Predigt zu Philipper 1, 15-21 von Wolfgang Vögele
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Predigt zu Philipper 1, 15-21 von Wolfgang Vögele

Der Predigttext für den Sonntag Laetare steht Phil 1,15-21:
„Einige zwar predigen Christus aus Neid und Streitsucht, einige aber auch in guter Absicht: diese aus Liebe, denn sie wissen, dass ich zur Verteidigung des Evangeliums hier liege; jene aber verkündigen Christus aus Eigennutz und nicht lauter, denn sie möchten mir Trübsal bereiten in meiner Gefangenschaft. Was tut's aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber. Aber ich werde mich auch weiterhin freuen; denn ich weiß, dass mir dies zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und durch den Beistand des Geistes Jesu Christi, wie ich sehnlich warte und hoffe, dass ich in keinem Stück zuschanden werde, sondern dass frei und offen, wie allezeit so auch jetzt, Christus verherrlicht werde an meinem Leibe, es sei durch Leben oder durch Tod. Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.“
Liebe Gemeinde,
Paulus schreibt über seine schlimme Gefängniszeit, eine Mischung aus Brief, Tagebuch und Predigt. Alles was er schreibt, ist daran gebunden, daß er „Ich“ schreiben kann. Das ist ganz banal, meinen Sie. Ich will Ihnen einen einfachen Versuch vorschlagen.
Nehmen Sie sich eine Stunde Zeit. Versuchen Sie, während dieser sechzig Minuten die Gedanken und Sprache ohne den Ausdruck „Ich“ auszukommen.
Ich friere. Ich habe Hunger. Ich fühle mich wohl. Diese Sätze sind dann nicht mehr erlaubt. An deren Stelle könnte treten: Kälte. Essen. Freude. Sie werden sofort sehen und spüren: Es ist sehr schwierig, im Leben ohne das Wort „Ich“ auszukommen, beim Fühlen, beim Denken, beim Sprechen und Handeln. Wer sich an die Regel hält, der spürt plötzlich: An die Stelle meines persönlichen Bewußtseins tritt plötzlich eine neutrale, objektive Welt, die kein Zentrum mehr kennt. Das Zentrum, wo früher das Ich war, bleibt unbesetzt, egal ob man es Bewußtsein, Seele oder Ich nennt. 
Wenn Sie dieses Experiment gemacht haben, dann können Sie vielleicht die Menschen in Korea verstehen (vgl. dazu http://wolfgangvoegele.wordpress.com/2012/03/05/ich-ist-ein-anderer/) . Denn die koreanische Sprache kennt das Wort „Ich“, die erste Person Singular nicht. Statt „Ich habe Hunger“ sagen die Koreaner „Der Bauch ist hungrig“. Statt „Ich bin durstig“ klagen sie „Der Hals ist trocken“. Statt „Ich bin wütend“ heißt „Wut steigt auf.“ Wer krank ist, der sagt auf koreanisch „Der Leib schmerzt“.
Sprache, die Grammatik und der Wortschatz steuern unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Ich sehe nur das, wofür ich auch Worte habe. Wenn mir dafür die Worte fehlen, dann nehme ich  auch nichts wahr. Zum anderen gilt: Wer sprechen will, muß ich sagen können. Eine bestimmte Vorstellung vom Ich, von der Persönlichkeit wird in westlichen Sprachen vorausgesetzt. Wir brauchen eine psychologische und philosophische Konstruktion der Person, ohne die wir in der Wirklichkeit schlecht zurecht kommen würden. Ein Leben ohne das Wort „Ich“ ist nur schwer vorzustellen.
Liebe Gemeinde, bestimmt geht es ihnen wie mir. Eigentlich habe ich über solche Selbstverständlichkeiten noch nie nachgedacht.
Das Ich sitzt im Zentrum; in jedem Leben ist es der entscheidende gestaltende Kern der Sprache und des Bewußtseins. Der Ausgangspunkt von Handeln, Sprechen und Denken. Der Ursprung der Gefühle. Das Ich ist das, was einen jeden zu einem unverwechselbaren und unersetzbaren Menschen macht. Die Quelle von Wünschen, Sehnsüchten und Bedürfnissen, der Ursprung von Lachen und Trauer. Das Wertvollste, was jeder besitzt. Das Ich ist der Anfang der Person, der Garant für Nachhaltigkeit und Kontinuität im eigenen Lebensweg. Jeder versucht, sein Ich durch die Schwierigkeiten des Lebens hindurch zu bewahren und zu retten.
Das Ich ist kein greifbarer Gegenstand. Eher ist das lebensnotwendige Ich wie eine schillernde Seifenblase, schön, schillernd, es kann in jedem Moment platzen. Das Ich ist ein Hauch. Es ist gefährdet. Es muß geschützt werden.
Auch der Briefe schreibende Apostel Paulus besitzt selbstverständlich ein Ich. Die Briefe des Paulus wären gar nicht vorstellbar, ohne daß er ICH sagen würde. Und dieses Apostel-Ich schreibt er in Großbuchstaben. Nein, Paulus besitzt ein nicht allzu kleines EGO, dem er in seinen Briefen gelegentlich monumentale theologische Gestalt verleiht.  Bis heute finden viele der Paulusleser dieses schreibende Ich mit seinem überbordenden Selbstbewußtsein eher unsympathisch. Aber aus den Briefen des Paulus kann man lernen, wie Ich-Bewußtsein sich in Glauben verwandelt.
Die Briefpassage des Predigttextes ist wie ein Tagebuch zu verstehen. Der Paulus dieses Tagebuchs schreit es heraus. Ich bin gefangen, in diesem Loch, in diesem Kerker, in dieser Einzelzelle, wir wissen das heute nicht mehr genau. Er war gefangen, aber er konnte als römischer Bürger Besucher aus der christlichen Gemeinde empfangen. Er konnte Briefe schreiben oder sogar schreiben lassen und sie aus seiner Zelle heraus verschicken oder mindestens herausschmuggeln lassen.
Verschlossene Räumen engen die Bewegungsfähigkeit der physischen Person ein. Und sie engen genauso jenes zerbrechliche unsichtbare Ich ein, dem unbarmherzig seine Grenzen gezeigt werden. Während Paulus hinter Gittern festgehalten wird, können seine Gegner in der Gemeinde von Philippi schalten und walten wie sie wollen. Eine dumme und ärgerliche Situation, eine empfindliche Beschneidung der eigenen Macht. Darauf reagiert der Gefangene mit einer großzügigen Souveränität, die niemand von ihm erwartet hätte. Es ist mir egal, ob sie gegen mich intrigieren, schreibt er. Ich will gar nicht über die Gründe nachdenken, die meine Gegner zu diesem Handeln bewegen. Was sie auch tun, wenn es um Christi willen geschieht, dann will ich es billigen. So spricht der machtlose Gemeindegründer, der seine Macht nicht verlieren will. Ich sehe das eher als große Gelassenheit: Ihr könnt mich noch so oft gefangen nehmen lassen, ihr könnt mich ärgern, gegen mich intrigieren, meinen Ruf schädigen, das macht mir alles gar nichts aus. Ich gewinne meine Macht nicht aus mir selbst, sondern Christus lebt in mir.
Paulus schreibt nicht nur ein Tagebuch, das Tagebuch ist zugleich ein Brief. Tagebücher haben oft nur einen Leser, den Schreiber selbst, Briefe aber sind an einen Adressaten gerichtet, in diesem Fall die Gemeinde in Philippi. Im Schreiben wird deutlich, in welcher verzweifelten Lebenssituation er sich befindet, im Schreiben gibt Paulus aber auch Botschaften an die Philipper weiter. „Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber.“
Paulus stellt sich das Evangelium offensichtlich nicht wie reinen Wein vor.  Pur und porentief und unvermischt ist das Evangelium offensichtlich nicht zu haben. Statt dessen kommt der reine Wein der Wahrheit oft in einer sehr getrübten Mischung ins Glas der Glaubensverkündigung. Das Evangelium ist versetzt mit persönlichen Absichten, lauteren und unlauteren. Und beim Trinken sind für die Glaubenden die einzelnen Bestandteile oft nicht genau herauszuschmecken. Dem Wein des Evangeliums sind oft Bitter- und Fuselstoffe, unangenehme Spurenelemente und schädliche Geschmacksverstärker beigemischt. Der Wein des Evangeliums wird gestreckt, gepanscht und und mit billigeren Getränken versetzt. Das aber ficht mich alles nicht an, sagt Paulus. Ich ertrage auch den verlogensten Prediger, solange in seiner Botschaft das Evangelium noch in einer geringen Dosis vorhanden ist.
Ich spüre in diesen trotzigen Worten eine große Gelassenheit des Glaubens. Paulus ist in die Zelle der Gefangenschaft eingezwängt, aber er denkt im Traum nicht an Flucht. Er weiß sehr genau, daß seine Gefangenschaft in Ephesus den falschen Predigern in Philippi freie Bahn gibt, und er erteilt ihnen seinen Segen: Macht ihr nur. Nicht die Menschen bestimmen die Geschicke des Lebens. Nein, was Gott will, geschieht. Und Gott weiß schon, was er tut. Man kann nun sagen: Ein furchterregender Löwe, der im engen Käfig sitzt, kann lange brüllen. Die Zuschauer stehen lachend davor, denn die Beißzähne des Löwen können niemanden erreichen.
Dem gefangenen Paulus sind die Flügel gestutzt – und trotzdem schreibt er einen Brief. Er stellt Fragen und gibt Antworten. Der gefangene Gemeindegründer schreibt gelassen von seiner Freude: Ich bin froh, wenn – wie auch immer – das Evangelium verkündigt wird.
Es verwundert noch heute, wie viel Freude aus der Gefängniszelle herausströmt. Denn in den Gemeinden, die der Gefangene gegründet hat, haben die schnell stark gewordenen Gegner des Paulus das Heft in die Hand genommen. Der Apostel weiß, daß die Römer ihn sofort zum Tode verurteilen könnten, aber das scheint ihm keine Angst zu machen.
Der Glaube, der den Apostel so gelassen macht, ist das Gegenteil des seelischen Klebstoffes, mit dessen Hilfe sich viele Menschen an ihre Sorgen, Ängste und ihr Leiden klammern. Der Glaube räumt all diesen schweren Steine der Furcht beseite. Glaube erscheint bei Paulus als ein Lösungsmittel, er befreit jeden Menschen von seinen unmittelbaren Nöten. Und er weitet die Perspektive, gerade bei denen, die auf den engen Raum einer Gefängniszelle beschränkt sind und auch bei denen, die sich hinter den Mauern ihres Egos verschanzt haben. Davon ist niemand ganz frei. Man kann sich im eigenen Ich verstecken und hinter Sorgen verbergen.
Wer dagegen glaubt, der wird zu einem anderen: Christus in mir. Wer glaubt, der tritt einen Schritt neben sich, der kann sozusagen sein Ego von außen betrachten. Wer glaubt, geht dem leidenden und auferstandenen Christus einen Schritt entgegen. Damit gibt er nicht sein Leben auf, aber er gewinnt Abstand zu seinem Ich. Er spürt eine große, wunderbare Freiheit, die aus der barmherzigen Kraft des erlösenden Gottes kommt.
Schon die kleinste Dosis an Gelassenheit und und Glaubensfreude bringt den unausgeglichenen geistlichen Haushalt der Seele der ausbalancierten Gesundheit einen Schritt näher. Diese kleine Dosis an Glaubensfreude gibt dem gefangenen Apostel eine Kraft, die ihn über die Beschränkungen der Einzelzelle und die Triumphe seiner Gegner fröhlich und freundlich hinauswachsen läßt. Die Befreiung von den Klebstoffen der Abneigung und des Hasses öffnet neue Möglichkeiten zu denken und zu handeln. Der Glauben macht den Weg frei in neue Handlungsräume.
Nun kann man mit Recht sagen: Ich fühle mich nicht so stark wie das apostolische Glaubensvorbild. Wenn ich mit der Todesstrafe bedroht wäre, ich würde in Ängsten untergehen. Aber, liebe Gemeinde, ich will niemanden auffordern, den Paulus nachzuahmen. Aber er ist einen Schritt in die richtige Richtung des Glaubens gegangen, er konnte Abstand von sich selbst gewinnen, und das verschaffte dem Gefangenen Freiheit, ohne daß er aus seiner Zelle befreit worden wäre. „Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.“
Martin Luther hat einmal gesagt, zum Theologen werde man nicht durch Lesen, Studieren und Schreiben, sondern durch Leiden und Sterben. Es müssen nicht alle Christen zu Theologen werden, aber was er über die Theologie sagt, gilt auch für den Glauben, der sich mit Gottesgewißheit und Trost verbindet. Zum Glaubenden wird man nicht durch Lesen und Studieren, auch nicht durch die Anerkennung für wahr gehaltener Glaubenssätze, sondern durch die Erfahrung von Lebens und Sterbens, die so vieles für uns bereit hält, gegenüber dem sich das sensible Ich schnell gekränkt fühlt. Der Glaube hat Paulus geholfen zu lernen, daß es wichtigeres gibt als dieses Ich. Glaube ist ein Geschenk der Freiheit. Leben bedeutet nicht, die eigenen Wünsche, Ziele und Vorstellungen zu verwirklichen. Leben bedeutet, dem Gott, der die Welt geschaffen und erlöst hat, Raum im eigenen Leben zu geben. Das Leben des Paulus kreist um Christus wie ein Planet um die Sonne. Das glaubende Ich leuchtet nicht aus sich selbst. Es ist kein Ich, das bewundert werden kann. Die Strahlen des glaubenden Ichs verweisen auf die Quelle des Licht. Wie Paulus sagt: „Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.“ Amen.