Predigt zu Markus 8, 22-26 von Martina Janßen
8,22

Predigt zu Markus 8, 22-26 von Martina Janßen

I.
Liebe Gemeinde! „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot.“ Als es die letzten Tage so heiß war, haben mein Mann und ich dieses alte Spiel gespielt. Wir saßen in einem schattigen Café in den Colonnaden und ließen unsere Blicke umherschweifen. „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist rot.“ Mein Mann fing an zu raten. „Das Auto da vorne? Das Plakat da drüben? Das Stadtrad da hinten? Deine Tasche?“ Alles falsch. „Was soll hier denn sonst noch rot sein?“ Resigniert lenkte ich seinen Blick auf die roten Pumps der Frau am Nachbartisch. Die hat er natürlich nicht gesehen. Schuhe sieht man Mann eben nicht. Und die kleinen, aber feinen Unterschiede zwischen den einzelnen Modellen erst recht nicht. Damit ist mein Mann nicht allein. Wir alle haben unsere blinden Flecken. Und darum brauchen wir alle jemanden, der uns Augen und Herzen öffnet.
Lesung Mk 8,22-26
Eine simple Therapiemaßnahme gegen grünen oder grauen Star ist diese Geschichte nicht – obwohl auch das wunderbar wäre. Aber allein um körperliche Blindheit geht es nicht. Vor fünf Wochen haben wir wieder unseren gemeinsamen Gottesdienst mit der Blinden- und Sehbehindertenseelsorge der Nordkirche in Estebrügge gefeiert. Jeder, der dabei war, hat wohl gemerkt: Blind für das Leben sind blinde Menschen nicht, ganz im Gegenteil! Nein, allein um körperliche Blindheit geht in unserer Geschichte nicht. Es geht um uns alle, um unseren blinden Flecken. Auch wenn wir noch so scharf sehen, sind wir doch manchmal mit Blindheit geschlagen. Wie mein Mann, wenn es um Schuhe geht. Auf welchem Auge seid ihr blind? Wovor verschließt ihr die Augen? Wo ist euer blinder Fleck?
II.
Liebe Gemeinde! Gründe für unsere Blindheit gibt es viele. Vielleicht haben wir Scheuklappen auf, weil wir bestimmte Dinge einfach nicht sehen wollen oder sehen können. Den Jüngern Jesu ging das so. Sie sahen in Jesus den Retter aus der Not, den verheißenen Messias, den König mit Macht und Herrlichkeit. Den Gekreuzigten wollten sie nicht sehen. Für diese Wahrheit musste Jesus ihnen erst die Augen öffnen. Nicht nur den Jüngern geht das so. Wir alle verschließen doch oft die Augen vor Dingen, die wir nicht sehen wollen. Wenn uns die Not der anderen überfordert, bei Konflikten, bei schlimmen Diagnosen, bei einem Zeugnis, wo man schon vorhersehen kann, dass es zuhause eher suboptimal ankommt. Manchmal ist es schwer, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Dann schon lieber: Augen zu und durch! Wie die drei Äffchen: nichts hören, nichts sehen, nicht sagen. Wie der Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt, um nicht sehen zu müssen, was kommt. Doch Jesus sagt: Augen auf! Seht der Wahrheit ins Gesicht! Nur so hat man einen klaren Blick für die Perspektive des anderen und für die eigene Hoffnungsperspektive. Über dem Bett meiner Oma hing ein gestickter Spruch. „Immer, wenn du denkst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“ Doch um genau das sehen zu können, müssen die Augen unserer Herzen offen sein. Wovor verschließt ihr die Augen? Was ist dunkel in eurem Leben? Welcher Wahrheit könnt ihr nicht ins Angesicht sehen?
Gründe für unsere Blindheit gibt es viele. Vielleicht sind wir betriebsblind und wollen in allem die gewohnten Muster und die vertrauten Gesichter wieder entdecken. Dann sitzt uns eine bestimmte Brille zu fest auf der Nase - die Milieubrille, die Gewohnheitsbrille, die Parteibrille, die kirchliche Brille – und hindert uns an freier Sicht. Wir kennen nur eine Blickrichtung. Wie mein Mann beim Fahrradfahren - immer geradeaus. Doch wenn man den Blick immer nur auf den Boden gehaftet hält oder starr geradeaus richtet, ist man blind für rechts und links und erst recht für den Horizont. Aber wenn man den Blick löst, kann es wunderbar sein: „Seht her, nun mache ich etwas Neues. Schon kommt es zum Vorschein, merkt ihr es nicht (Jes 43, 19)?“ Was blendet ihr aus? Auf welchem Auge seid ihr blind? Was hindert euch, über den Tellerrand zu sehen?
Gründe für unsere Blindheit gibt es viele. Vielleicht sind einige Dinge einfach nicht ins richtige Licht gesetzt. Man übersieht sie. Vielleicht, weil man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht und so das, worauf es ankommt, aus den Augen verliert. Vielleicht stimmen auch die Lichtverhältnisse nicht. „Und man sieht die im Lichte, die im Dunkel sieht man nicht. “ (B. Brecht). Das ist in unserer Gesellschaft so, und das geschulte Auge kann auch in den Strategiepapieren unserer Kirche zwischen den Zeilen ein wenig davon entdecken: Große Leuchtfeuer in den Metropolen und in den Dörfern gehen die Lichter aus! Meiner Meinung nach ist das die falsche Vision! Leuchten soll es überall. Denn richtig schön ist ein klarer Nachthimmel nur dann, wenn man nicht nur den Mond, sondern auch das feingesponnene Lichternetz aus Sternen sieht. Was blendet euch? Wodurch ist euer Blick verstellt? Was vernebelt euch die Sicht?
Gründe für unsere Blindheit gibt es viele. Wirklich sehen, klar sehen, alle Perspektiven sehen, wahrhaftig sehen – das ist schwer, verdammt schwer. Wir alle brauchen dann und wann jemanden, der uns die Augen öffnet.
III.
Liebe Gemeinde! Und Jesus nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf. Jemandem die Augen öffnen – das tut man nicht in der Öffentlichkeit, nicht coram publico. Jesus führt den Blinden hinaus vor das Dorf. Das ist wichtig. Vor aller Augen reißt man niemandem die Maske vom Gesicht. Jemandem die Augen öffnen - das braucht Vertrauen. Das geht nur „face to face“, unter vier Augen. Denn das ist intim. Jesus tat Speichel auf seine Augen. Näher, intimer geht es nicht. Speichel und Augen. Das ist doppelt intim. In Japan gibt es unter Jugendlichen einen neuen Erotiktrend: Oculolinctus. Man küsst dem anderen mit der Zungenspitze auf den Augapfel. Näher, intimer geht es nicht. So ist es auch mit dem Augenöffnen. Das braucht Nähe, Vertrauen und Geduld. Nicht immer fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Bei unserer Blindenheilung ist es eher ein Sehenkönnen auf den zweiten Blick.Jesus legte seine Hände auf ihn. „Siehst du etwas?“ – „Ich sehe die Menschen, als sähe ich Bäume umhergehen.“  Wirklich klar sieht der Blinde noch nicht. Aber immerhin, es hat gefangen – er beginnt zu sehen, unscharf, nur in Umrissen, verschwommen vielleicht. Sehen lernt man nicht auf einen Schlag, nicht in einem Augenblick. Wenn man lange in einem dunklen Raum war und plötzlich in die Sonne kommt, dann blendet das, dann gewöhnen sich die Augen nur nach und nach an das Licht. Sehen kann ein langer Lernprozess sein. Das Gute in jemandem sehen z.B. – Es ist nicht immer Liebe auf den ersten Blick, auch in unserer Gemeinde nicht. Manchmal muss man öfter hin sehen, ohne Scheuklappen und ohne unsere liebgewonnenen Brillen, um den anderen so zu sehen, wie er wirklich ist. Wenn wir zu lange immer nur die schwarzen Flecken gesehen haben, dann müssen unsere Augen erst für das Licht geschult werden. Oder wenn wir zulange die rosa Brille aufhaben, dann ist das schwer, sie abzusetzen und dann nicht nur grau in grau zu sehen, sondern nach und nach alle Farben wieder zu entdecken. Manchmal klappt es erst beim zweiten Versuch oder beim dritten oder vierten. Aber irgendwann ,- da klappt es. Danach legte Jesus abermals die Hände vor seine Augen. Da sah er deutlich…die Farben des Regenbogens, Sommergold am Abendhimmel, das Spiel der Wellen, das Lächeln auf den Gesichtern, den Schmerz des anderen.
Und Jesus schickte ihn heim und sprach: Geh nicht hinein in das Dorf! Wenn einem die Augen geöffnet sind, ist alles anders. Dann macht man nicht weiter wie früher. Dann hat man nicht nur eine veränderte Perspektive und einen neuen Blick auf sich selbst und die Welt, sondern vielleicht auch einen anderen Standpunkt. Wie der geheilte Blinde.Geh nicht hinein in das Dorf! Er beginnt neu - mit offenen Augen und offenem Herzen.
IV.
Liebe Gemeinde! „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist wunderbar!“ Wenn die Tage trübe sind, die Nächte eisig und die Schatten fallen, dann spielen mein Auge und mein Herz dieses alte Spiel. Ich sitze still und lasse meine Blicke schweifen. Meine Augen sehen kahle Äste, die schwarze Muster ziehen durch Nebelgrau. Doch mein Herz sieht mehr. „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das wird wunderbar! Ich sehe die Knospen kommen, die Blüten blühen und die Früchte reifen.“ Manchmal sieht mein Herz, was mein Auge noch nicht sehen kann. Doch diese Vision reicht für den Anfang. Sie der erste Blick, der erste Schritt. Was habt ihr vor Augen? Was sieht euer Herz?
Amen.