Predigt zu Philipper 1,3-11 von Paul Geiß
1,3-11

Predigt zu Philipper 1,3-11 von Paul Geiß

Paulus schreibt:
Ich danke meinem Gott jedes Mal, wenn ich an euch denke; immer, wenn ich für euch alle bete, tue ich es mit Freude und danke Gott dafür, dass ihr euch gemeinsam für das Evangelium eingesetzt habt vom ersten Tag an bis jetzt. Ich vertraue darauf, dass er, der bei euch das gute Werk begonnen hat, es auch vollenden wird bis zum Tag Christi Jesu.
Es ist nur recht, dass ich so über euch alle denke, weil ich euch ins Herz geschlossen habe. Denn ihr alle habt Anteil an der Gnade, die mir durch meine Gefangenschaft und die Verteidigung und Bekräftigung des Evangeliums gewährt ist.
Gott ist mein Zeuge, wie ich mich nach euch allen sehne mit der herzlichen Liebe, die Christus Jesus zu euch hat. Und ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher an Einsicht und Verständnis wird, damit ihr beurteilen könnt, worauf es ankommt. Dann werdet ihr rein und ohne Tadel sein für den Tag Christi, reich an der Frucht der Gerechtigkeit, die Jesus Christus gibt, zur Ehre und zum Lob Gottes. (Phil 1,3-11, Lutherbibel)

Liebe Gemeinde,
der Apostel Paulus ist im Gefängnis, wahrscheinlich in Ephesus in Kleinasien, der heutigen Türkei. Er hat die Gemeinde in Philippi, die erste christliche Gemeinde auf europäischem Boden vor einigen Jahren begründet. Er muss sie in relativ kurzer Zeit in alle wesentlichen Grundeinsichten des christlichen Glaubens eingeführt haben. Es gab ja damals keine Volkskirche, keinen Religionsunterricht, kein christliches Abendland mit seinen Traditionen, keine gewachsene Kirchenmusik, keine Kirchenverwaltung, keine regelmäßigen Gespräche zwischen Kirchenleitung und Staat und so weiter. Im Gegenteil, alles war lückenhaft, spontan, „face to face“. So wie er es halt selbst erfahren hat, so hat er das Evangelium weitergegeben, ganz ohne kleinen Katechismus und ganz ohne auswendig gelernte Bibelsprüche und das Glaubensbekenntnis. Alles war noch im Fluss und Paulus hatte nur eine Ausbildung in der pharisäischen Tradition, dann seine Christuserfahrungen und seine Kontakte zu den übrigen Aposteln. Er verkündet das Evangelium ohne Formalien und Verwaltungsaufwand. Er hat ein herzliches Verhältnis zu seiner Gemeinde. Er hat in dieser Zeit tiefe freundschaftliche und spirituelle Beziehungen aufgebaut. So wie er es sieht, floriert diese Gemeinde. Alles dort scheint ihm Freude zu machen, die Liebe in der Gemeinde soll mit Gottes Hilfe immer mehr wachsen an Einsicht und Verständnis, reiche Früchte der Gerechtigkeit mögen die Gemeindeglieder im Namen von Jesus Christus bringen.
Eine begeisternde Lobrede des Paulus im Gefängnis – so möchten wir doch auch manchmal gelobt werden.

Schauen wir uns diese Situation doch etwas näher an. Paulus ist im Gefängnis: Ein Gefängnis war zu jener Zeit sehr unterschiedlich konstruiert. Es gab Gefangene, die in finsteren Löchern dahin vegetierten, um die sich niemand kümmerte und die allein der Willkür der Wärter und ihrer Chefs ausgeliefert waren. Es gab Gefangene, die besucht werden konnten, wie zum Beispiel der gefangene Johannes der Täufer. Er hatte den König Herodes herausgefordert, indem er dessen Ehe öffentlich verurteilte. Der hatte nach dubiosen Skandalen die Frau seines Halbbruders geheiratet. Gereizt durch die Kritik von Johannes dem Täufer, hat er ihn sofort ins Gefängnis gesteckt und später ohne ordentliches Gerichtsverfahren töten lassen – auf Wunsch seiner Frau.

So gab es also Gefangene, die ohne große Verhandlungen und ohne Gesetzesgrundlage verurteilt wurden, weil sie den Mächtigen im Wege waren.
Und es gab Gefangene, die sich auf eine gesicherte Rechtsgrundlage verlassen konnten. Eine davon war die Berufung auf das römische Bürgerrecht, das ein festgelegtes Rechtsverfahren verlangte und das verschiedene Instanzen vorsah.
Paulus war römischer Bürger, hatte also eine besondere Behandlung mit einer Appellationsmöglichkeit nach Rom zu erwarten. Er ist gefangen und wartet. Er kann aber Besuch empfangen, schreiben und predigen. So hatte er wohl mehrfach persönlichen Kontakt über Besucher zu seiner geliebten Gemeinde in Philippi. Er scheint guter Dinge, unterhält einen regen Briefverkehr und liebt seine Gemeindeglieder aus Philippi.

Waren Sie schon einmal in einem Gefängnis? Haben Sie es einmal miterlebt, wie die Behandlung zum Einschließen der Gefangenen und zur Kontrolle der Besucher funktioniert? Von weither hört man bereits das Krachen und Klirren der Türschlüssel. Es nähert sich schließlich die letzte Tür zum Zellentrakt, dann die Tür zum Gefangenen.
Bei Besuchen im Gefängnis habe ich immer wieder gemerkt: Die Gefangenen haben nur eine sehr begrenzte Wahrnehmung der Außenwelt. Sie sind mit sich selbst beschäftigt, teils in Auflehnung gegen ihr Schicksal, teils in Zustimmung zu ihrer Verurteilung.
Alles, was von außen kommt, wird neugierig erwartet und führt zu endlosen Gesprächen. Diese sind meist sehr einseitig, der Gefangene redet sich seinen Druck von der Seele. Der Seelsorger hört zu und wirft ab und an eine Frage, einen Moment des Nachdenkens mit ein.
Es ist eine fatale Situation von Abhängigkeit: der oder die Gefangene ist drinnen, der Besucher kann wieder aus dem Gefängnis heraus. Die Gefängnisbeamten sind quasi Vorgesetzte, denen man sich besser fügen soll, damit man gelegentlich auch Vergünstigungen bekommen kann.

Also hat Paulus wohl nicht ganz ohne Beeinträchtigungen gelebt. Und in der Gefangenschaft, auch in anderweitiger Isolation, da sehnt man sich nach dem Zuhause, nach den gewohnten Gefährten, nach einem Leben jenseits der Gefängnismauern.
Manche Gefangene haben in unserer kirchlichen Tradition eine hohe Berühmtheit erfahren wie zum Beispiel Dietrich Bonnhoeffer, dessen Schriften und Berichte aus dem Gefängnis Millionen von Menschen anrührten. Seine Reflexionen, Gedichte und Briefe bestimmen die evangelische und ökumenische Kirchengeschichte bis heute. Ein weiterer „berühmter“ Gefangener ist Pfarrer Paul Schneider, der Erste, der im KZ Buchenwald ermordet wurde. Er hat als Mitglied der Bekennenden Kirche im Gefängnis weiter gepredigt und Gefangenen Trost gespendet, die immer wieder von den deutschen Bewachern gefoltert und geprügelt wurde. Schließlich wurde er nach lagerbedingter Krankheit und körperlicher Schwäche vom Lagerarzt mit einer Spritze hingerichtet. Sein Einfluss, sein Mut, seine Predigten haben viele Menschen im Widerstand und im Glauben unterstützt.

Paulus sagt selbst, dass er im Gefängnis eine tiefe innere Gewissheit erfährt. Er nennt es „Gnade“, die ihm durch die Verteidigung des Evangeliums zu Teil wird.
Er ist nach außen hin weder verzagt noch verzweifelt. Im Gegenteil, seine Zuversicht wächst durch die Berichte von der blühenden Gemeinde, die er aufgebaut hat. Gnade, die er durch Jesus Christus erhalten hat und die er voll Freude mit seiner Gemeinde teilen will.

Es lohnt sich, einmal einen Blick auf die einzelnen Erfahrungen zu werfen, die bei Paulus zum Erfolg in seiner Gemeinde geführt haben, wie er es beschreibt.
Es sind vier Schritte, so plausibel und verständlich, die kann sich jeder ins Herz schreiben.

Zum ersten: Paulus hat mit Freude an die Gemeinde gedacht und an die liebenswerten Menschen, die er kennengelernt hat. Er sieht in ihnen die Liebe Christi am Werk, die auch ihn beflügelt. Der erste Schritt heißt also: Liebe zur Gemeinde als Spiegel der Liebe von Jesus Christus.

Das zweite: Paulus vertraut darauf, dass nicht er das gute Werk vollbringt und vollbracht hat, sondern Christus selber. Er ist demütig genug, von seiner eigenen Person abzusehen. Das ist eine große Aufgabe. Nicht jeder schafft das.
Als Organisationsberater und Supervisor habe ich es in Beratungsprozessen oft erlebt, dass sich geistliche Führungspersonen wie Pfarrerinnen und Pfarrer, Superintendentinnen und Superintendenten, Pröpstinnen und Pröpste als bestimmende Personen in ihrem Einflussbereich fühlen. Und wenn es zu Krisen kommt, dann können sie nicht das Weitere Jesus Christus oder den zuständigen Gremien überlassen, sondern kämpfen weiter und zerstören dabei mehr als sie aufgebaut haben. Der zweite Schritt also: Paulus weist auf Christus, der das gute Werk vollbringt. Das ehrt ihn.

Das dritte: Paulus gibt die Gnade, die er erfahren hat, weiter. Auch wenn es eine Gnade ist, die aus dem Leiden kommt. Sein Leben ist ihm Beispiel für die Begleitung eines Christenlebens durch Jesus Christus in allen Höhen und Tiefen. Auch eigenes Leiden kann mit dem Blick auf den leidenden Christus ausgehalten werden. Im zweiten Korintherbrief beschreibt er das, was er erleben muss. Christus habe ihm einen „Pfahl im Fleisch“ zugedacht und, als er sich darüber bitter beklagte, habe ihm Christus bedeutet: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ (2.Kor 12,9)
Dann sagt er: „Darum will ich  mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“ (2.Kor 12,10ff.)
Seit er durch Christus in seinem Damaskus-Erlebnis zum Glauben gekommen ist, setzt er sich in Zweifeln und Krisen, in Erfolgen und neuen Zielformulierungen immer wieder mit dem Evangelium auseinander und beschreibt diese Krisen im Angesicht Jesu.
Im Römerbrief schreibt er, wie furchtbar er unter der Erkenntnis leidet: „Das Gute, das ich will, tue ich nicht sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich, ich armer elender sündiger Mensch, wer wird mich erlösen. Er kommt schließlich zu der Erkenntnis: Nichts aber auch gar nichts wird mich trennen von der Liebe Gottes, die in Jesus Christus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38f). Das ist eine ehrliche Reflexion über seine Lebensumstände und Lebenszustände, die er vor der Gemeinde nicht verheimlicht und mit denen er beispielhaft und glaubwürdig seine Überzeugung übermittelt, dass die Gnade, die ihm widerfahren ist, auch den Gemeindegliedern im Glauben erfahrbar werden kann.

Zum vierten: Er hofft und betet für die Gemeinde. Er ermutigt sie, jetzt selbst tätig zu werden mit Hinblick auf den Jesus Christus, der wiederkommen wird:
Jetzt zeigt Euch untereinander die Liebe, die aus der Gnade erwächst, die ihr empfangen habt.
Jetzt richtet Euren Blick nach vorne auf den Tag, an dem Gottes Liebe siegt und wir ihn schauen können von Angesicht zu Angesicht. Nicht zurückblicken und sich grübelnd dem eigenen Fehlverhalten immer wieder stellen, sondern den Blick nach vorn richten.
Er lässt es den Gemeindegliedern frei, ihre eigenen Methoden zu entwickeln, das Evangelium untereinander zu leben und einzuüben und es weiterzusagen. Und durch diese Art der Vermittlung des Evangeliums – über die eigene Person – sind die Gemeinden des Paulus seinerzeit offenbar sprunghaft gewachsen. Es geht also im Christenleben nichts ohne den Einsatz der eigenen Person, da kann man sich nicht hinter seiner professionellen Rolle verstecken.
So kann man Gemeinde aufbauen.

Wie sieht das in Ihrer Gemeinde aus, in Ihrer Kirche? Für uns Pfarrer bedeutet es, alle getauften Gemeindeglieder wertzuschätzen und zu respektieren – auch die Ausgetretenen. Es bedeutet für jeden und jede von uns, sich zum Beispiel mit geistlichen Übungen immer wieder unter die Gnade von Jesus Christus selbst zu stellen.
Ich habe viele gute Erfahrungen mit dem Jesusgebet, dem „Herzensgebet“, in Meditation und Gemeindegruppen gemacht: Nach einer ruhigen Körpermeditation im Schweigen sich den alltäglichen Anliegen zu stellen, auch im Schweigen nach einiger Zeit einzumünden in das ständig und ruhig wiederholte Gebet: „Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner. Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner.“
So lerne ich, auch meine negativen Erfahrungen unter Gottes Fügung zu stellen und mich seiner Gnade anzuvertrauen. Und dann kann man sich munter den Begegnungen jedes Tages stellen. vVelleicht auch das ein oder andere Mal durchblicken lassen, dass wir aus einem lebendigen Glauben und seinen Werten leben in aller Freiheit.
So wird man zum Zeugen, der andere ermutigt, es damit auch zu versuchen. So wurden früher Gemeinden aufgebaut. Das geht auch heute vielleicht sogar mit den neuesten digitalen Methoden über Twitter und Facebook, über die wunderbaren musikalischen Videos geistlicher Konzerte bei youtube oder anderen Internetangeboten.

Und Paulus ist sich sicher:
„Dann werdet ihr rein und ohne Tadel sein für den Tag Christi, reich an der Frucht der Gerechtigkeit, die Jesus Christus gibt, zur Ehre und zum Lob Gottes.“ (Phil1,10f)

Jetzt kann er beruhigt auf den Ausgang seiner Gefangenschaft hoffen. Er redet unaufhörlich von dem, was ihm begegnet ist und was ihn umtreibt. Und so möge Kirche und Gemeinde wachsen zu dem hin, der das Haupt ist, zu Jesus Christus.
Amen.

Perikope
Datum 23.10.2016
Bibelbuch: Philipper
Kapitel / Verse: 1,3-11