Predigt zu Markus 1, 40-45 von Christoph Dinkel
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Predigt zu Markus 1, 40-45 von Christoph Dinkel

Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat Jesus, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen.
  Und es jammerte ihn und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will's tun; sei rein! Und sogleich wich der Aussatz von ihm und er wurde rein.
  Und Jesus drohte ihm und trieb ihn alsbald von sich und sprach zu ihm: Sieh zu, dass du niemandem etwas sagst; sondern geh hin und zeige dich dem Priester und opfere für deine Reinigung, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis.
  Er aber ging fort und fing an, viel davon zu reden und die Geschichte bekannt zu machen, sodass Jesus hinfort nicht mehr öffentlich in eine Stadt gehen konnte; sondern er war draußen an einsamen Orten; doch sie kamen zu ihm von allen Enden.
Liebe Gemeinde!
  Ein Aussätziger zur Zeit Jesu hatte aus heutiger Sicht zwei Leiden. Das erste Leiden war das Hautleiden. Aussatz, griechisch: Lepros, konnte dabei alles mögliche sein: von echter, infektiöser Lepra über Ekzeme, starke Pickel, Pilzerkrankungen bis zu Neurodermitis oder Schuppenflechte. Im Grunde jede Krankheit, die sich auf der Haut abzeichnete fiel unter den Sammelbegriff „lepros“. Wer Hautkrankheiten aus eigener Erfahrung kennt, weiß, wie sehr sie das ganze Wohlbefinden beeinträchtigen können. So mancher möchte am liebsten aus der Haut fahren. Wenn es so richtig juckt, wünscht man sich, es wie die Schlange zu machen und sich häuten zu können. Hautkrankheiten können auch unter den Bedingungen moderner Medizin scheußlich sein, wie viel scheußlicher dürfte die Lage für Hautkranke in der Antike gewesen sein, ohne antibiotische Cremes und Tabletten, ohne Cortison und all die anderen Therapien, die heute zur Verfügung stehen.
Aber die Erkrankung der Haut war nur der eine Teil des Leidens. Zur körperlichen Erkrankung kam in jener Zeit als zweites der soziale Ausschluss der Erkrankten dazu. Hautkrankheiten galten als Strafe Gottes. Sie hatten die kultische Unreinheit zur Folge. Die Priester galten dabei als sachkundig, sie entschieden über krank/nichtkrank und über rein/unrein. Wer als krank und unrein galt, musste sich aus der Stadt oder dem Dorf entfernen, sie wurden ausgestoßen. Außerhalb der Gesellschaft mussten sie darauf hoffen, dass man ihnen das Nötigste zukommen ließ. Manche mussten mit lautem Klappern die Gesunden davor warnen, damit diese ihnen nicht zu nahe kommen. Eine schwere Hauterkrankung bedeutete den sozialen Tod des Erkrankten. Und auf den sozialen Tod dürfte nicht selten auch der körperliche Tod gefolgt sein. Die Heilung eines Aussätzigen galt daher als genauso spektakulär wie die Auferweckung eines Toten. Faktisch wurde dem Aussätzigen in unserer Erzählung durch die Heilung ein neues Leben geschenkt. Kein Wunder, dass er das nicht für sich behalten wollte, sondern aller Welt davon erzählte.
Der Ausschluss von Kranken oder auch von Behinderten aus der Gesellschaft ist keinesfalls nur ein Phänomen der Antike. Der Osnabrücker Religionspädagoge Reinhold Mokrosch hat folgendes vor einigen Jahren in Tansania erlebt und aufgeschrieben (Quelle: Predigt von Reinhold Mokrosch zum vorliegenden Predigttext im Archiv von Göttinger Predigten im Internet, Veröffentlichung hier mit freundlicher Genehmigung des Autors):
Die 18jährige Rua hatte an einem heißen Sonntag wie gewohnt ihren kärglichen Maisbrei in ihrer finsteren Hütte eingenommen. Mühsam hatte sie mit ihrer verwachsenen Hand in den Napf gegriffen, kleine Klumpen geformt und mit Schmerzen bei jeder Armbeuge diese in ihren anmutigen Mund geschoben. Ihr liebevolles, noch etwas kindliches Gesicht hatte sich dabei unversehens mit kleinen Maisflocken gefüllt. Sie bemerkte es nicht. Niemand bemerkte es, weil sie allein war. Niemand sah sie. Niemand redete mit ihr. Niemand berührte sie. Nur ihr Bruder kam herein, um den Napf wortlos wieder abzuholen. Mit ihren verwachsenen dünnen Beinen konnte sie nicht selbst gehen.
  Ihre Familie hatte sie versteckt. Ihre spastische Behinderung galt in ihrem Stamm der Sukumas am Victoria-See als böses Omen, Strafe und Stigma; und das wollten die Verwandten nicht noch demonstrieren.
  Am Nachmittag dieses Sonntags trat ein schwarzafrikanischer christlicher Missionar aus dem Nachbarstamm auf dem Dorfplatz auf. Rua hörte in ihrer schwarzen, fensterlosen Hütte seine Worte. Sie konnte von Ferne seine Kisuaheli-Sprache verstehen. Unter Schmerzen robbte sie sich zum Hütteneingang. Sie wagte sich noch weiter: über das sandige Feld bis zum Dorfweg. Sitzend hatte sie sich fortbewegt. Lange hatte sie das Tageslicht nicht mehr erblickt. Alles kam ihr fremd vor.
  Plötzlich bewegte sich der Prediger mit seinen Begleitern in ihre Richtung. Er trat auf sie zu. Er reichte ihr die Hand. Er streichelte ihre Wange. Er strahlte sie an. Es durchfuhr Rua. Seit Jahren hatte sie niemand mehr berührt. Niemand hatte sie angelächelt. Niemand hatte sie beachtet.
  Der Missionar redete zu einem Mitarbeiter. „Rollstuhl“ – konnte sie verstehen. Und: „Zusammenleben“. Ein Strahl der Freude huschte über ihr Gesicht. – Am nächsten Tag wurde sie von ihren Brüdern aus der schwarzen Hütte geholt. Sie erhielt einen Rollstuhl – und wurde aufgenommen in ihre Familie und in die Dorfgemeinschaft. Rua war ins Leben zurückgekehrt. Sie war heil, wenn auch nicht geheilt.
An Ruas Geschichte wird deutlich, dass in vielen Fällen die sozialen Folgen einer Erkrankung oder einer Behinderung viel schlimmeres Leiden verursacht als das körperliche Leiden. Der Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft, die soziale Isolation potenziert das Problem und das Leiden – ein Wunder, dass das Mädchen unter solchen Bedingungen überhaupt 18 Jahre alt wurde. In manchem Land dieser Erde sterben Kinder mit Behinderung längst bevor sie erwachsen werden an Vernachlässigung und ihren Folgen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war das auch in Deutschland so. Erst die sogenannte innere Mission wandte sich – inspiriert von Jesu Vorbild – neben den Waisenkindern gezielt auch der kranken und behinderten Menschen zu. Es entstanden die diakonischen Einrichtungen, die wir bis heute kennen und mit unseren Spenden unterstützen.
Die klassischen diakonischen Einrichtungen waren lange Zeit das Non-Plus-Ultra der Annahme und Förderung von Menschen, die durch Krankheit oder Behinderung gehandicapt waren. – Wie viel besser wäre es dem tansanischen Mädchen Rua gegangen, wenn es in einer solchen Einrichtung untergekommen wäre! – Immer mehr jedoch wuchs die Erkenntnis, dass auch solche Spezialeinrichtungen trotz aller guten Absichten faktisch die Betroffenen in einen gesellschaftlichen Sonderbereich abdrängen. Dasselbe gilt für die ganzen Spezialschulen, die heute für Kinder mit Lernschwierigkeiten oder geistigen oder körperlichen Behinderungen bereitstehen. Der löbliche Versuch optimaler Förderung geht einher mit einer bedenklichen sozialen Ausgrenzung. Heute, viele von Ihnen wissen das, geht das Bestreben dahin, Menschen mit Handicap möglichst viel gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Die geschlossenen Einrichtungen werden daher geöffnet, Außenwohngruppen werden eingerichtet und was immer geht wird auf ambulante Hilfe umgestellt. Das ist zum Teil aufwändig, das ist manchmal nicht ohne Risiko, das erfordert das Mitdenken und die Mithilfe vieler. Aber der Gewinn an Partizipation, an gesellschaftlicher Teilhabe ist enorm. – Und genau darauf zielte ja auch die Heilung Jesu in unserer Erzählung. Der Erkrankte sollte gesund werden, um am gemeinsamen Leben der Menschen wieder teilhaben zu können. Deshalb schickte ihn Jesus gleich zum Priester, damit dieser in für rein erklären und den gesellschaftlichen Bann aufheben konnte.
Die meisten Ausschlüsse von Menschen aus der Gesellschaft laufen gar nicht besonders absichtsvoll. Meist ist es keine Böswilligkeit, sondern pure Gedankenlosigkeit. Unsere Gesellschaft ist so sehr auf schnelles und leichtes Funktionieren ausgerichtet, dass langsamer oder anders getaktete Menschen, Menschen mit einer Krankheit oder einer Behinderung schon gar nicht versuchen dabei zu sein oder mitzuleben. Sie werden von vorneherein entmutigt und ausgeschlossen und treten dann auch nicht in Erscheinung. Und weil sie nicht in Erscheinung treten, denken viele es gäbe diese Menschen gar nicht und es sei völlig unnötig spezielle Rücksicht auf sie zu nehmen.
Den gröbsten Schnitzer in dieser Hinsicht hat sich ja die Deutsche Bahn AG bei den Planungen für den neuen Stuttgarter Bahnhof geleistet. Die Belange von Menschen im Rollstuhl und von Kindern im Kinderwagen waren in der bisherigen Planung noch gar nicht berücksichtigt. Nicht einmal adäquate Flucht- und Rettungswege waren für sie vorgesehen. Der Schlichter Heiner Geißler hat gerade auf diesen Mangel in aller Schärfe hingewiesen. Aber reden wir nicht über andere, reden wir über uns: Die Zugänglichkeit unseres Gemeindehauses, unserer Kirche und des Pfarrhauses für Menschen im Rollstuhl ist schlecht bis gar nicht vorhanden. Mit dem Rollstuhl kommt man zwar halbwegs in die Kirche, man sollte aber lieber nicht auf die Toilette wollen, weil: da führen nur Stufen hin.
Mir liegt sehr viel daran, dass wir im Zuge der anstehenden Renovierung unseres Gemeindehauses die Zugänglichkeit unserer Räume für Menschen mit Handicap verbessern. Ich halte das nicht für eine Nebensache, sondern für eine ganz zentrale Aufgabe unserer Gemeinde, die sich sehr unmittelbar aus dem Umgang Jesu mit sozial ausgeschlossenen Menschen ergibt. Nach jetzigem baulichen Zustand grenzt unsere Gemeinde Menschen mit Handicap an mehreren Stellen aus. Nicht alles werden wir beheben können, aber einiges können wir verbessern: den Zugang per Rollstuhl und Kinderwagen direkt ins Gemeindehaus, die Zugänglichkeit der Türen und Eingänge sowie die Akustik im Saal, die es Menschen mit schlechtem Gehör bislang sehr schwer macht einer Veranstaltung zu folgen.
Im Blick auf die Möglichkeiten der Partizipation haben mich die Erfahrungen in den letzten Wochen in den USA beeindruckt. Obwohl am dortigen Sozialsystem manches verbesserbar erscheint, so ist doch das Bemühen um die Partizipationsmöglichkeiten von Menschen mit Handicaps am gesellschaftlichen Leben sehr viel selbstverständlicher als bei uns. Es gibt fast immer eine Rollstuhlrampe, noch der kleinste Kaffeekiosk ist damit ausgestattet. In touristisch erschlossenen Höhlen gibt es zusätzlich zum Rundgang mit Stufen auch einen rollstuhlzugänglichen Rundgang, und um die rauchenden Tümpel und Geysire im Yellowstone Nationalpark sind die Wege ebenfalls per Rollstuhl zu befahren. Außerdem gibt es immer jemanden, der behilflich ist, wenn ein Mensch mit Handicap Unterstützung braucht. Und wenn es einmal langsamer geht wird auch nicht gleich gedrängelt und geschimpft. In Sachen Partizipation von Menschen mit Handicap ist Deutschland im Vergleich mit den USA ein Entwicklungsland.
Kehren wir zurück zur Erzählung von der Heilung des Aussätzigen durch Jesus. Jesus selbst sah seine Heilungen als Zeichen des Anbruchs der Gottesherrschaft an. Wo Menschen, die der Isolation und damit dem sozialen Tod ausgeliefert waren, zurück ins Leben kommen, da vollzieht sich Gottes Wille und Gottes Reich gewinnt mitten unter den Menschen Raum. Die Erweiterung gesellschaftlicher Partizipationsmöglichkeiten für Menschen mit Handicap und jene, die ausgegrenzt werden, hat also eine geistliche Dimension. In ihrer Integration und Partizipation vollzieht sich Gottes Schöpferwille. Der Gott, der seine Geschöpfe liebt, will nicht, dass sie ausgeschlossen oder in ihren gesellschaftlichen Beteiligungsmöglichkeiten behindert werden.
Dabei schadet gesellschaftliche Ausgrenzung nicht nur denen, die ausgegrenzt werden. Gesellschaftliche Ausgrenzung schadet auch denen, die gewollt oder ungewollt ausgrenzen. Ihr Leben und ihre Gemeinschaft wird ärmer und verkümmert, denn ihnen fehlen ganz wesentliche Erfahrungen und Perspektiven, die allein durch Menschen mit Handicap beigesteuert werden können. Ihr anderer Blick auf die Welt, ihr anderes Tempo, ihr manchmal andersartiger Zugang zur Wirklichkeit ist eine Bereicherung und ein Gewinn, gerade auch für jene, bei denen alles glatt und schnell geht.
Jesus will mit seiner Heilung das Reich Gottes heraufführen und ausbreiten. Und zu diesem Reich Gottes gehören alle Kinder Gottes. Überall, wo Ausgeschlossene einbezogen werden, überall, wo gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht wird, wird die Welt zu einem Ort der Gottesgegenwart. – Amen.
Perikope
Datum 25.09.2011
Bibelbuch: Markus
Kapitel / Verse: 1,40
Wochenlied: 365
Wochenspruch: Ps 103,2