Predigt zu Lukas 13,6-9 von Maximilian Heßlein (aktualisiert nach den Anschlägen)
13,6-9

Predigt zu Lukas 13,6-9 von Maximilian Heßlein (aktualisiert nach den Anschlägen)

Liebe Gemeinde,

drei Jahre ist der Herr des Weinbergs nun gekommen und hat nichts gefunden. Drei Jahre hat er gehofft. Drei Jahre, so vermute ich es, hat er sich gefreut auf reife, süße, das Leben bereichernde und bejahende Früchte. Drei Jahre ist er enttäuscht worden. Drei Jahre keine Frucht.

Jetzt steht er da vor seinem Weingärtner. Zornig ist er. Es ist genug. Der Baum ist zu nichts nütze. „Hau ihn ab!“

Der Weingärtner aber zögert. Nein, es ist noch nicht zu spät. Der Weingärtner hat den Baum begleitet in seiner Zeit. Er weiß darum, wie es in diesen Jahren im Weinberg gewesen ist, was der Baum erfahren hat. Es war bewegte Zeit.

Der Weingärtner blickt zurück. Der Vorhang der Geschichte öffnet sich.

"Herrgott im Himmel, sieh unsere Not / wir Bauern haben kein Fett und kein Brot / Flüchtlinge fressen sich dick und fett / und stehlen uns unser letztes Bett / Wir verhungern und leiden große Pein / Herrgott, schick das Gesindel heim".

Was vermuten Sie, liebe Gemeinde? Wann ist dieser Text entstanden, den ich nicht wage, ein Gebet zu nennen? – Vor einer knappen Woche in der Reaktion auf die Anschläge in Paris oder vielleicht heute Morgen im Blick auf die Bilder aus derselben Stadt? Vor einem Monat oder vielleicht doch schon vor einem Jahr? Oder vielleicht vor 23 Jahren als die letzte große Diskussion und Abwehr von fliehenden Menschen durch das Land zog, als die Häuser brannten in Solingen und Rostock, in Mölln wie schon zuvor in Hoyerswerda?

Wahrscheinlich vermuten Sie es schon: Der Text ist viel älter. Er ist entstanden vor ziemlich genau 70 Jahren in der Umgebung von Waiblingen und Aalen, also im Bereich der Schwäbischen Alb, eines der Kernlande Südwestdeutschlands.

Gemeint aber  waren nicht etwa irgendwelche Menschen aus Syrien oder dem Irak. Nein, gemeint waren Menschen, die damals aus dem Osten kamen. 14 Millionen sind es gewesen. Aus dem deutschen Osten. Sie kamen aus Breslau und aus Königsberg. Sie kamen aus Memel, aus Danzig und Stettin, aus Pommern und Schlesien aus den Sudeten und aus Bessarabien, aus West- und aus Ostpreußen. Sie sprachen Deutsch. Sie waren evangelische oder katholische Christen. Und sie hatten alles verloren.

Der zweite Weltkrieg vorbei. Die Barbarei Deutschlands in und an der Welt offenbar. Das Land am Boden, gebunden von der schwersten Schuld, die Menschen auf sich laden können. Der Rachen der Hölle war weit geöffnet. Nun schlug die Gewalt um und sie traf vor allem die Menschen im Osten Deutschlands. Die zahlten auf deutscher Seite letztlich die Zeche für die Verbrechen davor.

Nicht genug nämlich, dass sie Heimat verloren und auf der Flucht so viele ums Leben kamen und auseinandergerissen wurden. Nein, nicht genug damit. Im Westen angekommen, begegnete ihnen neben solcher Schmähung, wie ich sie oben zitiert habe, weitaus abstoßenderes. Die Flüchtenden wurden wegen ihrer angeblich germanisch-slawischen Blutmischung als fremdrassig angesehen. Sie seien in kultureller wie in geistiger Hinsicht fremd. Manch einer wünschte sie gar in den Kasten nach Auschwitz. Ein Gesochse, das nun auch noch auf Erntehelfer und Zwangsarbeiter aus dem Osten folgte. Polacken und ein dahergelaufenes Gesindel mit ihrem rollenden R. Ein Flüchtlingspack eben.

Worte, die bekannt klingen in diesen Tagen. Worte, die verstören. Ist es egal, wie fremd wir sind? Fremd bleibt fremd und soll doch da bleiben, wo es hingehört?

Welche Frucht ist daraus erwachsen, liebe Gemeinde? Gibt es eine?

Die Schrift sagt: Der Herr des Weinbergs kommt. Frucht findet er keine.

Der Weingärtner sieht weiter in die Geschichte. Was sieht er?

Der Weingärtner sieht die Auswandererhallen in Hamburg. Zwischen den Jahren 1850 und 1934 sind aus diesen Hallen über fünf Millionen Menschen in die USA ausgewandert. Der größte Teil davon waren Deutsche. Sie flohen vor Hunger und Armut, vor politischer Repression, manche auch immer noch aus Glaubensgründen. Sie flohen einem besseren Leben entgegen. Bereits 1870 waren unter den damals 40 Millionen US-Amerikanern sechs Millionen Deutsche.

Einer von ihnen schwärmte:  "Die große Fruchtbarkeit des Bodens, dessen ungeheure Ausdehnung, das milde Klima, die herrlichen Wasserverbindungen, der durchaus freie Verkehr in einem Raume von mehreren tausend Meilen, die vollkommene Sicherheit der Personen und des Eigenthumes, bei sehr geringen Staatslasten, das ist es, was man als die eigentlichen Pfeiler der glücklichen Lage der Amerikaner zu betrachten hat. In welchem andern Lande der Erde findet man dieses alles vereint?"

Und ein anderer schreibt in seiner "Aussicht in eine heitere Zukunft": "Der rechtliche, kluge und tätige Mann lebt nirgends so gut, so frei, so glücklich als in Amerika, der ärmste besser als der in Europa zwei Stufen höher stehende.“

Amerika das positive Gegenbild zum armen Kartoffelland Deutschland.

Kennen Sie das irgendwoher in diesen Tagen? Ersetzen Sie doch einmal in diesem Bericht Amerika durch Europa und Europa durch Syrien oder den Irak, durch Eritrea oder meinetwegen auch durch ein Land wie Kamerun, in dem es weitgehend friedlich ist, aber wirtschaftlich katastrophal.

Wirtschaftsflüchtlinge waren die Menschen damals. So jedenfalls werden sie heute genannt. Sie sind gegangen, weil kein Leben mehr möglich war. Die Parallelen zu heute bleiben erschreckend.

Die Überfahrt in die neue Zukunft war gefährlich. Die Menschen waren zuvor auf Pferdefuhrwerken oder zu Fuß unterwegs. Alleine, in kleinen Gruppen oder in ganzen Karawanen. Sie sind nicht über die Balkanroute gekommen, sondern quer durch Deutschland. Nach Hamburg, nach Bremerhaven oder gleich nach Le Havre oder nach Liverpool. Manchmal haben die schon in Amerika ansässigen Verwandten, die vorausgegangenen jungen starken Männer das Geld für diejenigen geschickt, die nachkommen sollten in ein besseres Leben. Frauen, Kinder, Verwandte. Sie schickten keine Euros, sondern die Fahrkarten für die großen Schiffe.

Bevor die Schiffe abfuhren, lebten und warteten die Menschen in Scheunen und auf Dachböden unter hygienisch katastrophalen Bedingungen auf eine bessere Zukunft.

Wochenlang dann die Überfahrt auf den Schiffen, zusammengepfercht, wieder den Krankheiten und nun auch den Schiffskatastrophen hilflos ausgeliefert. Die Reise dauerte zu Land und zu Wasser mithin ein halbes Jahr.

Das Ankommen in der neuen Welt war schwierig. Auch diese Einwanderer wollte mit ihren Eigenarten keiner haben.

Ein Historiker vermutet, dass letztlich deutsche Stetigkeit, Beharrlichkeit und zähe Festigkeit die amerikanische Gesellschaft so bereichert hat, dass die Integration gelang.

Welche Frucht ist daraus erwachsen, liebe Gemeinde? Gibt es eine?

Die Schrift sagt: Der Herr des Weinbergs kommt. Frucht findet er keine.

Der Weingärtner aber sieht wieder zurück. Nicht mehr so weit. Nur ein paar Jahre.

Er sieht einen Österreicher und einen Ungarn, die im Sommer 1989 die Grenze öffnen. Die Mauer fällt. Er sieht den kürzlich verstorbenen Günther Schabowski, der etwas von neuen Reiseregelungen sagt, die nach seiner Kenntnis sofort in Kraft treten. Er sieht vor Freude weinende Menschen, die sich am Grenzübergang Bornholmer Straße noch in derselben Nacht in den Armen liegen und Sekt aus der Flasche trinken. Die Mauer muss weg. Die Mauer ist weg. Europa wird eins. Das Leben wird besser. Eine neue Zukunft. Frieden und Gerechtigkeit. Wir gehören zusammen.

Keiner muss mehr fliehen. Ihr seid willkommen. Ob ihr aus Berlin oder Frankfurt an der Oder seid, aus Leipzig, aus Cottbus, aus Chemnitz, aus Erfurt oder auch aus Dresden. Es soll ein besseres Leben werden.

Endlich wird die alte Losung der Französischen Revolution Wirklichkeit: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Unter uns. Die Hoffnung ist groß in diesen Tagen.

Ich war in Dresden in dieser Zeit. Habe die Frauenkirche gesehen. Diesen schwarzen Steinhaufen, der beim furchtbaren Bomben- und Feuersturm über der Stadt im Februar 1945 übrig blieb. Die Stadt in dieser Nacht des Todes war voll besetzt mit Flüchtlingen aus dem Osten. Unzählige Tote.

Übrig nur der schwarze Steinhaufen der Frauenkirche. Das Bild einer Apokalypse. Habe es gesehen als ein dunkles Symbol des Frevels, den dieses Land an den Menschen begangen hat. Heute strahlt die Kirche wie die Stadt und das Land im Glanz neuen Lichtes. „Es ist vom Herrn geschehen und ist ein Wunder vor unseren Augen!“, spricht der Glaube.

Nun kommt der Herr des Weinbergs ein drittes Mal, liebe Gemeinde. Welche Frucht findet er? Er sieht zarte Triebe des Bemühens und der Sorge. Eine große Hilfsbereitschaft im Land. In weiten Teilen Europas gibt es Menschen, die eine neue Zukunft für die Drangsalierten und Gepeinigten, für die Terrorisierten auf der Flucht bereiten.

Die jungen Triebe waren kräftig vor kurzer Zeit. Jetzt drohen sie, wieder zu verdorren.

Sie drohen zu verdorren, weil Angst, echte oder vorgeschobene, um sich greift und die Herzen der Menschen verhärtet. Sie drohen zu verdorren, weil die Welt immer gewalttätiger wird. Und wer, Ihr Lieben, wollte in diesen Zeiten des Schreckens, der Schmerzen und der Trauer nicht auch von der Angst wissen, die uns betrifft, die sich manchmal nur in einem kleinen mulmigen Gefühl ausdrückt. Die Zukunft des Lebens liegt in tiefer Dunkelheit.

Und nun hier, in unserer gesellschaftlichen Mitte findet der Herr des Weinbergs Frucht. Aber die ist nicht süß und nicht saftig. Die hat kein Leben. Die hat auch keine Zukunft. Da ist kein Ja. Nur ein Nein.

Die Menschen in Dresden wollen wieder Zäune und Mauern bauen. Und sie sind nicht allein.

Manche schlachten die zutiefst betrauerten Opfer des Terrors für ihre politischen Interessen und ihre Abschottungs- und Ausgrenzungsphantasien aus. Die Toten der Gewalt werden  gleichsam noch einmal getötet.

Schande darüber, weil hier nicht nur versucht wird, die faulen Gedankenfrüchte dieser Gesellschaft zu ernten. Hier werden auch die alten Idealen Europas – Sie erinnern sich – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit verhöhnt.

Abschottung statt Aufbau. Krieg statt Frieden. Die Angst dient der Einschränkung. Was Terroristen nicht können, das erledigen wir selbst?

Keiner, der sagt: Ja, diese Menschen kommen zu uns, weil wir gefehlt haben mit unseren Waffen, mit unserer Wirtschaftsordnung, mit unserem Reichtum, mit dem Umgang mit unserer eigenen Geschichte in Deutschland und in Europa. Keiner, der sagt: Ja, diese Menschen kommen zu uns, weil sie nach unserem Leben und unserem Glück suchen und es teilen wollen. Und das ist recht.

Keiner mehr, der der Kanzlerin öffentlich beipflichtet und in aller Ruhe sagt: Wir schaffen das. Es wird anstrengend und schwer. Es ist eine große Herausforderung. Es geht um uns und unsere Kinder. Es geht um die Menschen, die zu uns kommen. Es geht um das Leben der Freien, der Gleichen, der Geschwisterlichen. Es geht um eine neue Ordnung der Welt.

Kaum einer, der sagt: Ich traue auf die Kraft, die uns Menschen von Gott mitgegeben ist, und ich höre, wenn er spricht: „Fürchte dich nicht!“

In Europa wird wieder nahezu unbeschränkt nach den Waffen gerufen. – Das macht die Toten nicht lebendig. Wer sorgt sich um das Leben?

Liebe Gemeinde, der Herr des Weinbergs findet keine Frucht, die zum Leben führt.

„Hau ihn ab!“, spricht er zum Weingärtner. Das ist sein richtendes Wort. Sein Urteil steht.

Der Weingärtner aber ringt dem Herrn noch ein Jahr ab. Er will selbst Hand anlegen. Er will eine neue Zukunft schaffen: Leben. Frucht. Liebe.

„Ich“, sagt der Weingärtner, „ich mache alles neu!“ So spricht er. Spricht es von seinem Thron und Richterstuhl. Er füllt dieses Wort mit seinem Leben. An den Streben des Kreuzes macht er es fest. „Ich mache alles neu! Fürchte dich nicht!“

In seinem Wort stehen wir, Frucht zu bringen. Es ist ein Jahr. Dieses Jahr entscheidet über dieses Land und diesen Kontinent. Es entscheidet über Ihren und meinen Weg in die Zukunft. Dieses Jahr entscheidet über Wohl und Wehe für Millionen von Menschen. Welche Frucht bringen wir, liebe Gemeinde? Amen.