Predigt zu Markus 8, 22-26 von Hans Uwe Hüllweg
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Predigt zu Markus 8, 22-26 von Hans Uwe Hüllweg

In der renommierten Augenklinik des Franziskushospitals am Hohenzollernring dürfte man mit dieser Geschichte nicht kommen. Allzu erdverbunden kommt die Therapie daher, allzu weit weg von der Schulmedizin, und allzu überwältigend das Ergebnis. Nicht geeignet fürs medizinische Lehrbuch, aber ein gefundenes Fressen für die Regenbogenpresse.
Als Sensationsstory ist diese Geschichte vom Blinden aus Bethsaida jedoch nicht gedacht. Wie so etwas wirkt, kennen wir heute auch noch: Geschichten von Wunderdoktoren, von nagelneuen Supermedikamenten, von unglaublichen Krebsheilungen o.ä. steigern die Auflage. Aber sie wecken auch bei vielen Menschen falsche Hoffnungen. Damit wird viel Schaden angerichtet.
Es ist nicht das Interesse des Evangelisten, Jesus als Zauberer zu zeichnen; das geht schon daraus hervor, dass die gleiche Geschichte auch von anderen antiken Größen erzählt wird, etwa vom römischen Kaiser Vespasian: Auch er habe einen Blinden geheilt, der dann zunächst Menschen und Bäume verwechselte.
Jesus hat auch nicht alle Blinden, Lahmen, Aussätzigen geheilt. Ein Arzt in unserem Sinne war er nicht. So verspricht diese Geschichte auch nicht denen, deren Augenlicht schwächer wird, dass alles wieder gut wird, wenn man nur auf Jesus vertraut.
Ob es nicht eher eine Geschichte für die Sehenden ist? Ob sie uns womöglich sagen will, dass mit unserem Sehen etwas nicht stimmt? Ob die Botschaft lautet: Lasst euch eure Augen für Gott und eure Mitmenschen öffnen?
Vor dem Bericht über die Heilung des Blinden erzählt Markus von 4000 Menschen, die beieinander sind, Jesus zuhören, hungrig werden und nichts zu essen haben. Doch dann legen sie das Wenige, das sie haben, in seine Hände, und er, der die Liebe Gottes sichtbar macht auf Erden, teilt aus, reichlich, alle werden satt, ja es bleibt sogar noch übrig.
Das hatten sie erlebt und mit eigenen Augen gesehen, wie eine von Gottes Liebe durchflossene Gemeinschaft entstanden war, wie der Hunger der Seele und der des Körpers gestillt wurde. Aber letztlich hatten sie doch nichts begriffen: In ihren Augen blieb der hungrige Blick, gierig und unersättlich: Brot, nur Brot, davon waren sie fasziniert, es mussten nicht einmal Spiele sein, nur Brot...
Man kann es Menschen, die diesen unsäglichen Hunger leiden, sicher nicht verdenken, dass sie nach Brot greifen. Hunger muss gestillt werden, zumal in Teilen der Welt Überfluss herrscht und es Brot genug für alle geben könnte. „Dem Hungernden muss Gott in Gestalt von Brot erscheinen“, hat Gandhi einmal gesagt.
Aber wenn der Hunger einmal gestillt ist, dann gibt es noch mehr als Essen und Trinken, mehr als Geld und Güter. Auf dem Weg vom Auge zum Herzen war das Wesentliche verloren gegangen. Als Brotvermehrer könnten sie ihn brauchen, diesen Jesus, zu mehr aber wohl nicht. Sie starren auf ihre vollen Hände, und lassen ihre Seele wieder hungrig werden.
Physische Blindheit ist schlimm. Behindertsein, Abhängigkeit, Einsamkeit sind die Folgen für Menschen, die nicht sehen können. Und da kann in vielen Fällen die Augenheilkunde heute wirklich Gutes tun. Hier aber geht es um mehr:
Der Blinde von Bethsaida ist ein Gleichnis für Blindheit in einem umfassenderen Sinne, für einen Defekt nicht nur eines Sinnes, sondern der gesamten menschlichen Existenz, der die meisten von uns befällt und sogar vor den Jüngern Jesu nicht Halt gemacht hat: Sie verstehen nichts von dem, was Jesus will; sie sehen nicht, dass die Heilszeit angebrochen ist. Sie haben Angst vor mancherlei Unheil, vor dem Misserfolg, vor dem Sterben, dem Tod; sie sind blind für Gott.
Das soll nicht heißen, dass die alle das so wollen. Nein, es gibt schon eine große Sehnsucht vieler Menschen nach Gesundheit an Leib und Seele, eine Sehnsucht vieler Menschen nach Gott. Es ist in letzter Zeit oft beschrieben worden: Das religiöse Suchen ist stärker denn je; die Menschen suchen es nur meist nicht mehr in den herkömmlichen Institutionen. Gott - ja, Kirche - ach nein!
Jesus will, dass die Menschen gesund werden, im umfassenden Sinne; er will sie heil machen, nicht allein gesund oder nur satt. Damit das geschehen kann, ist es notwendig, unsere Krankheit, unsere Unfähigkeit, unsere Gottlosigkeit zu sehen. Aber an dieser Stelle sind wir alle „blind, lahm, taub und stumm“.
Da sind wir angewiesen, dass uns einer die Augen öffnet. Wir alle sind, wie der Blinde von Bethsaida, angewiesen auf Heilung, angewiesen darauf, dass sich einer unsrer erbarmt. Und weil Jesus das tut, ist das schon ein Wunder!
Ein Mensch, von Blindheit befallen, lernt durch Jesus wieder sehen. Und Jesus bewahrt ihn davor, auf halbem Wege stehen zu bleiben und sich zufrieden zu geben. „Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen“, sagt der, bei dem der Heilungsprozess begonnen hat. Ein paradoxes Bild: Wer hat schon Bäume gehen sehen?
Der Blinde sieht schon jetzt, erstes Zeichen seiner Heilung, tiefer als die andern: Er sieht die Menschen wie Bäume, so starr, jeder für sich allein, schwankend im Wind, stumm. Wo das Leben so aussieht, ist es noch immer heilungsbedürftig. Deshalb hört Jesus noch nicht auf zu heilen. Noch ein Schritt ist notwendig, Größeres soll geschehen.
Und jetzt lernt der Blinde, völlig klar zu sehen, lernt zu unterscheiden, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, das Bleibende vom Vergänglichen. Jetzt sieht er scharf, bewusst; jetzt beginnt er, auch das Unsichtbare hinter dem Sichtbaren zu sehen, weiß er das Gottesgeheimnis in all dem Profanen.
„Geh nicht ins Dorf“, sagt Jesus zu ihm. Kein Wunder! Geh nicht dahin, wo das laute Getöse herrscht, wo der Zeitgeist dir in die Augen bläst. Geh nicht dahin, wo alles beworben und vermarktet wird. Geh nicht dahin, wo alles überdeckt wird von grellen Farben, wo alles in Frage gestellt, zerredet und zerstört wird. Geh nicht dorthin, wo die Neonschriftzüge der Konsumreligion dir in die Augen springen.
Leider erfahren wir nicht, wo Jesus ihm stattdessen hinzugehen empfiehlt. Vielleicht auf einen Berg, um Stille zu erleben und Gott nah zu sein? Vielleicht in die Wüste, um erst einmal Abstand zu gewinnen und sich an sein neues Sehen zu gewöhnen, das ihm ja nicht nur Schönes beschert, sondern ihn auch allen Dreck der Welt sehen lässt? Wir erfahren lediglich kurz und bündig, dass der Blinde „zurechtgebracht“ wurde.
Dieses Wort „zurechtgebracht“ hat einen doppelten Boden: Im vordergründigen Sinne bezeichnet es den medizinischen Heilungserfolg. Der Blinde ist geheilt von seinem Augendefekt; er kann wieder sehen. Im zweiten, hintergründigen Sinn verweist das Wort aber auf die Erfüllung einer prophetischen Weissagung. Wenn das Heil Gottes kommt, so sagt Jesaja (35,5+6; vgl. Mt 11,2-6; Lk 7,22ff):
„Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken.“
So ist der Blinde von Bethsaida zum Zeichen für das umfassende Heil des Menschen geworden, das Gott uns schenken will und das Jesus Christus bereits angefangen hat. So gesehen, kann man diese Geschichte auch in einer Augenklinik erzählen. Die vermeintlich Sehenden und die wirklich Blinden, die eine Brille zum Lesen brauchen, wie ich, und die mit scharfem Adlerblick Ausgestatteten - sie alle, wir alle brauchen die heilenden Hände Jesu, um den Durchblick durch all das Vordergründige zu gewinnen und um an Leib und Seele zu gesunden. Amen.
Hilfsmittel: Ulrich Dämmgen/Herbert Meyer in Neukirchener Predigthilfe, 1974ff, Bd. 5.2, 20ff; Michael Benckert in Assoziationen, Gedanken zu biblischen Texten, hg. von Walter Jens 1978ff, Bd. 5, 156f; Franz Härle in Pastoralblätter 9/1995, 488ff