Predigt zum Israelsonntag über Römer 9, 1-5; 10, 1-4 von Claudia Trauthig
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Predigt zum Israelsonntag über Römer 9, 1-5; 10, 1-4 von Claudia Trauthig

(Anregungen durch: Arbeitshilfe für Gottesdienst und Gedenkstunde: Israelsonntag 2012, Gespräch zwischen Christen und Juden S. 6-34.)
Liebe Gemeinde,
Sommer 2012, mitten in den Ferien, „Saure-Gurken-Zeit“ – so nennen es manche, beispielsweise die Zeitungsmacher.
Wie jedes Jahr ist ausgerechnet in dieser Zeit auch der sogenannte „Israelsonntag“, an dem es um Gott den Herrn und um sein Volk geht:
Wer aber ist eigentlich das Volk Gottes?
  Israel? - und welches „Israel“ dann genau?
  Inwiefern sind wir, ist die Christenheit Gottes Volk -
  und wie hängen Christenmenschen
  mit den Juden zusammen?
Das sind -in zugegebenermaßen sehr groben Zügen- die Fragen, die diesen Tag prägen, heute ihre Zeit haben. Aber - sind das überhaupt unsere, Ihre Fragen? Oder wirken sie wie ein Notbehelf, um die „Saure-Gurken-Zeit“ thematisch zu füllen, haben eigentlich nichts mit uns zu tun?
Lassen Sie mich mit drei Blitzlichternaus diesem Sommer beginnen, bevor wir den Predigttext hören:
I.
Da zappe ich nach einem langen Werktag abends durch die Programme des Fernsehens. Im Ersten blicke ich in das alt gewordene Gesicht von Hans-Dietrich Genscher. Noch ehe ich wahrnehme,was er sagt, beschäftigt mich sein tieftrauriger Blick: „Dieser Moment“, so höre ich ihn, „war der allerschlimmste meiner ganzen politischen Laufbahn.“ Der ehemalige Bundesaußenminister, der immer die Ruhe eines Bernhardiners verkörpert, hat Tränen in den Augen. Er meint die Olympischen Spiele 1972 – jenen Morgen, an dem er erfährt, dass alle 11 als Geiseln genommenen Athleten der israelischen Mannschaft ermordet sind – auf deutschem Boden.
Heute, fast auf den Tag genau 40 Jahre nach dem Attentat von München, enden die Olympischen Spiele in London. Die beantragte Schweigeminute zur Erinnerung an die Opfer von `72, zu denen auch ein deutscher Polizist gehört, wurde vom IOC ohne Begründung abgelehnt. „The games must go on.“
II.
Kürzlich erzählt eine Kollegin im Pfarrdienst von einem Taufgespräch bei einer jungen, sympathischen Familie aus ihrer Gemeinde. Es macht Spaß, miteinander den Gottesdienst vorzubereiten. Doch als die Pfarrerin einen Psalm für den Eingang vorschlägt und ihn kurz vorliest, sagt die Mutter: „Naja, das ist ganz schön, aber… können Sie Israel rausstreichen? Die Politik find´ ich nicht gut.“ (Heidrun Dörken, Deutsches Pfarrerblatt, 7/2012, S.397) Vielleicht hat die junge Mutter das „Gedicht“ von Nobelpreisträger Grass noch im Kopf…?
Woanders in der Gemeinde, berichtet die Kollegin weiter, sei ihr ernsthaft schon die Frage begegnet: „Kann man nicht auch ohne Bibel Christ sein? ... Das Alte Testament ist doch jedenfalls überholt, erst recht diese Texte voller Gewalt und Kampf…?“ (vgl. Christiane Kohler-Weiß; Studientag Allein die Schrift?!, Juli 2012, Tübingen.)
III.
Nachdenklicher zeigen sich meine Schülerinnen und Schüler. Auf die Frage: Ist Israel ein Reiseziel wie jedes andere? kommen ganz unterschiedliche Antworten zusammen. Die Frage steht am Ende der Klassenarbeit zum Thema Juden und Christen - Kirche im Nationalsozialismus. Alle 19 jungen Leute wünschen sich irgendwie unbeschwerte Normalität beim Reisen nach Israel. Gleichzeitig erkennen aber auch alle: Es ist nicht normal. Israel ist die Heimat unseres Glaubens. Es ist das Land der Juden und der Palästinenser. Israel ist politisch tragisch umkämpft, höchstgefährdet. Und es ist zutiefst verwoben mit unserer jüngsten deutschen Geschichte, auch schambesetzt.
Am Israelsonntag, liebe Gemeinde, so spüren wir, haben wir eine ganze Kirchen- und Weltgeschichte im Hintergrund. Israel ist der aktuell wieder sehr brisante Lebensraum für Juden und Palästinenser. Israel ist das Volk, das Gott nach der Schrift zuerst erwählt hat. Israel ist jenes Stück Land, das der Herr den landlosen Sklaven und Sklavinnen zusagt - und es ist die Heimat unseres gekreuzigten, auferstandenen Herrn.
Hören wir am Israelsonntag auf Worte des Apostels Paulus an die Gemeinde in Rom (Röm 9, 1-5; 10, 1-4):
Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht,
  wie mir mein Gewissen bezeugt im Heiligen Geist,
  dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe.
  Ich selber wünschte, verflucht und von Christus getrennt zu sein für meine Brüder (und Schwestern), die meine Stammverwandten sind nach dem Fleisch,
  die Israeliten sind,
  denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit. Amen. (…)
Liebe Brüder, meines Herzens Wunsch ist, und ich flehe auch zu Gott für sie, dass sie gerettet werden. Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott haben, aber ohne Einsicht. Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht, die vor Gott gilt und suchen ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten und sind so der Gerechtigkeit Gottes nicht untertan. Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht.
Liebe Gemeinde,
an die wachsende und wichtige Gemeinde in der heidnischen Welthauptstadt Rom schreibt der fleißigste und wohl klügste aller Apostel diese Zeilen.
Saulus ist zum Paulus geworden. Wer heute diese gängige Redewendung gebraucht, will damit auf eine wesentliche Veränderung hinweisen – vereinfacht gesagt: Saulus ist alt und schlecht, Paulus neu und gerecht. Vom Saulus zum Paulus werden, das heißt: sich grundlegend positiv verändern.
In gewisser Weise ist dieses Verständnis auch berechtigt - aber nur zum Teil. Saulus war kein gesetzloser Bandit, bevor er Paulus, Apostel des Herrn, wurde. Saulus war ein Jude - wie Jesus. Er wuchs in einer strenggläubigen Familie heran, die sich der pharisäischen Richtung des jüdischen Glaubens um die Zeitenwende eng verbunden fühlte. Diese Pharisäer waren extrem fromme Menschen, die ganz und gar danach strebten, es Gott recht zu machen. Nicht nur die zehn Gebote vom Berge Sinai, nicht nur die 613 Gebote und Verbote in den 5 Büchern Mose, nicht nur die Weisungen der Propheten und der Schriften, sondern auch die sogenannte „Mischna“, also die mündlichen Auslegungen zu den alten Überlieferungen, regelten ihren Alltag.
In der Praxis ging das beispielsweise soweit, dass man sich (und die anderen!) wegen des Gebots, den Zehnten von den Erträgen abzugeben, damit plagte, sogar Dill, Minze und Kümmel haarklein abzuwiegen (vgl. Mt 23, 23).
Aus der Begegnung mit dem Auferstandenen gewinnt der „fundamentalistische“ Saulus die klare Erkenntnis, dass dieses gesetzliche Zerfasern des Alltags nicht Gottes Wille ist.
Das heißt nun aber keineswegs, dass damit das Alte Testament, die Tora abgewirtschaftet hätte. Genau wie Jesus argumentiert Paulus immer und immer wieder mit der Tora. Doch gemeinsam mit dem Rabbi aus Nazareth, den wir Christen „Messias“ nennen, will Paulus zurück zur schlichten Tora, zum Wegweiser für das Leben, zur alltäglichen Gerechtigkeit.
„Gerecht“ ist nicht, wer die zahllosen, kaum realisierbaren Forderungen der pharisäischen Gesetze erfüllt. Gerecht ist, wer sein Leben in enger Verbundenheit mit Gott lebt. Gerecht ist, wer aus der Liebe lebt. Die Liebe ist die Summe der Tora, sagt Paulus gegen Ende des Römerbriefs. Gerechtigkeit ist kein Mittel zur Selbstrechtfertigung, sondern Dynamik unseres Lebens. Gerecht werde ich in Beziehungen, zu meinen Mitmenschen, zu Gott. Gerecht bin ich, wo ich mich bei allem Bemühen um gerechtes Tun angewiesen weiß auf Gottes Barmherzigkeit.
Gerecht ist also, wer Gott vertraut und glaubt, dassseine Güte reicht, soweit der Himmel ist.
Diese Güte, die gerecht spricht, wird uns, den Milliarden Nachgeborenen der Heiden und Heidinnen Roms, durch Christus zuteil. Paulus sagt darum sogar: „Christus ist das Ziel, die Vollendung des Gesetzes.“ Israel hingegen wird diese Güte durch Gottes Erwählung geschenkt – beiden, Israel und den Völkern aber ganz und gar ohne Grund – allein aus Gnade.
Liebe Gemeinde,
soviel Theologie für einen Sonntag in der Saure-Gurken-Zeit!
In drei langen Kapiteln, 9-11, arbeitet sich Paulus an seiner Herkunft ab. Er leidet daran, dass viele Juden und Jüdinnen, die Ausweitung der Liebe Gottes auf die Völker und die Bedeutung des Auferstandenen für diese Welt nicht bekennen.
Wer Röm 9-11 aber im Ganzen liest und die judenfeindliche Patina der Jahrtausende abkratzt, beginnt zu ahnen, was Paulus ursprünglich gemeint hat.
Die Kirche, Gott sei es geklagt, ist ihm schon ab dem 2. Jahrhundert nicht mehr gefolgt, hat nicht verstanden. Dramatischer wirkten die Missverständnisse ab der konstantinischen Wende, als das Christentum Staatsreligion wurde. Ab dieser Zeit entwickelt die Feindschaft gegen die Juden ein christliches Gesicht. Die Kirche verfehlt sich selbst - am abgründigsten im letzten Jahrhundert, welches aber doch immerhin die Wende bringt, das Ende der jahrtausendealten christlichen Judenfeindschaft einläutet. In einer Erklärung unserer Landeskirche heißt es: „Dieser unentschuldbare theologische Irrtum hatte entsetzliche Folgen.“
Denken wir zurück an die Blitzlichter dieses Sommers:
Es war und ist Christenpflicht, aufzustehen, wo jüdische Menschen angegriffen werden - durch Worte, „Witze“, Vorurteile, Taten. Dazu gehört selbstverständlich das Gedenken an die Opfer von Auschwitz, aber auch von München.
Es war und ist ein Irrtum, wenn Christen meinen, mit Israel haben wir nichts zu tun. Es war und ist eine fatale Lieblosigkeit gegenüber unseren älteren Geschwistern, wenn wir das Erste Testament nicht als ein unerschöpfliches gemeinsames Erbe lieben und als Gottes Wort ehren.
Es war und ist etwas Unvergleichliches, nach Israel zu reisen. Das heißt keineswegs, dass wir blauäugig alles übergehen, was israelische Politik an Leiden verursacht. Gemeinsam eilen wir doch IHM entgegen, der abwischen wird alle Tränen und das neue Jerusalem schafft.
Wenn Himmel und Erde vergehen, dann kommt zum Ziel, was Gott mit seiner Schöpfung beabsichtigt.
Dann erst, so deutet Paulus, ist kein Unterschied mehr zwischen Jude und Christin.
Darum heißt es in den letzten Sätzen seiner theologischen Auseinandersetzung:
In der Vergangenheit wart ihr es, die Gott nicht gehorcht hatten, und durch den Ungehorsam Israels ist es dazu gekommen, dass ihr jetzt sein Erbarmen erfahren habt. Umgekehrt sind sie es, die gegenwärtig Gott ungehorsam sind, und dass ihr dadurch sein Erbarmen kennengelernt habt, soll dazu führen, dass schließlich auch sie sein Erbarmen erfahren. So hat Gott alle ohne Ausnahme zu Gefangenen ihres Ungehorsams werden lassen, weil er allen sein Erbarmen erweisen will.
Das Ziel bleibt die Rettung aller Menschen.
  Dann werden wir jubeln,
  als ganz und gar Versöhnte, im Einklang mit dem Apostel der Völker:
Gott ist es, von dem alles kommt,
  durch den alles besteht
  und in dem alles sein Ziel hat.
  Ihm gebührt die Ehre für immer und ewig.
  Amen.