Predigt zu Markus 2,1-12 von Antje Marklein
2,1-12

Predigt zu Markus 2,1-12 von Antje Marklein

‚Heile du mich, Herr, so werde ich heil‘ – Der Wochenspruch führt uns in das Thema des Sonntags hinein. Was ist heil, was ist Heilung? Natürlich fällt mir gleich die Gesundheit ein. Aber Heil ist viel mehr als körperliches Wohlbefinden.

Mit einem weiten Blick für das Wort ‚heil‘ hören wir die Geschichte von der ‚Heilung des Gelähmten‘:

Nach einigen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war.
Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen.
Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag.
Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.
Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen:
Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?
Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen?
Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher?
Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden - sprach er zu dem Gelähmten:
Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim!
Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.


Liebe Gemeinde.

Über die vier möchte ich sprechen, die ihrem Freund Heil bringen. Die vier haben es mir angetan. Vier Menschen, die einen Gelähmten zu Jesus bringen. Vier Menschen, die sich darum kümmern, dass einer heil wird. Vier Menschen, die ihre gesamte Energie in die Heilung des Einen stecken. Manchmal ist das nötig. Ich kenne das.  Manchmal kann ich nicht selbst für mich sorgen. Dann brauche ich Menschen, die sich für mich einsetzen, die tun, wofür ich gerade keine Kraft habe. Manchmal  müssen es sogar vier sein, die mir Heil bringen.

Sie wohnen in  Weetzen. Karina, Alfred, Birgit und Hans. Eigentlich kannten sie sich vorher gar nicht. Aber irgendwie sind sie alle zum ‚AK Willkommen‘ dazu gestoßen.  Hans wollte Deutschkurse anbieten. Karina  hat ein Auto und Zeit. Alfred kocht gern. Birgit kennt sich mit Behörden aus. Am Anfang hatten sie sich wenig zu sagen, nur: helfen wollten sie, wie alle. Im Flüchtlingsheim herrschen chaotische Zustände, hatten sie gehört. Und der AK willkommen braucht Unterstützung. Und dann geht es schnell. An einem Abend im Juni kommt eine Rundmail: Ab morgen geht ein Sudanese ins Kirchenasyl. Eine Unterstützergruppe bildet sich. Karina, Alfred, Birgit und Hans. Sie treffen sich mit  Admir im Gemeindehaus. Dort hat die Kirchengemeinde ihm den Konfirmandenraum eingerichtet.  Es gibt viel zu organisieren, und Admir kann weder Deutsch, noch lesen oder schreiben. Und  er darf  das Haus nicht verlassen. Um alles muss sich jemand kümmern. Den Einkauf, die Wäsche, das Essen, Besuch und soziale Kontakte, Sportmöglichkeiten, Verhandlungen mit der Kommune und dem Rechtsanwalt, und Unterricht. Lesen lernen, schreiben, deutsch. Manche Woche vergeht, da sehen sie sich täglich bei Admir. Karina, Alfred, Birgit und Hans. Hans lernt mit Admir. Karina kauft ein oder holt Lebensmittel von der Tafel, Alfred kann schnell die Gerichte kochen, die Admir kennt und mag, und Birgit verhandelt mit den Behörden.  Es gibt auch Konflikte, Rückschläge, Ungeduld und Verzweiflung. Aber Admir lernt schreiben, er lernt sich zu verständigen, und er bekommt immer mehr Kontakt in der Gemeinde. Nach 10 Monaten darf Admir umziehen, in eine kleine Wohnung, versehen mit einem Aufenthaltsstatus und begleitet von Karina, Alfred, Birgit und Hans. --

Anna ist alt. Den 87. Geburtstag haben sie noch gefeiert vor ein paar Wochen. Annas Mann, Johann, und die drei Töchter Katrin, Sophie und Lina.  Sie haben mit Anna gelacht und auch ein bisschen geweint. Bilder angesehen, Kuchen gegessen, durcheinander geredet  und immer wieder auch geschwiegen. Am Abend sind Katrin und Sophie wieder in den Zug nach Hause gestiegen. Lina ist in ihre Wohnung nebenan gegangen. Johann hat Anna geholfen, sich  für die Nacht fertig zu machen, und sie haben früh geschlafen.

Dann geht es jeden Tag schlechter. Wenn Lina nachmittags nach der Arbeit vorbeikommt, sieht sie ihre Mutter meist nur noch im Sessel sitzen. Wenn Katrin anruft, hört sie die gebrochene Stimme ihrer  Mutter, und Katrin reißt sich zusammen, um aufmunternde  Worte zu finden. Sophie ruft nicht an. Sie verhandelt mit dem Pflegedienst, besorgt das Krankenbett, schickt jeden Tag eine bunte Postkarte.  Und Johann kocht seiner Frau Pudding, begleitet sie zum Bad, stellt die Waschmaschine an und wäscht das Geschirr. Er lässt den Pflegedienst rein und den Arzt.

Irgendwann will Anna nicht mehr aufstehen. Auch essen will sie nicht mehr. Sie wird im Bett versorgt, der Pflegedienst kommt öfter. Wenn Johann ihr die Kissen zurecht rückt, lächelt sie schwach. Aber meistens hat sie die Augen geschlossen.  Lina sitzt nachmittags am Bett ihrer Mutter und hält die Hand. Sie liest der Mutter die Postkarten von Sophie vor. Immer wieder. Und erzählt ihr von Katrin, die angerufen hat.

Dann sagt der Arzt: ‚Es geht zu Ende‘. Katrin und Sophie kommen mit dem Zug und quartieren sich bei Lina ein. Abwechselnd sitzen sie am Bett der Mutter oder mit dem Vater in der Küche.  Als die Atemzüge länger und die Abstände größer werden, sind die vier am Bett der Mutter versammelt. Johann, Katrin, Sophie und Lina. Ruhig liegt Anna da. Mit jedem schweren Atemzug weicht das Leben aus ihr. Johann streichelt ihre Hand, Katrin steht hinter Johann, Lina und Sophie halten sich fest.

Dann ist lange kein Atemzug mehr zu hören. Johann weint. Lina zündet eine Kerze an. Sophie lehnt sich an Katrin.  Und es ist eine große Erleichterung in der Luft.

Vier Menschen, die einem Menschen helfen auf seinem Weg, an einem Punkt, wo er allein nicht weiterkommt. Wo er allein nicht heil werden kann.

Im Markusevangelium steht die Geschichte als Heilungsgeschichte, und zugleich  wird die Heilung zum Thema eines Streites. Wer darf Sünden vergeben, wer kann heilen? Ein theologischer Skandal bahnt sich an. Was macht dieser  Jesus da?  Jesus sieht den starken Glauben der Freunde und sagt dem Gelähmten Vergebung zu. Darf er das? Kann er das?  Für mich ist diese Frage unwichtig, ja sogar konstruiert. So, als solle die Heilung des Mannes missbraucht werden für einen Streit  zwischen Jesus und seinen Gegnern.

Ich bin immer noch bei den Vieren. Vier Menschen, die einem Menschen helfen, heil zu werden.

‚Als nun Jesus ihren Glauben sah‘ – so schildert es der Evangelist; Jesus sieht, wie überzeugt die vier sind. Mehr noch als den Kranken sieht Jesus die, die ihn bringen. Als Jesus ihren Glauben sah… 

Und dann: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.  Heilung erfahren. Frei sein von Sünden. Jesus vergibt dem Kranken – oder auch: Jesus verhilft ihm zu einem ganz neuen Blick auf sein Leben, seine Welt, seine Beziehungen, seinen Gott.  Jesus macht den Gelähmten heil. Heil an Leib und Seele. Der Mann steht auf, nimmt sein Bett und geht.

In der Geschichte bringen der Glaube der Freunde und der Vergebungszuspruch von Jesus dem Gelähmten Heil. Er, der die ganze Zeit passiv ist, lässt sein krankes Leben hinter sich, nimmt sein Bett und geht. Nimmt sein gesundes Leben  in die Hand. Jetzt kann er sogar seine Freunde hinter sich lassen.  Das Netz, das ihn getragen hat, kann er ablegen.

Admir wird seine Freunde nicht mehr brauchen, und auch Anna ist jetzt heil in einer Welt ohne ihre Lieben. Das Netz, das getragen hat, wird überflüssig. Der Gelähmte ist aufgestanden und heil seinen Weg gegangen.

Im Markusevangelium wird die Geschichte so erzählt, dass ohne die vier keine Heilung möglich gewesen wäre.  Und Jesus hat das Seine dazu getan.

In den beiden Geschichten von Admir und Anna, die ich Ihnen erzählt habe, war auch ohne die vier keine Heilung möglich.

Und Jesus hat das Seine dazu getan.

Amen.