Predigt zu Philipper 4,10-20 von Bert Hitzegrad
4,10-20

Predigt zu Philipper 4,10-20 von Bert Hitzegrad

Der Predigttext für diesen ersten Tag des neuen Jahres steht im Philipper-Brief im 4. Kapitel.
Paulus schreibt:

Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn, dass ihr wieder eifrig geworden seid, für mich zu sorgen; ihr wart zwar immer darauf bedacht, aber die Zeit hat's nicht zugelassen.

Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie's mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.

Doch ihr habt wohl daran getan, dass ihr euch meiner Bedrängnis angenommen habt.

Denn ihr Philipper wisst, dass am Anfang meiner Predigt des Evangeliums, als ich auszog aus Mazedonien, keine Gemeinde mit mir Gemeinschaft gehabt hat im Geben und Nehmen als ihr allein.

Denn auch nach Thessalonich habt ihr etwas gesandt für meinen Bedarf, einmal und danach noch einmal. Nicht, dass ich das Geschenk suche, sondern ich suche die Frucht, damit sie euch reichlich angerechnet wird.

Ich habe aber alles erhalten und habe Überfluss. Ich habe in Fülle, nachdem ich durch Epaphroditus empfangen habe, was von euch gekommen ist: ein lieblicher Geruch, ein angenehmes Opfer, Gott gefällig. Mein Gott aber wird all eurem Mangel abhelfen nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus. Gott aber, unserm Vater, sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

Und Gott segne dieses sein Wort an uns und lasse es auch durch uns zu einem Segen werden. Amen.

Liebe Gemeinde!

Seit 0 Uhr schreiben wir ein neues Jahr. Die Sektkorken haben geknallt, die Raketen sind in das Dunkle der Zukunft geflogen und Wünsche hatten Hochkonjunktur:  „Einen guten Rutsch, Hauptsache Gesundheit, bleibe so wie Du bist im Neuen Jahr …“

Seit 0 Uhr heißt das Jahr „2014 nach Christi Geburt“. Wieder ein neuer Anfang, wieder ein Aufbruch ins Unbekannte. Wieder ein Jahr weiter.

Seit 0 Uhr gilt ein neuer Kalender! Haben Sie den neuen schon aufgehängt oder hängen Sie noch am alten. Noch sind die Tage unbeschrieben, auch wenn die Termine schon den Kalender füllen. Noch wissen wir nicht, was sie bringen werden.  

Was überwiegt an dieser Schwelle zwischen Alt und Neu, zwischen Rückblick und Ausblick, zwischen Gestern und Morgen? Das  Glück, die Freude, die Chancen und Möglichkeiten, die jeder Tag mit sich bringen kann? Ist es doch die Vorsicht, die Sorge, die Angst vor dem, was kommen kann und was nicht zu den Neujahrswünschen passt? Oder kommt nichts mehr – das neue Jahr im täglichen Trott so wie im alten …? Es macht keinen Spaß mehr das „Wandern von einem Jahr zum andern“ (EG 58,2), wenn es mühsam geworden ist - auf ausgetretenen Pfaden, auf Wegen, die nicht voran führen, sondern sich nur im Kreis bewegen ... Und wieder fängt ein altes Lied von vorne an!

Schon wieder fängt der gleiche Tag von vorne an. Filmkundige kennen und lieben diese Szenen in „Und täglich grüßt das Murmeltier“ – die amerikanische Filmkomödie aus dem Jahr 1993. Doch, es ist nicht nur zum Lachen, wenn man das Gefühl hat, in einer Zeitschleife zu leben und immer wieder an genau demselben Tag aufzuwachen. So geht es dem arroganten und zynischen TV-Wetteransager Phil (gespielt von Bill Murray), der seinen alljährlichen Auftrag hasst, vom „Tag des Murmeltieres“ (Groundhog Day) am 2. Februar aus der nordamerikanischen Kleinstadt Punxsutawney zu berichten. Er wird dort vom plötzlich einbrechenden Schneesturm festgehalten, durchlebt wieder und wieder denselben Tag, den 2. Februar.  Jeden Morgen springt der Radiowecker auf 6.00 Uhr und weckt mit derselben monotonen Stimme … Und Phil hört dieselben Fragen, begegnet denselben schrulligen Kleinstadtbewohnern und demselben verschlafenen Murmeltier jeden Tag neu. Jeden Tag …

Das Leben wie ein Gefängnis, aus dem man nicht ausbrechen kann!

Paulus sitzt im Gefängnis. Ganz konkret. Abgeschottet, isoliert, hinter Mauern. Er muss mit dem Schlimmsten rechnen. Und es gelingt ihm doch aus dem starren Verließ auszubrechen. Zumindest gedanklich. Seine Gedanken gehen zu der jungen Gemeinde in Philippi, zu den „Brüdern, nach denen er sich sehnt“ (vgl. Phil 4,1). Aber auch umgekehrt scheint es so zu sein: Die Gemeinde, „Brüder und Schwestern“, wissen sich mit dem Apostel verbunden, nicht erst seitdem er im Gefängnis sitzt. Sie haben ihn und seine Arbeit schon öfter unterstützt durch freundliche Gaben. Offenbar können sie es sich leisten, den Missionar auf seinen Missionswegen zu sponsern – vielleicht aus persönlicher Verbundenheit, vielleicht auch aus Dankbarkeit. Vielleicht aus dem Evangelium heraus, das Paulus ihnen gebracht hatte. Er hatte den bezeugt und verkündigt, der selbst niedrig und gering geworden ist. Die Verletzlichkeit einer menschlichen Geburt hatte er erlebt, die Endlichkeit des gewaltsamen Todes. Er, der eigentlich groß war, hat sich klein gemacht, klein gemacht, um bei den Kleinen und wenig geachteten zu sein, den Sündern, den Kinder und Frauen, den Verzagten, den angefochtenen im Glauben. Und er hat sie darin ermutigt, mit den Schwachen die Schwäche zu teilen und mit den Verachteten und Verlassenen solidarisch zu sein: Kranke besuchen, Hungrige sättigen, Nackte kleiden und diejenigen, die im Gefängnis sind, nicht allein zu lassen. Paulus ist im Gefängnis und fühlt sich offensichtlich nicht allein. Seine Brüder – und Schwestern – haben von ihm gelernt. Sie sind bei ihm in jeder Lebenssituation – als er noch bei ihnen war und „von oben“ gepredigt hat. Und nun, als er „ganz unten“ angekommen ist. Im Gefängnis.

So ist das im Leben: die einen sind „unten“ und die anderen sind „oben“. „Mir ist alles und jedes vertraut!“ sagt der Apostel von seinem Leben. Wir kennen das auch! Da gibt es unsagbaren Reichtum auf dieser Welt und gleich daneben bittere Armut. Da herrschen die einen und die anderen müssen sich beherrschen lassen. Da erleben wir Glücksmomente und sind im siebten Himmel und kurz danach fallen wir in ein Loch – in das Loch einer Krankheit, der Arbeitslosigkeit, der Angst vor der Zukunft. Das ganze Leben war voller Aktivität und Selbstbestimmung – immer oben auf – und plötzlich kommt im Alter das gepflegt werden müssen, die Abhängigkeit von anderen, das Gefühl, nichts mehr wert zu sein, nicht mehr gebraucht zu werden. „Oben und unten, lieber Paulus, auch wenn wir noch nicht im Gefängnis waren - wir kennen uns da auch aus. Und wir haben die Angst, dass wir auch im neuen Jahr immer wieder in ein Loch fallen werden. Dass die Wirtschaft nicht mehr bergauf geht, dass uns ein Unfall oder eine Krankheit aus der Bahn wirft, dass Menschen, die uns vertraut sind, gehen müssen, dass es Trennungen und Abschiede gibt … Lieber Paulus, wir wünschen uns, oben zu bleiben und haben Angst vorm Untergehen? Was macht Dich so mutig?“

Paulus ist im Gefängnis und scheint die Ketten der Angst zu sprengen. Er hat gelernt, beides zu tragen, zu ertragen, das niedrig und das hoch Sein, das satt Sein und das Hungern, den Überfluss und den Mangel. Ein Lernprozess! Dafür reicht offenbar nicht diese Predigt aus noch dieser Gottesdienst. Und auch nicht der erste Tag des neuen Jahres. Lernen ist ein ständiger Prozess.

Vielleicht war das ganze letzte Jahr ja solch ein Lernprozess für Sie! Es ist nicht lange her, da wurden auf allen Kanälen die „Highlights 2013“ beleuchtet, in den Zeitungen gab es die Rückblicke mit den Katastrophen und Glücksmomenten der letzten 365 Tage. Wie ist ihre persönliche Bilanz? Waren sie mehr „oben auf“ oder eher „niedergeschlagen“. Sagen Sie, das ist ein Jahr, das kann ich getrost zurücklassen. Oder spüren Sie Dankbarkeit für besondere Momente. Haben Sie Gottes Nähe erfahren – vielleicht nicht so gewaltig wie die Stürme im Herbst, eher sanft und säuselnd wie der leichte Wind im warmen Sommer des letzten Jahres? Hilfe in schweren Zeiten, neue Perspektiven, wo alles sich im Kreis drehte, zärtliche Berührungen in einer rauen Gesellschaft, ein fester Grund in Momenten, in denen das Leben sich als unsicher und brüchig erwies …?

Paulus sitzt im Gefängnis, und er hat gelernt, dass ihm das genügt, was er gerade hat. Und mit den Gegensätzen des Lebens hat er reichlich Erfahrung. Er, der Pharisäer auf hohem Ross, der vor Damaskus vom Pferd gestürzt wurde. Er, der meinte, er hätte den Durchblick und die Autorität in Sachen Wahrheit und Glaube. Er wurde blind von dem wahren Licht, das ihm begegnete. Und er ist mit Christus, dem Licht des Lebens durch Tod und Auferstehung gegangen, durch Missionserfolge und Christenverfolgung, von der herzlichen Gemeinschaft in den neuen Gemeinden zur Isolation in der Gefängniszelle … Er hat gelernt. Und er hat sich einen Blick bewahrt – den Blick für die Dankbarkeit. Nicht nur für die freundlichen Gaben seiner Gemeinde, die ihn aus der Einsamkeit herausreisen. Sondern er kann dem danken, der ihn auch in aller Bedrängnis nicht allein lässt: „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht!“ Und es ist als ob Christus selbst mit ihm in seinem Verließ ausharrt, ihm das Wasser und das Brot reicht und die Kraft schenkt und die Zuversicht tief in das Herz gibt, dass er nicht allein ist. Er hätte sicherlich mit einstimmen können in die Worte des Gefangenen der Nazi-Zeit – Dietrich Bonhoeffer. Worte, die heute noch Menschen aus ihren Gefängnissen befreien: „Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Und Phil, der TV-Reporter, den „täglich das Murmeltier grüßt“ in der amerikanischen Komödie – wie ist er aus dem Käfig der sich immer wieder wiederholenden Zeit ausgebrochen? Das Ekel vom TV-Wetterkanal hat sich zu einem wahren Wohltäter entwickelt. Er hat sein Wissen über den Tagesablauf für andere eingesetzt. Er, der nur sich selbst kannte, zeigt Zuneigung zu den Menschen, denen er begegnet. Und er verliebt sich in seine Kollegin Rita (im Film von der einfach liebenswerten Andie MacDowell gespielt). Und – Sie erraten das Happy End – diese Liebe entreißt ihn der Zeitschleife und beide wachen an einem 3. Februar in seinem Bett auf. Ein neuer Tag kann beginnen. Für Phil ein neues Lebens.

Und wie werden Sie aufwachen – am 2. Januar, am 3. Februar oder am 6. September 2014?

Gefangen in der sich ewig wiederholenden Zeitschleife oder mit dem Blick auf neue, geschenkte Zeit? Satt vom Lebensglück oder hungrig nach Zuneigung und Liebe? Im Überfluss der Gnade Gottes oder mit dem Mangel an Hoffnung und Perspektiven?

Paulus scheint der Mann für alle Fälle und für die einfachen Antworten zu sein. „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.“ Doch wie Phil auf der Leinwand braucht auch Paulus im Gefängnis einen langen Atem, um diese Antwort zu finden. Aber dort, wo dieser Durchbruch durch die Mauern gelingt, da öffnet sich ein weiter Raum. Da liegt ein ganzes Jahr vor uns mit allen Chancen und Möglichkeiten, mit den Risiken, in denen wir nur hoffen können, dass Gottes Macht uns hindurchträgt und den Nebenwirkungen, die uns so leicht den Blick für seine Nähe verstellen.

Aber wir haben doch gelernt. Im letzten Jahr. Er war da und ist bei uns geblieben. Und hielt uns fest. Und als wir fielen, fielen wir in seine Hand. Dieser Blick und diese Dankbarkeit schenken Vertrauen. Vertrauen für das, was kommt. Denn er geht mit von einem Jahr zum andern, durch die Höhen und die Tiefen, durch Freud und Leid, durch das Grau des Alltags und den Glanz der glücklichen Momente.

Und wenn ich ihn nicht spüre – liegt es an ihm oder an mir? Wenn ich mich gefangen nehme lasse von dem Druck der Termine, von dem Einerlei der Tage, von der Klage „Es ist doch eh immer dasselbe!“ – wer hat die Schlüssel in der Hand und ist der Kerkermeister. Er oder ich?

Der Blick macht frei. Der Blick auf Christus an meiner Seite. Der erwartungsvolle Blick auf jeden Tag. Der Blick auf Menschen, die mir ihre Nähe schenken, die guten Gaben für mein manchmal so beengtes Leben. Die Gaben der Gemeinschaft, der Gebete, der Gedanken. Der fürsorgliche Blick auch auf Menschen, die meine Nähe brauchen, meine Liebe, meine Sorge für sie. Und nehme ich sie in den Blick, schaue ich nicht in die Augen Christi?

Seit 0 Uhr ein neues Jahr, ein neuer Kalender, Zeit, geschenkte Zeit der Erwartung, der Veränderung, Zeit auch des Stillstands. So wie er war, so bleibt er an meiner Seite.

„Gott nahe zu sein ist mein Glück!“ heißt es in der Jahreslosung 2014 aus den Psalmen (Ps 73,28). Paulus als jüdischer Gelehrter kannte diese Worte. Und er konnte sie mitsprechen – sogar im Gefängnis. Und wir im Jahr 2014? Es mag ein anderes Glück sein als das Glück der Wünsche aus der Neujahrsnacht. Aber es ist ein Glück, dass uns voller Vertrauen in ein neues Jahr gehen lässt. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben. Amen.