Predigt zu Markus 3, 31-35 von Bert Hitzegrad
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Predigt zu Markus 3, 31-35 von Bert Hitzegrad

Und es kamen seine Mutter und seine Brüder und standen draußen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. Und das Volk saß um ihn. Und sie sprachen zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder und deine Schwestern draußen fragen nach dir. Und er antwortete ihnen und sprach: Wer ist meine Mutter und meine Brüder? Und er sah ringsum auf die, die um ihn im Kreise saßen, und sprach: Siehe, das ist meine Mutter und das sind meine Brüder! Denn wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter. (Mk 3, 31-35)
  
  Und Gott segne, dieses sein Wort, an uns und lass es auch durch uns zu einem Segen werden.
Liebe Gemeinde!
  
  Schon lange beschäftigt uns die Frage: Wie wird es werden mit unseren altgewordenen Eltern? Drei Geschwister, die sich verpflichtet fühlen. Drei Geschwister, die ihre Berufe haben, ihre Familien, zum Teil weit verstreut wohnen, nicht immer erreichbar sind ... Schon längst wollten die beiden um die 80-jährigen in eine kleinere Wohnung umziehen. „Betreutes Wohnen" war ihr Wunsch, doch der Mut und die Liebe zur gewohnten Freiheit ließen die Pläne ruhen. Und nun ist es zu spät, noch aus eigenen Stücken heraus die Umgebung zu wechseln. Nun diktieren die Diagnose vom Arzt und die weniger werdenden Kräfte die Frage: Wie wird es werden? „Können wir zuhause alt, noch älter werden oder müssen wir ins Heim? Seid Ihr, unsere Kinder, für uns da? Oder können wir im Alter nicht mit Euch rechnen, während wir sonst immer für Eure Rechnungen da waren  ...?"
  
  Ja, wir fühlen uns verpflichtet unseren Eltern gegenüber, wissen aber nicht, wie wir es organisieren können. Der Pflegedienst ins Haus, der zu unterschiedlichen Zeiten kommt, immer andere Personen …? Dafür bleiben die eigenen vier Wände, die gewohnte Umgebung. Oder doch ins Heim, „abgeschoben" als letzte Lösung? Gescheitert an den Idealen, den Eltern den Weg zu erleichtern und ihnen etwas von dem zurückzugeben, was wir erhalten haben?
  Bohrende Fragen, quälende Zweifel, kein Ruhekissen fürs Gewissen. Wie machen wir es richtig?
  
  Mit uns zusammen fragen vielleicht Millionen von Töchtern und Söhnen, die plötzlich wahrnehmen, dass ihre Eltern älter werden. Die Lebenserwartung wird immer höher, die Deutschen immer älter … Was erwarten Eltern von ihren Kindern?
  
  Was war es, das Maria von ihrem Sohn erwartete?
  
  Maria wird dieselbe Erwartung gehabt haben, wie jede Mutter, jeder Vater ihrer Zeit. Sie wird die Erwartung gehabt haben, die offen oder latent zwischen den Generation auch heute noch gilt: Der Sohn, die Tochter, die Kinder müssen für ihre Eltern sorgen. Jesus ist ihr Sohn. Vielleicht hat sie mit Sorge schon seinen Weg beobachtet, den Weg von Nazareth hinaus in die umliegenden Dörfer oder auf den Berg, wo er zwölf Männer um sich scharrte, fast wie eine neue Familie.
  Sie wollte mit ihm sprechen, doch kam sie gar nicht an ihn heran, er hatte so viele Menschen um sich, Menschen, deren Umgang sie gar nicht gewohnt war und deren Umgang für ihren Sohn, für Jesus sicherlich nicht gut war. „Er ist von Sinnen", sie dachten es nicht nur, sondern sprachen es aus, so dass alle es hören konnten (Mk 3,21). Das war nicht der Weg, den seine Eltern, seine Familie ihm vorgezeichnet hatten, den sie von ihm erwarteten.
  „Du sollst Vater und Mutter ehren ..." Das vierte Gebot mag ihr durch den Kopf gegangen sein. Der alte Vertrag zwischen den Generationen. Wenn du Deine Eltern ehrst, dann werden auch Deine Kinder Dir die Ehre geben. Und Ehre geben heißt nicht einmal im Jahr an den Muttertag denken, sondern jeden Tag, ganz konkret die Eltern versorgen.
  Maria und Joseph, sie waren für damalige Verhältnisse schon alt. Und ihr ältester Sohn, gesund und in den besten Jahren, müsste sich um sie kümmern, ernähren, ihnen das Altwerden in einem geborgenen Umfeld ermöglichen.
  Doch er bricht aus, er bricht aus aus der Enge Nazareths, bricht aus aus der Enge der eigenen Familie, er bricht mit den Erwartungen der älteren Generation, er zerbricht das Band der Familie, er bricht das Gebot Moses ...
  
  Jesus und seine Familie, die „Heilige Familie ..." Er zerbricht auch unsere weihnachtliche Idylle, Maria und Joseph, dazu das Kind in der Krippe umgeben von Ochs und Esel. Wir werden die Figuren bald wieder aufstellen in unseren Wohnzimmern. Und vielleicht nicht nur, um an die Szene in Bethlehems Stall zu erinnern, sondern um ein Stück Familienidyll ins Haus zu holen, wenigstens einmal im Jahr. Die „Heilige Familie" als Idealbild der christlichen Familie?
  
  Und dann wird alles zerstört, alles mit den Füßen zertreten, ein Wort gibt das andere ... und der Mann, der für Nächstenliebe überhaupt steht, kennt seine Mutter und seine Brüder nicht mehr, leugnet seine Familie. Hat er denn keinen Anstand, keine Achtung gegenüber seiner Familie. Ist er verrückt, ist er „von Sinnen“?
  
  Und neben das weihnachtliche Bild von der Heiligen Familie schiebt sich ein anderes. Der Evangelist Markus hat die Vorlage gegeben, der niederländische Maler Rembrandt hat es gemalt auf seinem „Hundertguldenblatt". Dort sieht man „Jesus in schlechter Gesellschaft". Nicht Maria und Joseph, sondern Bettler, Kranke, Ausgestoßene. Von allen Seiten her drängen sie zu Jesus, kriechen zu ihm, Elend über Elend. Da ist kein Platz mehr für Vater, Mutter, Bruder oder Schwester, da ist eine neue Familie zusammen, die ihre ganz eigene Erwartung hat, die ihre letzte Hoffnung setzt auf den, der in der Mitte steht und lehrt. Rembrandt beleuchtet - wie so oft - die Szene mit einem hellen Strahl, der die Dunkelheit erhellt. Ein helles Licht geht von ihm aus - Jesus. So sieht seine Familie aus, seine neue Familie: Arme und Elende, Menschen ohne Rechte, Menschen am Rande, Menschen, die in ihren Familien keinen Platz haben.
  
  Ein Familienbild, in das offenbar seine eigene Familie nicht passt und zu dem seine Angehörigen nicht bereit sind - noch nicht. So wenig wie Joseph die Verantwortung für die Vaterschaft übernehmen will, so distanziert wirk Maria nun im Blick auf diejenigen, für die Jesus seine familiären Bande öffnet.
Aber offenbar will Jesus nicht seine Mutter brüskieren oder ihr die Liebe vorenthalten, die er sonst für jeden und jede hat. Nein, er will den Kreis der Liebe ausdehnen, nicht einengen auf die wenigen, die nach dem Blut zu seiner Verwandtschaft gehören, sondern weiten für diejenigen die durch das Band der Liebe mit ihm verbunden sind. Und vielleicht schimmert ja auch an dieser Stelle noch einmal die Frage durch, wer Jesus eigentlich ist, woher er kommt - als wahrer Mensch und wahrer Gott? Wer ist tatsächlich sein Vater? Der, dessen Ahnen zurück gehen sogar bis zum König David? Oder der, der diese Welt geschaffen hat und der der himmlische Vater seiner Kinder auf Erden ist? Schon mit der zweiten Antwort bekommt das Wort „Familie" eine universale Dimension und verliert den Hauch des Biedermeiers.
  Also schwächt Jesus nicht das vierte Gebot ab, sondern erweitert es, radikalisiert es, nimmt die mit hinein, die sonst keiner ehrt und achtet.
  
  Ganz konkret ist diese neue „Familie Gottes" nicht nur in den überschaubaren Dimension einer Kirchengemeinde zu entdecken, sondern sie reicht über Grenzen und Distanzen hinweg. Kirchliche Partnerschaften zu Gemeinden in Südafrika, Sibirien oder Indien laden immer wieder ein, die ökumenische Dimension von „Schwestern und Brüdern im Glauben" zu entdecken. Damit wird das enge Korsett der kleinen Familie oder der engen Gemeinschaft vor Ort gesprengt und der Geist Jesu bekommt Luft zum Atmen - „siehe, das sind meine Brüder!"
  
  „Siehe, das ist dein Sohn!" (Joh 19,26): Maria wird diese Worte noch hören unter dem Kreuz. Jesus wird diese Worte zu ihr sagen und noch einmal die familiären Bande sprengen und sich so doch um seine Mutter kümmern. Und Johannes, der Jünger, den Jesus lieb hatte, wird in eine neue Familie gestellt: „Siehe, das ist deine Mutter!" (Joh 19,27). Am Kreuz stehen die, die ihm nahe geblieben sind - und seine Fürsorge gilt auch ihnen in der Stunde des Todes. Mit seinem Tod hat er ein für alle Mal die engen Grenzen menschlicher Beziehungen verlassen. Er ist vorausgegangen, damit wir bleiben können – bleiben in der großen Gemeinschaft der Gottes Familie, hier und dann in Ewigkeit.
Und wo stehen wir? Wo kommen wir in dieser Geschichte vor? Stehen wir - noch - mit Maria und den Brüdern draußen vor der Tür und verstehen ihn nicht, ihn, den „Verrückten", der seine Familie nicht mehr kennt.  Oder sitzen wir zu seinen Füßen, sind wir mit auf dem „Familienbild", das Rembrandt einst gemalt hat?
  Vielleicht betrachten wir auch noch immer ganz verliebt die „Heilige Familie" mit Maria und Joseph und dem Kind. Damals, als er noch klein und süß war, der „holde Knabe im lockigen Haar“.
  „Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen!" Ja, er ist einen anderen Weg gegangen, als viele gedacht haben. Er passt nicht ins Bild, das wir uns wünschen, er passt nicht ins Bild der heilen, heiligen Familie. Ist er sogar der Vorläufer der modernen „Patchwork-Familie"?
Vielleicht sollten wir ihn nicht hineinholen in unsere wohltemperierten Wohnzimmer, sondern uns herausholen lassen aus unserem Denken, aus unseren gewohnten Strukturen, aus den liebgewordenen Gewohnheiten. Wirklich: Wir sollten uns herausholen lassen und ihm folgen auf dem Weg seiner Nachfolge, denn „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter!"
Von Gottes Willen haben wir in großen Bildern in der heutigen Evangelienlesung gehört: Der barmherzige Samariter, der, unabhängig von Volk und Religion, hilft, dem, der unter die Räuber gefallen ist. Er versorgt ihn, hebt ihn auf, bringt ihn in Sicherheit, bezahlt Geld für sein Wohlergehen. Er tut Gottes Willen. Er ist zum Bruder geworden, dem, der plötzlich allein war auf der Straße - und dem, der uns zum Bruder geworden ist, weil er uns nicht allein lässt. Eine neue Familie derer, die Gottes Willen tun, in seinem Geist handeln, die geschwisterlich leben, väterlich, mütterlich sorgen.
  
  Und die eigene Familie, der eigene Vater, die eigene Mutter? Fallen sie bei so viel Weite und neuer Dimension heraus? Gilt das, was für die AIDS-Patienten in Südafrika gilt nicht auch für den gebeugten Vater und die an Parkinson erkrankte Mutter? Oder ist es leichter, den in der Ferne zu lieben, als die zu pflegen, zu begleiten, zu versorgen, die sogar meinen Namen tragen und mir meinen Namen gegeben haben?
Wie kann ich, wie können wir Gottes Willen tun?
  Unsere Eltern bleiben unsere Eltern, und je älter sie werden, umso ähnlicher werden sie denen, die Jesus „wahre Verwandte" nennt. Nicht unter die Räuber sind sie gefallen, aber sie spüren, dass das Leben im Alter zunehmend einsamer wird.
  Wir müssen konkrete Pläne machen, wie wir unsere Eltern pflegen und begleiten können. Das kostet: Liebe, Nerven, Zeit und Geld. Und vielleicht müssen wir noch mehr von der Barmherzigkeit des Samariters lernen, der sagt: „Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme!" (Lk 10, 35)
  Sicherlich: Unsere Eltern können das von uns erwarten. Aber wichtiger ist mir, dass Gott es von uns erwartet, wenn sogar Vater und Mutter uns zu Nächsten werden. Jesus hat die engen Familienbande gesprengt, ja! Aber er hat uns neu zusammenführt durch seinen Willen, seinen Weg, seine wahre Liebe. Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.
Perikope
Datum 18.09.2011
Bibelbuch: Markus
Kapitel / Verse: 3,31
Wochenlied: 343
Wochenspruch: Mt 25,40