Predigt zu Lukas 6,38-46 von Heinz Behrends
6,38-46

Predigt zu Lukas 6,38-46 von Heinz Behrends

Es ist ein Mitsommerabend, der Tag war heiß, die Luft ist lau. Ich sitze draußen mit Freunden auf der Terrasse, wir trinken unseren Riesling, wir reden über unsere Sommerpläne, über die Bücher, die wir gerade lesen, über unsere Kinder, wir schweigen miteinander und betrachten den Himmel, das untergehende Licht, die aufziehenden Sterne, das Spiel des Lichtes am Himmel.
Es gibt Situationen, in denen stimmt alles.
Ich bringe die Kinder ins Bett, lese noch eine  Geschichte vor, spreche das bergende Gebet und lege die Hand auf ihren Kopf. Sie schlafen ein, ich betrachte wie entspannt sie dort liegen.
Behütetes Leben.
Ach, ich könnte noch so manche Situation erzählen, in denen alles stimmt.
Wenn ich am Meer stehe, die Weite des Horizonts genieße, das leidenschaftliche Wasser, das die Küste küsst, den Gleichklang von Ebbe und Flut, das Blau des Himmels, das sich im Wasser spiegelt. Frische Luft durchzieht meine Brust. Mein Atem ist frei.
Es gibt Situationen, da stimmt alles.
Da öffnet sich das Herz, ich fühle mich voller Liebe. Ich bin beschenkt. Ich bin befreit von aller Selbstsucht, von meiner Selbstbeschäftigung, ich bin unmittelbar verbunden mit dem Leben.
Plötzlich ist nicht mehr nötig, nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit zu leben, nach dem Gesetz der Sünde. Ich mache mein Tun nicht abhängig von anderen Menschen.

Dies am Anfang zu sagen, ist wichtig, bevor ich über das Richten und über Barmherzigkeit spreche. Denn ohne diese Liebe, diese Barmherzigkeit, die ich in gelungenen Situationen geschenkt bekomme, bleibt von dem Jesus-Wort nur eine volkstümliche Weisheit.
„Was man nicht will, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“. Oder akademischer ausgedrückt: „Do ut des“. Gib so wird dir gegeben.

An der Liebe, die uns geschenkt wird, spüren wir, mit welchem Maß Gott uns misst.

Das anzuerkennen, erscheint nicht leicht zu sein.
Einleuchtender scheint das Maß zu sein, dass der große Philosoph Immanuel Kant formuliert hat. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Das ist ein Gesetz der Vernunft. Den kategorischen Imperativ nennen wir seinen Satz. Imperativ. Als wenn man das befehlen könnte.

Warum klappt das nicht?

Berthold Brechts Antwort ist genial. „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Barmherzig sein kann nur, wer es sich materiell leisten kann.

Etwas tiefer in die Seele des Menschen schaut der Schriftsteller Albert Camus. Wir haben ihn in den 70zigern und 80zigern leidenschaftlich gern gelesen.
In seinem Buch „Der Fall“ erzählt er von dem Strafverteidiger Clamence. Er ist bekannt für knifflige Fälle, die nicht nur juristischen Sachverstand, sondern auch Mitgefühl und Selbstlosigkeit verlangten. Eines Nachts, auf dem Weg in der Stadt, hört er als einziger den Schrei einer Frau, die in die Seine springt und sich das Leben nimmt. Der Richter Clemance kümmert sich nicht drum und geht unbeteiligt weiter.
Bis in die Geschichte ihn zu Hause einholt. Das Erlebnis hat ihn angestoßen, in sich selbst hineinzuschauen. Er sieht sich völlig neu. Seine Bescheidenheit erkennt  er als Selbstbeweihräucherung, weil sie einem Erfolgreichen gut ansteht. Er entlarvt seine Demut als Herrschsucht. Er will diesem Leben entkommen und wird Bußrichter –so nennt er sich jetzt- in den Slums von Amsterdam. Er will in einer immerwährenden Beichte und Buße allen Richtern das Schwert aus der Hand nehmen. „Richtet, auf dass Ihr nicht gerichtet werdet“ , er kehrt das Wort Jesu um. Aber auch er entgeht dem Gesetz des Richtens nicht. Es hat was berauschendes, zu richten über andere, in einer Welt, die Gott als Richter nicht mehr kennt.
In einer Welt, in der Gott als Richter abgesetzt ist, wird jeder zum Richter über andere.
Etliche Medien gehen mit konkreten Menschen oft gnadenloser und unbarmherziger um als Gott es jemals tun würde.
Camus lehrt, nur im Zeigen deines Doppelgesichtes können wir miteinander leben.
Die Geschichte von dem Fall des Richters ist Literatur und erscheint fern, aber sie stimmt.

Da kommen zwei Menschen zusammen. Worüber reden sie? Über andere.
Suchen ihre Informationen zusammen, tauschen sie aus, reimen sich was zu recht, bilden ein Urteil, ohne Liebe. Achtlos, Sinnlos.
In allem, was ich über andere Menschen aufpieke, steckt eine Information über mich selber drin.
Manchmal ärgere ich mich über andere. Er nimmt sich raus, was ich mir nicht traue.
Kompensation nennen die Psychologen das.

Jesus öffnet das Thema mit einem Augenzwinkern, fast hintergründigem Humor. Du siehst den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken im eigenen Auge nicht.
Ein Blinder führt einen Blinden und beide fallen in die Grube. Putzige Vorstellung. Recht hat er.

Bedeutet das nun, dass wir uns kein Urteil mehr über andere Menschen erlauben dürfen, um nicht unbarmherzig zu sein?
Luther unterscheidet zwischen einem Richten,  das einem Amt übertragen ist und dem persönlichen Richten. Richten kraft Amt darf es geben, muss es geben. Das private, persönliche Richten nicht, sagt er.

Aber muss man nicht manchmal deutlich reden, gerade unter Freunden? Was ist unsere Freundschaft wert, fragte mich ein Freund aus Studententagen, du sagst mir nie etwas Kritisches. Er hat recht. Vieles bewegt mich, ich könnte es sagen, aber ich tue es nicht.
Welches recht habe ich, zu urteilen, denke ich. Ich verschone. Wir leben in einer Schon-Kultur.
„Ich bin okay, du bist okay“, hieß ein viel gelesenes Buch vor 30 Jahren. Wir haben es verschlungen. Es bestätigte uns. Es ist alles gut. Okay. Okay.

Nur, viele Ehen scheitern an dem, was nicht gesagt wird. Wahrheiten können weh tun. Aber ohne Wahrheit keine Entwicklung einer Beziehung.

Wahrheiten müssen gesagt werden. Manchmal wird man hell wach, wenn einen jemand schüttelt.
Aber der Zusammenhang, in dem sie gesagt werden, ist wichtig. Sie muss im Kontext einer Beziehung gesagt werden.
In seinem letzten Aufsatz hat Dietrich Bonhoeffer dieses Thema durchdacht.
Er überschreibt ihn mit „Was heißt: Die Wahrheit sagen“ ( Ethik) ?
Er erzählt von einem Lehrer, der in der Öffentlichkeit der Schulklasse einen Schüler fragt: „Ist Dein Vater ein Trinker“? Der Junge antwortet: „Nein“.
Der Vater ist ein Trinker. Doch Bonhoeffer sagt, der Lehrer lügt, der Junge sagt die Wahrheit. Der Junge schützt die Familie. Der Lehrer hat kein Recht, in die Ordnung der Familie einzugreifen. „Was in der Familie vorgeht, gehört nicht vor die Ohren der Schulklasse“.
Daraus formuliert Bonhoeffer den Spitzensatz: „Wer ohne Berechtigung und ohne Veranlassung spricht, ist ein Schwätzer“.
Richten, dem anderen die Wahrheit sagen, geschehe nur in einer Beziehung, die mir ein Recht gibt zu sprechen.
So gebietet es der Geist Jesu. Das ist gelebte Barmherzigkeit.

Gott hat eine weisheitliche Ordnung errichtet. So versteht es Lukas. Am Ende wird alles wieder gegeben werden. Eine Ordnung, die sich an der Barmherzigkeit orientiert.

Und Du: Du bist überreichlich beschenkt. Gott war nicht geizig, als er Dir aus seinem Vollen in den Schoss gelegt hat. Er hat das Maß so kräftig geschüttelt, dass möglichst viel rein passt.
In den Situationen, in denen für Dich alles stimmt, da leuchtet davon auf.