Predigt zum Matthäus 10, 26b-33 von Christian-Erdmann Schott
10,26

Predigt zum Matthäus 10, 26b-33 von Christian-Erdmann Schott

Der Predigttext: Matthäus 10, 26 - 33
  Jesus Christus spricht: „Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge. Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“

  Liebe Gemeinde,
  bei Lichte besehen sind die Diktatoren, mit denen wir es in den letzten hundert Jahren zu tun hatten, eher armselige Gestalten – gleich ob sie nun Adolf Hitler, Gaddafi, Ceaușescu, Saddam Hussein, Enver Hodscha, Mao oder noch anders  geheißen haben. Wenn sie und die Unterdrückungssysteme, die sie eingerichtet hatten, gestürzt waren und ihre Macht verloren war, fragt man sich: Wie konnten so viele Menschen vor so einer kümmerlichen Gestalt so viel Angst haben?  Spätere, Nachgeborene haben es erst recht nicht verstanden und sich auch ihrerseits  gewundert:  Wie konntet Ihr nur so lange Ruhe halten, mitmachen, schweigen?  
  
  Nun ist die Angst eine menschliche Grundbefindlichkeit. Von Kindheit an kennen wir sie. Sie ist uns ein ständiger Begleiter, auch wenn uns das oft gar nicht bewusst ist. Diese latent in uns vorhandene Angst kann aber ausdrücklich angesprochen, aktiviert, verstärkt, von anderen für sich gegen uns benutzt werden. Beeinträchtigungen oder auch nur angedrohte Beeinträchtigungen zum Beispiel durch Liebesentzug, Zurücksetzungen, Benachteiligungen, Schikanen, Mobbing bis hin zu Inhaftierungen, Folterungen,  Mordandrohungen oder gar Mordvollzug führen zu Angst, verbreiten ein Klima der Angst, in dem die Menschen sich schweigend einrichten, unsicher, feige, gefügig, erpressbar werden. Der letzte und tiefste Grund aller Angst, der Kern der Angst aber ist der Tod. Um nicht sterben zu müssen, um nicht  getötet zu werden, versucht der Mensch unter Einsatz sehr vieler Mittel zu leben und zu überleben. Nicht selten versucht er es – mit welchen Rechtfertigungen auch immer - um jeden Preis. Und wird so sogar zum Unterstützer, nicht selten auch zum Nutznießer der ihn bedrohenden Systeme.  
  
  Ich kann mir vorstellen, dass diese oder ähnliche Erfahrungen hinter den Sätzen stehen, die heute zum Predigttext bestimmt sind.  Zur Zeit Jesu und der Urgemeinde hat es ja auch schlimme Diktatoren gegeben. Ich denke nur an Herodes, der Johannes den Täufer ermorden ließ, oder an den berüchtigten Kaiser Nero. So lange wir die Weltgeschichte kennen, hat es, neben mancher guten Erscheinung,  immer auch  Gewaltherrscher, Korruption, Unrechtssysteme gegeben, die die Menschen durch die Angst, die sie ausnutzten,  korrumpierten. 
  
  Nun erleben wir es heute gerade mit, wie der Versuch, die Angst zu überwinden, gegen Unrecht und Gewalt aufzustehen in ganz unterschiedlichen Bereichen der Welt gleichzeitig  um sich greift. Wir sehen das bei den Revolutionären in Nordafrika, bei den Oppositionellen in China und Nordkorea,  bei den Demonstranten in den USA, in Frankfurt, Berlin, Stuttgart. Diese Menschen trauen sich die Erhebung. Sie lassen sich nicht mehr alles gefallen.  Sie wehren sich gegen die Unterdrückung. Das ist ermutigend und beispielhaft auch für andere. Es sind Zeichen der Hoffnung auf die eigenen guten Kräfte in uns Menschen selbst.
  
  Und trotzdem, diese erfreulichen Siege sind kein prinzipieller Durchbruch. Die grundlegende Bedrohung der Menschheit durch die Angst bleibt. Auch siegreiche Revolutionen können sehr schnell wieder in Repressionen umschlagen und in manchmal sogar noch schlimmere Bedrückungssysteme einmünden. Einen prinzipiellen Durchbruch kann und wird es erst geben, wenn der Angst das Fundament entzogen ist; wenn es eine Möglichkeit gibt, die Angst des Menschen vor dem Tod zu überwinden und zu entmachten.
  
  Diese Möglichkeit leuchtet in unserem Predigttext auf. Er berichtet, dass Jesus seine Jünger in diese Welt sendet. Sie sollen ihr das Evangelium vom Reich Gottes bringen. Er weiß, dass auch sie schwache, ängstliche Menschen sind. Im Verlauf der Passionsgeschichte  wird das noch sehr deutlich werden. Aber damit sie sich vor den Herrschern und Gewaltigen, auch vor den Nachstellungen der Gegner oder vor den Zeitströmungen nicht fürchten, sondern einen freien Mut behalten, ruft er ihnen zu „Fürchtet euch nicht!“. Und das gleich drei Mal. Das unterstreicht seine Absicht: Jesus will die Jünger ermutigen, stärken, er will ihnen  für ihren Einsatz den Rücken stärken.  Nicht, indem er einen Appell an sie richtet – nach dem Motto: Reißt euch zusammen, aktiviert eure inneren Kräfte, traut euch was zu, lasst euch nicht unterkriegen.
  
  Nein,  er weist sie hin auf Gott, den fürsorglichen Herrn und Vater.  Das heißt: Ihr seid nicht allein. Gott hat euch bei euerm Einsatz fest im Blick. Er weiß von euch. Er steht hinter euch. Ihr werdet nicht wie ein verlorener Haufen als Kanonenfutter irgendwo verheizt. Nein, Gott fängt euch auf – auch wenn es hart auf hart geht, und ihr sterben müsst. Ihr seid und bleibt, tot oder lebendig, Gottes Hausgenossen. Verlasst euch darauf und geht euern Weg, ohne Angst mit Ruhe und Freude.
  
  Seit den ersten Christen sind viele, die sich darauf verlassen haben, diesen Weg gegangen. Sie haben mit dem Evangelium die Welt verändert, auch dadurch, dass sie durch ihr Lebenszeugnis gezeigt haben, dass  die Angst vor dem Tod, dass der Kern aller Angst, im Glauben überwindbar ist.
  
  Einer von diesen mutigen Männern war Martin Luther. An ihn erinnern wir heute, am Reformationsfest, besonders. Dabei wird häufig von der Kritik  gesprochen, die er der Katholischen  Kirche gegenüber geäußert hat. Diese Kritik war mutig und berechtigt.  Sie  ist auch heute noch weitgehend aktuell und nicht überholt. Darüber darf aber nicht vergessen werden, dass sich Martin Luther auch den eigenen Leuten gegenüber kritisch geäußert und ihnen manches nachdenkenswerte Wort ins Stammbuch geschriebenen hat. Eins dieser Worte, das  sich zugleich  wie ein abschließender Kommentar zu unserem heutigen Predigttext liest, will ich hier nennen (WA 10 III, 66, 32-35):
  „Es gibt viele, die sagen: ich verfolge das Evangelium nicht, ich höre es gern. Das ist nicht genug! Hast du das Evangelium und weißt, was es will, so musst du bei deiner Seelen Seligkeit das bekennen, es gehe hernach, wie es wolle, sonst bist du kein Christ“. Amen