Predigt zu Lukas 12, 42-48 von Franz-Heinrich Beyer
12,42

Predigt zu Lukas 12, 42-48 von Franz-Heinrich Beyer

Liebe Gemeinde,
in dieser Zeit, mitten im Monat November, in den letzten Tagen des Kirchenjahres sind es nicht nur die Worte, die predigen, nicht nur der Bibeltext, der einer  Predigt zugrunde liegt, nicht allein die Worte einer Predigt. Vieles, was diese Zeit prägt, wirkt auf uns ein. Der Nebel, der sich an manchen Tagen nur zögernd auflöst, um das Sonnenlicht durchscheinen zu lassen, scheint ein Bild unserer Stimmung zu sein. Und die Blätter, die von den Büschen und Bäumen auf den Erdboden fallen sind schon lange zum Sinnbild dieser von Endlichkeit und Abschied bestimmten Jahreszeit geworden. Und so vermögen die Gedichtzeilen von Rainer Maria Rilke diesem Empfinden noch immer den gültigsten Ausdruck zu geben.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. 
              Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
              unendlich sanft in seinen Händen hält.
Aber da ist auch das  Kirchenjahr. Und die Gedenktage in dieser letzten Woche des Kirchenjahres bringen manches uns jetzt Bewegende zum Ausdruck, geben Anlass, dem nachzusinnen.
Zurück liegt der Volkstrauertag, das Gedenken an die Gefallenen in den vergangenen Kriegen, an die unzähligen hilflosen Opfer in den Kriegen unserer Zeit und unter Gewaltherrschaft. Morgen der Buß- und Bettag, ein Wegzeichen, dass Innehalten-Können, dass Innewerden und Sich-Befragen-Lassen bei Menschen Erleichterung und Befreiung bewirken kann.  Und vor uns liegt der Totensonntag  bzw. der Ewigkeitssonntag. Wir werden auch hier hingewiesen: Unser Leben ist wichtig, unser Leben ist hoffentlich schön und erfüllt, unser Leben ist kostbar. Und doch wird noch etwas anderes deutlich: Die Perspektive, unter der wir unser Leben betrachten, sie kann, ja sie muss einfach weiter sein als die Perspektive des Alltags. Unser Leben, wie es ist, wir verdanken es nicht uns selbst. Unser Leben – es gäbe es nicht oder es wäre markant anders ohne die Menschen, die nicht mehr unter uns sind und deren wir in diesen Tagen besonders gedenken. Und so kann uns solches Gedenken gut tun. Es macht unser Leben reicher. Und es ins Bewusstsein, dass auch unser eigenes Leben einen Anfang hatte und einmal ein Ende haben wird.
Manchmal mag es uns leichter fallen, mit diesen Gedanken umzugehen, mit dem so scheinbar selbstverständlichen Wissen um die Begrenztheit jedes menschlichen Lebens. Aber es fällt den Menschen in unserer Zeit wohl zunehmend schwerer, Gedanken an diese Begrenztheit zuzulassen. Und doch, gab es immer wieder auch Menschen, die es anders zu sehen vermochten. Vor reichlich drei Jahrzehnten schrieb die Schriftstellerin Maxi Wander, mit 44 Jahren bereits von der todbringenden Krankheit gezeichnet, einmal in einem Brief diese Zeilen: „Und ich genieße unseren Garten, lege eine Platte auf. Bereite uns ein gutes Essen … Wir wissen nicht, was wir haben, erst wenn die Wände zittern und der Boden unter unseren Füßen wankt, wenn diese Welt einzustürzen droht, ahnen wir, was Leben bedeutet …“.
Wenn wir ein Lebensende in unserer Familie oder im Freundeskreis erleben, so erscheint uns jenes Leben oft ein abgebrochenes Leben zu sein. Die Begrenztheit des Lebens bei einem nahestehenden Menschen zu ertragen erscheint als noch schwerer, als sich den Gedanken an das eigene Sterben zu vergegenwärtigen.
Vorhin, in der Schriftlesung haben wir das große Bild von dem neuen Himmel gehört und vor Augen gestellt bekommen. Dort,  heißt es da,  und dann wird Gott nahe sein, ganz nahe. „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen,  und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; …“(Apk 21, 4a).
Erinnern wir uns noch einmal an den Predigttext aus dem Lukasevangelium. Jesus spricht da von einem Herrn, einem Grundbesitzer, von dem das Wohl zahlreicher Menschen abhängt. Als er auf Reisen gehen will überträgt er die Verwaltung einem Mitarbeiter, einem Verwalter. Diesem mutet er zu und ihm traut er zu, dass er in seiner Abwesenheit die Geschäfte führt und den anderen Mitarbeitenden „zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht“. So also hatte der abgereiste Herr gehandelt, gerecht und zuverlässig. Und das ist es, was er dem von ihm beauftragten Verwalter auch zutraut – dass jener gerecht ist und zuverlässig.
Wir wissen nicht, in welche konkrete Situation der frühen Christenheit hinein diese Worte einmal gerichtet waren. Aber es sind Worte, die auch uns heute aufhorchen lassen und nachdenklich machen. Und das auch gerade in dieser so besonders bestimmten Zeit am Ende des Kirchenjahres. Mit diesen Worten wird uns eben nicht ein klares Verhaltensmuster vorgegeben. Vielmehr werden wir als Hörende hineingenommen in eine Konstellation, die bestimmt ist von Erfahrungen des Abschieds und der Abwesenheit, der Erwartung sowie der Frage nach der Lebensgestaltung. Es lohnt sich wirklich, die unterschiedlichen Personen, von denen die Rede ist, einmal genauer in den Blick zu nehmen und ihre Perspektive aufzunehmen.
Da ist  zunächst der Besitzer, der auf Reisen gehen will. Er hat stets dafür gesorgt, dass die von ihm abhängigen Menschen das hatten, was ihnen das Leben ermöglichte. Mehr noch – er und seine Gegenwart stehen dafür, dass sie nicht nur die materielle Lebensgrundlage haben, sondern dass sie auch in Ruhe, ohne Angst leben können. Kann er, der Besitzer, es verantworten, auf Reisen zu gehen? Er muss und er kann für die Zeit seiner Abwesenheit sorgen, indem er einen Verwalter findet, der handelt, in Verantwortung sowohl gegenüber dem befristet abwesenden Besitzer, aber auch gegenüber den Menschen, die von dem Besitzer abhängig sind.
Und da sind diese Menschen, die darum wissen, dass sie sich ihre Lebensgrundlagen nicht selbst schaffen können. Das Wissen um den Besitzer und um seine Gegenwart ist für sie Fundament für ein ruhiges und geordnetes Leben, frei von materieller Not und von existenzieller Unsicherheit. Und all das gerät mit der angekündigten Abwesenheit des Besitzers in Bewegung. Aus Gewissheit kann Ungewissheit werden, an die Stelle von Gelassenheit kann Verängstigung treten. Fragen brechen auf: Wie lange wird die Abwesenheit dauern? Und der eingesetzte Verwalter, wird man auf seine Zuverlässigkeit bauen können?
Zuletzt geht der Blick auf die Person des Verwalters. Ihm wird Entscheidendes zugetraut. Natürlich setzt der Besitzer bei dem Verwalter seines Besitzes die notwendigen fachlichen Kenntnisse voraus. Aber er traut dem  Verwalter  auch die Verantwortlichkeit für das Leben der abhängigen Menschen zu, dass „er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zustehe“. Ein solches Zutrauen kann eine Last sein; ein solches Zutrauen kann niederdrücken. Aber es kann auch Quelle von Kraft und Durchhaltevermögen sein; und solches Zutrauen kann zur Grundlage von wahrhaft menschlichem Verhalten werden. Der Verwalter weiß, dass die Zeit seiner Verantwortung, aber auch seiner Entscheidungsfreiheit befristet ist.
In der beschriebenen Konstellation der Personen entdecke ich etwas von dem, was wohl auch heute, in unserer Zeit Menschen, natürlich auch Christinnen und Christen empfinden.
Da ist die tastende Frage nach dem, was – angesichts des „Fallens“, wie wir es in dieser Zeit um uns herum wahrnehmen, – was uns da Orientierung gibt, dazu angetan ist, dass aus Unsicherheit Gewissheit werden kann. Die biblische Überlieferung stellt in zahlreichen Bildern und in immer neuen Stimmen eine solche Perspektive vor unsere Augen und Ohren. Die Schriftlesung vorhin, aber auch das zuletzt gesungene Lied bringen uns eines dieser Bilder nahe – Die Welt; wie wir sie erleben und mitgestalten, sie ist wichtig, im Schönen wie im Bedrohlichen, aber diese Welt ist nicht das Einzige, nicht das Letzte. Mit den Worten des Lieddichters Kurt Marti ausgedrückt: „Der Himmel, der ist, ist nicht der Himmel der kommt.“ Der Himmel, der kommt, das ist der kommende Herr. Und dieser Kommende ist kein Unbekannter, dessen angekündigtes Kommen Unsicherheit und Angst verbreiten müsste. Der Kommende ist, wie es im Gleichnis Jesu zum Ausdruck gebracht wird, der Vertraute, der, mit dem die Erfahrungen von Verlässlichkeit und Sicherheit verbunden sind, nämlich dass „er ihnen zur rechten Zeit gibt, was ihnen zusteht“.
Eine solche Perspektive kann dazu angetan sein, die Begrenztheit des Lebens aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten und dabei auf manches neu aufmerksam zu werden. Dazu zwei Hinweise:
Da ist zunächst noch einmal eine Passage aus einem Brief der Schriftstellerin Maxi Wander. Wir lesen da: “… Optimismus ist gut, aber der muss ja eine Quelle haben. Wenn ich sehe, wie viel seelisch kranke, deprimierte, hoffnungslos „Gesunde“ überall leben, frage ich mich, aus welcher Quelle meine Hoffnung kommen soll. Am ehesten findet man sie noch in der Arbeit, die einem Freude macht. …Eine andere Quelle – so seltsam das klingen mag – ist der Gedanke an den Tod. Ich lebe viel intensiver und dankbarer, seitdem ich weiß, dass ich vielleicht bald sterben könnte, dass Leben gar nicht so selbstverständlich ist und jederzeit abrufbar. Daran denken nur wenige Menschen. … Leben, das ist … sich an den kleinen Dingen freuen, und die großen nicht ganz aus den Augen verlieren, sich verantwortlich fühlen für alle um uns herum, helfen, wo es geht, sich selber dabei nicht verlieren.“
Und noch auf etwas anderes möchte ich hinweisen. Gerade jetzt geht in vielen Gemeinden die Friedensdekade zu Ende. Auf Initiative aus der evangelischen Jugend in evangelischen Gemeinden zunächst im Jahr 1980 in Ostdeutschland eingeführt, etwas später auch in Westdeutschland, ist die Friedensdekade am Ende des Kirchenjahres inzwischen für viele Gemeinden zu einer Institution geworden. „Frieden schaffen ohne Waffen“ und „Schwerter zu Pflugscharen“ unter diesen Themen waren die täglichen Gebete für den Frieden und das öffentliche Geläut an diesen Tagen zu ein Angebot für Menschen über den Bereich der Kirchengemeinden hinaus, sich mit ihrem Engagement für Frieden und Gerechtigkeit hier einzubringen. Und so sind die Friedensandachten in den Gemeinden in Ostdeutschland zu einer der Wurzeln der Bürgerrechtsbewegung in der DDR geworden. Friede und Gerechtigkeit sind nicht teilbar, das konnte hier gelernt und auch praktiziert werden. Und darum geht es auch in unserer Zeit. Der Einsatz dafür vor Ort lohnt – auch und gerade im Bewusstsein der Begrenztheit des eigenen Handeln-Könnens.
Wir können etwas tun; wir werden ermutigt, Fantasie zu entwickeln für das Leben in seiner Befristung; wir können uns einsetzen für Frieden und Gerechtigkeit in der Nähe und in der Ferne. Denn uns wird etwas zugemutet und etwas zugetraut – unsere Begabung zu entdecken und verantwortlich handeln zu können – und das im Vorschein der verheißenen Zukunft. Noch einmal mit den Worten des Lieddichters Kurt Marti: „Der Himmel, der kommt, grüßt schon die Erde, die ist, wenn die Liebe das Leben verändert.“
 

  
     Rainer Maria Rilke, Herbst (Die Blätter fallen), Strophe 3 und 4.
  
  
     Maxi Wandere, Leben wär‘ eine prima Alternative. Tagebücher und Briefe, hgg. Von Fred Wander, 1999 (4. Aufl.), 46.
  
  
     Evangelisches Gesangbuch, Nr. 153, Vers 1.
  
  
     Maxi Wander, a.a.O., 221.
  
  
     Evangelisches Gesangbuch, Nr. 153, Vers 5.