Predigt zu Markus 1, 32-39 von Peter Schaal-Ahlers
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Predigt zu Markus 1, 32-39 von Peter Schaal-Ahlers

Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war,
  brachten sie zu ihm alle Kranken und Besessenen.
  33 Und die ganze Stadt war versammelt vor der Tür.
  34 Und er half vielen Kranken, die mit mancherlei Gebrechen beladen waren,
  und trieb viele böse Geister aus und ließ die Geister nicht reden; denn sie kannten ihn.
  35 Und am Morgen, noch vor Tage, stand er auf und ging hinaus.
  Und er ging an eine einsame Stätte und betete dort.
  36 Simon aber und die bei ihm waren, eilten ihm nach.
  37 Und als sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: Jedermann sucht dich.
  38 Und er sprach zu ihnen:  
  „Lasst uns anderswohin gehen, in die nächsten Städte,
  dass ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen.“
  39 Und er kam und predigte in ihren Synagogen in ganz Galiläa und trieb die bösen Geister aus.
  
  
  Liebe Gemeinde,
  
  die Geschichte einer Verweigerung haben wir eben gehört.
  Jesus kommt den massiven Wünschen, die an ihn herangetragen werden, nicht nach.
  Souverän geht er seinen Weg.
  
  Am Abend waren alle auf den Beinen gewesen, denn Jesus hatte Kranke geheilt.
  Wie ein Lauffeuer waren die Wunder, die er getan hat, durch die Stadt gelaufen.
  Heute hätten die Menschen dieses Ereignis sofort in Facebook eingestellt,  
  andere hätten telefoniert oder getwittert.
  Ganz Kapernaum  war auf den Beinen gewesen.
  Wenn man durch eine Stadt geht, ahnt man ja meist gar nicht,
  wie viele Kranke hinter den Mauern schöner Häuser verborgen sind:
  Nachdem der Sabbat vorbei ist, machen sie sich in der Abendkühle auf,
  die Bettlägrigen, die Schwermütigen, Epileptiker, Blinde und Taube.
  Humpelnd, kriechend, auf Stöcke gestützt sind sie gekommen.
  Und auch die, die nicht mehr selbst laufen konnten, sind da.
  Sie haben andere gefunden, die sie hertragen oder hergefahren haben.
  
  Ich stelle mir, welche Szenen sich da abgespielt haben mögen, Bürgerfest hoch zwei,
  Szenen voller Ausgelassenheit und Glück, Lachen und Euphorie – und Jesus in der Mitte.
  Lahme werfen ihre Krücken weg, stehen auf und springen vergnügt durch die Gassen.
  Blinde tasten staunend ihre Augen ab und beginnen voller Freude  über den Marktplatz zu tanzen.
  Schwermütige sitzen im Palmschen Garten, laden Nachbarn und Freunde zu einem Weizen ein
              und schmieden Pläne.
  Sprachlose haben  ihre Sprache wiedergefunden und erzählen ihre Lebensgeschichte, heiter und knitz.
  Stotterer rezitieren Klassiker und amüsieren sich mit Schüttelreimen.
  Besessene sehen klar, wie es um sie und die Welt steht.
  Traurige schmieden Pläne und kehren wieder - wie selbstverständlich -  in ihren Alltag zurück.
               „So ein Tag, so wunderschön wie heute“
  
  Die Jünger sind  auf Wolke sieben.
  An diesem Abend sind alle Selbstzweifel wie weggeblasen.
  Jetzt waren sie scher: Ja, es war richtig gewesen,
  Frau und Kinder, Haus und Hof zu verlassen, um Rabbi Jesus nachzufolgen.
  In seiner Nähe geschieht etwas ganz Großes; und sie sind ganz nah dabei.
  
  Am Morgen danach –
  ein ganz anderes Bild. Stille.
  Ohne die anderen zu wecken steht  Jesus  ganz früh auf.
  Er, der am Abend noch unzählige Menschen glücklich gemacht hat, 
  der Menschen geheilt und damit wieder in die Gemeinschaft zurückgeführt hat,
  er sucht nun die Einsamkeit.
  Er muss das Geschehene sortieren.
  Er entzieht sich den Menschen, die er noch am Abend begeistert hat.
  Dem Trubel der Stadt entflieht er. 
  Er sucht eine einsame Stätte, um zu beten.
  
  Rüdiger Safranski hat darauf hingewiesen, dass nur Dienstboten ständig erreichbar sein zu haben.
  Herren gehen souverän mit ihrer Zeit um.  
  Dazu gehört auch der Rückzug im Leben, Zeiten des Nachdenkens, der  Stille und Einkehr.
  
  Jesus Rückzug hat in der Geschichte der Christenheit Geschichte gemacht.
             
  Unzählige Frauen und Männer haben sich im Mittelalter, hinter Klostermauern zurückgezogen.
  So auch hier an diesem Ort. Im  Jahr 1227 haben sich hier Franziskanermönche, Migranten aus Italien, zusammengefunden, um dieses Kloster zu errichten.
  Mitten in der Stadt schufen sie sich einen Ort des Rückzugs.
  Das Gebiet hier war sumpfig, Wohnstätte der Armen und Ort der Prostitution.  Bei ihnen sahen sie ihren Platz.
  Dieser Chor, in dem die Brüder zum Stundengebet zusammenkamen, war  eine Tabuzone für die Bürger der Stadt. Weinige Schritte vor hier war zudem der Kreuzgang mit Garten. Richard Sennett[1]hat darauf hingewiesen, dass die Mönche die Klöstergärten so gestalteten, dass sie in den  melancholischer Kontemplation  versetzt wurden.  Mich berührt das, dass die Mönche die Melancholie bewusst pflegten,
  ja sogar verstärkten. Melancholie setzt ungeheure Kräfte frei.   
  
  Seit bald 50 Jahren  die Innenstadtkirchen Esslingens auch unter der Woche ganztägig geöffnet.
  Hunderte Menschen besuchen täglich diese Orte.
  Manche sitzen einfach in der Bank.
  Manche beten.
  Manche staunen über die Schönheit, die Größe des Raumes.
  Andere kommen aus kunsthistorischem Interesse.
  Wieder andere fällt zu Hause die Decke auf den Kopf.
  Sie suchen Abstand zu ihrem Leben. Vielleicht quält ein privater Konflikt  oder es drückt eine Entscheidung, die im Beruf ansteht.  Mütter finden in den Kirchen einen geschützten Ort, um ihr Kind zu stillen.
  Wer die Schwelle einer Kirche überschreitet, kommt in einen fremden Räume,
  Räume jenseits bürgerlicher Gemütlichkeit und spießiger Ästhetik.
  In diesen heilg’n Hallen wird nichts verkauft und hier gibt es auch nichts Einzukaufen!
  Dort sind Menschen in einer werbefreien Zone.
  Welch ein Augenschmaus.
  Welch ein Hörgenuss.
  Welch ein Freiraum.
  Keiner will hier etwas von dir.  Hier kannst du einfach sein.
  Dass es solche zweckfreien Räume es in der modernen Gesellschaft gibt,
  verstehe ich als  heilsame Verweigerung. 
  Die Kirchräume haben im Stadtkontext eine Botschaft.  Sie sagen durch ihr bloßes Dasein:
  Du bist nicht, was du dir erkämpfst, sondern das, was dir geschenkt wird.
  Hier kannst Du dich zurückziehen. Keiner will etwas von dir.
  
  Nun bleibt Jesus nicht allein.Genauer gesagt, er wird nicht allein gelassen.
  Petrus und ein paar andere mit ihm folgen ihm und rücken ihm auf die Pelle.
  Nach dem Erfolg des vergangenen Abends  wollen sie ihm seinen Rückzug nicht durchgehen lassen.
  In Kapernaum ist Jesus doch erst am Beginn seines Wirkens.
  Das kann eine richtig große Story werden.
  Und wir sind dabei.
  Jetzt kann er doch nicht einfach ausbüchsen,
  jetzt doch nicht, wo alles doch erst anfängt, denken sie:
  „Und als sie ihn fanden, sprachen sie zu ihm: Jedermann sucht dich.“
  
  Dass er von allen gesucht wird, beeindruckt Jesus nicht.
  Er antwortet seinen nervigen Nachfolgern:
   „Lasst uns anderswohin gehen, in die nächsten Städte,
  dass ich auch dort predige; denn dazu bin ich gekommen.“
  
  Das ist stark.
  Immerhin sind die, die Jesus suchen, Menschen die Heilung suchen.
  Schwerkranke die hoffen nach Jahren wieder gesund zu werden.
  Lahme, die so wieder gern wieder gehen würden.
  Korrupte Beamte, die ihr Leben neu ordnen wollen,
  
  Jesus lässt die Kranken krank sein, die Sterbenden lässt er sterben.
  Jesus könnte ihnen helfen, aber er will es nicht.
  Er lässt die Karawane weiterziehen.
  Das ist hart, fast grausam, unbegreiflich.
  
  Wieso kommt Jesus den Wünschen der Kranken in Kapernaum nicht nach?
  
  Jesus macht nicht das, was andere von ihm wollen.   
  In der Einsamkeit ist ihm klar geworden, dass er einen Auftrag zu erfüllen hat.
  Die Melancholie hat ihn zur Klarheit geführt.
  
  Er hat erkannt, dass der weiterziehen muss,
  Er darf sich in Kapernaum nicht verzetteln, weil er seinen Weg gehen muss.
  Wer einen Auftrag hat, der darf sich nicht aufhalten lassen.
  Wer einen Auftrag hat, der hat auch die große Freiheit,  Wünsche abzuschlagen.
  „Eure Rede sei Ja ja, nein, nein.“
  
  Liebe Gemeinde, auch wir haben einen Auftrag.
  Seit wir aus der Taufe gekrochen sind,
  seit wir von Gott beim Namen gerufen wurden,
  sind wir Gottes Kinder, sein Eigentum.
  Seit dem Geschenk der Taufe lebt Christus in uns; und wir mit ihm.
  
  Schon als Kind war ich fasziniert und zugleich erschreckt von Jesu Wort:
  „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit,
  so wird euch das Übrige  zufallen.“
  
  Mit dieser Verheißung im Rücken gehen wir unsere Wege.
  Und weil wir einen Auftrag haben,
  gehen wir diese Wege in großer Freiheit. Amen
  
   


  
    [1]Richard Sennett, Fleisch und Stein, S.225