionen geläufige Fehlhaltung. Weil man einem Menschen nicht ins Herz sehen kann, seine Frömmigkeit nicht sehen kann, stellt man eine Reihe von äußeren Merkmalen zusammen. Welche Partei wählt dieser Mensch? Wie verhält er sich zur kirchlichen Sitte? Wenn das nicht ins Bild passt, wird gnadenlos abgeurteilt. Dann wollen wir diesen Menschen hier nicht mehr sehen.
Das ist die eine Seite. Auf die andere Seite, auf die Seite Jesu kommt es aber eigentlich an. Dabei ist mir als erstes aufgefallen, dass die Geschichte mit der Heilung des Blindgeborenen nicht zu Ende ist. Wenn es nur um so eine Heilung zu tun wäre, dann müsste doch mit dem Erfolg eigentlich Schluss sein. Der Blindgeborene ist nun gesund, und das war's. Nächster Patient. Hauptsache gesund, wie wir so gerne sagen. Aber was ist dann mit einem Menschen, der weiß, dass er nie wieder gesund wird? Der vielleicht Parkinson hat oder dement ist und nicht geheilt werden kann? Gibt's für den keine Hauptsache mehr, sondern nur noch Nebensächliches? Ist er vielleicht sogar selbst zu einer bloßen Nebensache geworden? Lebensunwertes Leben, nannten die Nazis das. Das ist die letzte Konsequenz von "Hauptsache gesund".
Natürlich ist es eine tolle Sache, wenn ein Blinder sein Augenlicht zurückgewinnt. Da ändert sich sein Leben grundlegend. Er kann sich nun wieder selbst orientieren, anderen Menschen ins Gesicht blicken, ist nicht mehr völlig auf fremde Hilfe angewiesen. Ich will das gar nicht klein reden. Und doch ist das eben nicht die Hauptsache. Gesundheit vergeht wieder. Irgendwann trifft jeden von uns die letzte Krankheit, die unser Ende bedeutet. Was gibt uns dann Halt? Darum geht es in unserer Geschichte.
Jesus geht dem Geheilten nach. Er hakt die Sache nicht in seinem Pflichtenkalender ab. Es geht ihm nicht um Programmpunkte oder Paragraphen, es geht ihm um diesen Menschen. Und für den steht das Wichtigste noch aus, nämlich: "Glaubst du an den Menschensohn?" Nicht etwa: Glaubst du das, was man von dem Menschensohn, von dem Gesandten Gottes alles so glauben muss. Sondern: Setzest du ein ganzes Vertrauen auf diesen Gesandten Gottes, und damit auf Gott selbst und auf keinen anderen? Und dann gibt sich Jesus selbst als diesen Gesandten zu erkennen. Auf diese Anrede hin geht dem Geheilten nun erst das eigentliche Licht auf, dass er sein neues Leben Gott zu verdanken hat, und er glaubt an Jesus. Von alleine wäre er nicht darauf gekommen. Nicht die eigene Anstrengung, sondern eine menschliche Anrede schafft Glauben, restloses Vertrauen zu Gott. Das ist bis heute so. Jesus spricht heute durch seine Jünger, durch andere Christen zu uns. So ist auch in uns der Glaube entstanden.
Gottes Rede an uns ist nun aber weit mehr als eine friedliche oder gar harmlose Weitergabe kirchlicher Tradition. Es geht darin immer um unser ganzes Leben. Jesus und die Pharisäer, auch die christlichen Pharisäer, das ist darum auch kein bloßer Meinungsunterschied wie viele andere. Sondern da geht es um  zwei ganz verschiedene Arten von Religion. Bei Jesus klingt das so: "Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen." Für Gericht kann man auch sagen: An ihm scheiden sich die Geister. Dieses Gericht geschieht jetzt, nicht erst am Ende der Welt.
Worin besteht die Scheidung der Geister? Jesus ist gekommen, um die Blinden sehend zu machen und die Sehenden blind. Das ist unheimlich. Die Sehenden sollen blind werden? Man kann die Pharisäer verstehen, die das wütend macht. Zuerst fragen sie empört: "Sind wir etwa auch blind? Das ist doch unverschämt!" Jesus antwortet: "Ihr seht klar genug und habt in vielem ganz recht, auf den ersten Blick jedenfalls. Aber im Grunde seid ihr tatsächlich blind." Die Sehenden, das sind Leute, die über Gott bestens Bescheid wissen. Das ist beileibe nicht alles falsch, im Gegenteil. Mancher frühere Ausleger wollte aus den Worten Jesu herauslesen, dass er die jüdische Frömmigkeit in Bausch und Bogen verwirft. Nein, so ist das nicht. Vieles, was die Pharisäer über Gott und über das menschliche Leben sagen, ist ganz richtig. Aber es ist eine äußerliche Richtigkeit. Lauter richtige Sätze, in Paragraphen gefasst. Paragraphen, nach denen man andere aburteilen kann. Paragraphen, die nicht in einem persönlichen Gottesverhältnis wurzeln. Deswegen ist all das Richtige eben nicht wahr. Wo nicht das Herz sich von Gottes Liebe leiten lässt, da ist bei allem Licht des Verstandes in Wirklichkeit tiefste Finsternis.
Und nun zurück zu Jesus. Er macht die Blinden sehend. Er macht uns sehend, denn aus uns selbst heraus sind wir auch blind für das Wesentliche. Gott selbst wirft durch Jesus Licht auf Sinn und Zweck unseres Lebens. Ihm allein verdanken wir dies. Das heißt nicht, dass all unser Nachdenken über Gott, über die Schicksale, die uns getroffen haben, überflüssig wäre. Im Gegenteil. Wir brauchen auch nicht die drängenden Fragen zu unterdrücken, die uns umtreiben, wenn wir zum Beispiel schwer krank sind. Das wird der Blindgeborene auch nicht getan haben. Aber unsere Fragen, auch die vorwurfsvollen, auch die Gott anklagenden Fragen, sollen uns für seine Gegenwart öffnen. Dann kann es geschehen, dass Gott auch uns wieder sehend macht und uns neuen Mut schenkt.
Sicher gibt es keine Garantie dafür, dass das auch wirklich passiert. Oft genug rauscht es an uns vorbei, wenn wir auf unseren Glauben angesprochen werden. Das ist ja auch meistens nicht mit so einem spektakulären Ereignis verbunden wie mit einer gänzlich unerwarteten Heilung. Aber selbst bei so etwas sind wir geneigt, bloß an das Können der Ärzte zu denken. Wenn es dagegen nicht gut ausgeht, packt uns wohl der Zweifel, ob Gott es denn wirklich gut mit uns meint, oder ob er vielleicht sogar abgedankt hat. Und doch spricht er weiter zu uns, sogar durch Unglück und Leid. Wir sollen nur nicht die Ohren dafür verstopfen.
Wenn wir auf diese Weise Sehende sind, dann ist es damit aber nicht zu Ende. Wem Gott die Augen öffnet, den lässt er die Welt im Licht seiner Liebe sehen. Das erschöpft sich nicht in stiller Betrachtung, die man ganz beschaulich für sich genießen kann. Gott öffnet uns die Augen, damit wir dafür frei werden, uns den Herausforderungen des Lebens zu stellen, statt ins Leere zu gucken oder wegzugucken. Der heutige Sonntag liefert uns ein praktisches Beispiel frei Haus. Es sind Bundestagswahlen heute. Es wäre so bequem zu sagen: "Och, die da oben machen doch sowieso was sie wollen, da ist es ganz egal, ob ich zur Wahl gehe oder nicht." Vielleicht meint sogar der eine oder andere, die Kirche solle einem doch sagen, wie man wählen solle, es sei doch alles so unübersichtlich, und die Parteien wollen doch alle ungefähr dasselbe. Das ist eine denkfaule Auskunft. Gott hat jedem von uns eigene Augen zum Sehen gegeben. Die helfen uns, Entscheidungen zu treffen. Wer seinen Halt in Gott gefunden hat, der übernimmt nach dem Maß seiner Kräfte und Fähigkeiten Verantwortung. Und die ist nicht Grund zum Jammern, sondern zur Freude.
Amen.