Predigt zur Jahreslosung am Neujahrstag von Eberhard Busch

Predigt zur Jahreslosung am Neujahrstag von Eberhard Busch

„Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist den Schwachen mächtig.“
Das hat nach dem 2. Korintherbrief des Apostels Paulus (Kapitel 12 Vers 9) Gott der Herr in Jesus Christus diesem seinem Boten zu verstehen gegeben. Das war Gottes Wort an ihn in einer Zeit, als er durch allerlei Widrigkeiten angefochten war. Nun sind diese Worte von Vertretern in der Kirche ausgesucht worden als Jahreslosung für das Jahr 2012, als ein Geleitwort für uns an allen Tagen des Neuen Jahres. So soll es auch gleich an dessen erstem Tag zu uns sprechen.
„Meine Kraft ist den Schwachen mächtig“, heißt es da aus göttlichem Mund. Das ist für sie ein Wort der Ermutigung und Ertüchtigung. Und es ist mehr als bloß ein Wort. Es redet von einer Kraft für Schwache, für solche, die von Stärkeren niedrig gehalten werden, die unsicher sind, weil sie den Weg  nicht sehen, um vorwärts zu kommen, die den Mut verloren haben, um aus ihrer Mutlosigkeit herauszukommen. Es ist erstaunlich, dass Gott in Christus solche Schwachen auch nur sieht, aber mehr noch, dass er Partei für sie ergreift und dass er sich ihnen zu Seite stellt. Denn in der Welt von heute schaut man auf die Starken. Da werden die Blicke nach oben gelenkt, hin zu denen, die an der Macht sind, die an der Sonne stehen, hin zu den Einflussreichen, hin zu den Wortgewandten, zu den Gernegroß-Menschen, zu den Hübschen, hin zu denen, die an einer Spitze sich tummeln. Vielleicht sind nicht wenige von denen auch in irgendeiner Weise elend dran. Aber die glitzernden Medien blenden das oft aus. Und nicht wenige von denen, die nicht dann nicht zu der glitzernden Spitze dieser Elite gehören, lieben es, dorthin zu blicken, vielleicht weil sie es auch einmal gut haben möchten, vielleicht um sich über ihre Sorgen hinwegzutäuschen.
Aber in der Bibel wird die Blickrichtung nach denen „da oben“ umgedreht. Sie redet von dem Höchsten, der eine umgekehrte Blickrichtung hat und der auch unsere Blickrichtung um 180 Grad umwenden möchte. Da geraten die Schwachen an die erste Stelle, die Enttäuschten und Betrogenen, die, welche sich, weiß wie, Mühe geben und doch nicht hochkommen und obendrein noch all die Schwerenöter. Die Schwachen werden da in den Vordergrund gerückt, nicht weil Schwachheit irgendein Vorzug ist, er ist ja gewiss keiner, und nicht weil zur Abwechslung einmal sie an die Macht kommen sollen, um dann wie die zuvor Mächtigen zu herrschen und diese dafür nach unten zu drücken. Gott erbarmt sich der Schwachen. Ihm gehen sie zu Herzen. Ihm tun sie leid. Er hat sie lieb. Darum ist es allerdings so, wie es der Apostel Paulus gleich am Anfang des 1. Korintherbriefs schreibt (1,27-29): „Was vor der Welt töricht ist, das hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache. Und was vor der Welt töricht ist, das hat Gott erwählt, damit er das Starke zuschanden mache. Und was vor der Welt niedriggeboren und was verachtet ist, das hat Gott erwählt, und das, was nichts gilt, damit er das, was gilt, zunichte mache. (Und das alles,) damit sich keiner vor Gott rühme.“
Also, das Bibelwort erklärt nicht einfach: es werde den Schwachen widerfahren, dass sie auch einmal Starke werden. Wie an einem Nagel  an der Wand hängt alles an der Autorität dessen, der hier spricht: „Meine Kraft ist in ihnen mächtig“. Dass Gott sich ihrer Schwachheit annimmt, dass er ihre mühselige Sache sich zu eigen macht, das ist es, was ihnen Halt und Ausdauer gibt, so dass sie in aller Bedrängnis nicht erdrückt werden. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard prägte den nachdenklichen Satz: „Gottes bedürfen, das ist des Menschen Vollkommenheit.“ Das bedeutet: die Vollkommenheit des Menschen, seine ganze Kraft liegt nicht in ihm selbst. Eben er ist in sich selbst schwach, nur einer, der Gottes bedarf, der von seinem Beistand abhängig ist und bleibt. Die Kraft liegt hier allein bei Gott. Und das nicht nur für eine vorübergehende Weile. Solange er lebt, bleibt er auf Gott angewiesen, und eigentlich wird er es mehr und mehr, je länger er lebt.
Der Genfer Reformator Calvin war erschrocken über die Brutalität, in der zu seiner Zeit die Menschen evangelischen Glaubens in Frankreich massenhaft blutig verfolgt wurden. Man sagte dort unter den an Leib und Leben Bedrohten: „Wer das Lamm spielt, der wird gefressen.“ Solchen Satz kann man in den heutigen Umständen ja aufs neue seufzen: „Wer sich nicht wehrt, kommt unter die Räder.“ Das scheint das Gesetz zu sein, um in dem „Kampf ums Dasein“ zu überleben. In dieser Situation der um sich greifenden Gewalt fragt Calvin: Was heißt denn das, dass Jesus seinen Nachfolgern den Spruch mit auf ihren Weg gibt: „Selig sind die Sanftmütigen“? Ist das wirklich ernst zu nehmen? Gut gemeint, aber nicht durchführbar?! Denn sind Sanfte nicht auch in insgeheim Schwache? Calvin fragt sich das selbst, aber dann antwortet er: Die Bibel heißt vielmehr die Sanften, die Schwachen aufblicken zu der „Schutzmacht unseres Herrn Jesus Christus. Denn bei der unendlichen Macht, die ihm zu unserer Erhaltung übergeben ist, wird er sich sicherlich stärker als alle erweisen.“
Calvin weist auch darauf hin, dass solche Schwachen sich nicht auf sich selbst zurückziehen können, wenn denn Gott in Christus ihnen beisteht. Sie werden vielmehr, wie er eindrücklich sagt, ein „zartes Mitgefühl“ bekommen mit anderen, die in ihrer Schwachheit elend dran sind und die auch solchen Beistand brauchen. Und so sagt er in der Predigt zu seinen Mitchristen Sätze, die heute so aktuell sind wie damals: „Wenn wir die einen krank, die anderen arm und aller Güter beraubt, wieder andere verzweifelt und in Not sehen, ob Leibes oder der Seele, da sollen wir denken: Ach, er gehört zu unserem Leib, und dann sollen wir mit der Tat zeigen, dass wir barmherzig sind. Denn wir können tausend Mal verkünden, die Leidenden tun uns leid,  wenn wir ihnen nicht helfen, so gilt all das Gerede gar nichts.“ Diese Sätze schärfen uns ein, dass es den selbst Schwachen eben nicht gut tut, zu den Stars hin zu gaffen, die über unseren Köpfen schweben. Dies ist gut und dies ist recht, uns denen zuzuwenden, die wohl noch tiefer im Elend stecken.
Aber noch einmal: Das ist der Nagel, an dem dabei alles hängt: die Kraft des Erbarmens Gottes mit seinen darauf angewiesenen Menschen. Wir dürfen uns darauf verlassen, dass es eine echte Hilfe ist, auf die Kraft Gottes zu vertrauen. Mag es auf unserer Seite Schwachheiten geben, physische oder psychische, aber ist Gott mit uns, dann können wir getrost sein, was auch komme und geschehe. Dann dürfen wir uns daran halten, dass jedenfalls Gott unser Beistand ist, der es mit uns hält. Ja, darf man dann nicht sogar bisweilen mit Psalm 18 (30) singen: „Mit meinem Gott kann ich über die Mauer springen“?  Denken wir an die phantastische Geschichte, die uns im Alten Testament erzählt wird. Da treten sich zwei sehr gegensätzliche Gestalten gegenüber: auf der einen Seite der hochgerüstete Kraftmensch, der Riese Goliath, und auf der anderen Seite der kleine Knabe David. Die Glieder des Volkes Israel zittern vor Angst angesichts jenes Hochgerüsteten. Denn der verhöhnt mit gewaltiger Stimme den Gott Israels, der dazu zu schweigen scheint. Doch da tritt ihm aus den Reihen der Israeliten ausgerechnet der Schwächling David entgegen, und der spricht zu Goliath: „Du kommst zu mir mit Schwert, Spieß und Schild. Ich aber komme zu dir im Namen des Herrn der Heerscharen, des Gottes Israels.“ (1. Sam. 17,45) Darauf zeigt sich das wunderbar Überraschende, dass der Name des Herrn der militärischen Gewalt ganz und gar überlegen ist. Und es zeigt sich einmal unverhüllt, dass es stimmt, wie es im Liede heißt: „Denn wir nur seine Zuversicht / auf Gott setzt, den verlässt er nicht.“
Wohlgemerkt: Gott gibt uns Menschen zwar nicht all das, was wir vielleicht für wünschbar halten. Paulus wünscht sich z.B. die Heilung von einer ihn offenbar hart bedrängenden Krankheit. Doch Gott gibt ihm nicht das. Er gibt ihm – wie auch uns in jedem Fall das, was wir brauchen. Aber er gibt es. Was wir nötig haben, das bestimmt Gott. Und es mag uns hart erscheinen, dass das nicht einfach dasselbe ist, was wir uns wünschen. Aber auch wenn es ein anderes ist als das, was uns wünschbar erscheint, so dürfen wir darauf vertrauen, wie es in einem Kirchenlied heißt: „Er, als mein Arzt, der helfen kann, wird mir nicht Gift einschenken / als Arzenei ...“ Was wir unbedingt brauchen, ist nämlich dies, dass er uns auf keinen Fall verlässt. Was wir nötig haben, ist sein Beistand. Darin hält er uns Menschen mit seiner Stärke und Güte fest in guten wie in dunklen Tagen, in Freuden und im Leiden, im Glück und unter Schmerzen, im Leben und im Sterben. Eben das ist die Gnade, die uns unser Bibelwort zuspricht: dies, was keiner von uns verdient hat und worauf keiner einen Anspruch hat, dies, dass der ewige Gott in dem uns zugewandten Heiland seine Hand von uns nicht abzieht, dass er uns in ihr vielmehr umfasst. Diese uns bergende und bewahrende Hand ist es, was der Predigttext sagt, - wörtlich übersetzt: „Meine Gnade ist dir genug.“ Und wenn wir es im Moment und sogar auf längere Zeit nicht verstehen und einsehen, wir dürfen darauf pochen: Er, unser Herr und Retter, hat es uns doch gesagt: „Meine Gnade ist voll ausreichend gut für dich.“ Der hat das gesagt, der sich selbst in seinem Sohn in die Tiefe des Kreuzesleidens begeben hat. Er hat sich darin zur Beseitigung all dessen eingesetzt, was uns von Gott trennt. Er ist uns der Garant dafür, dass seine Gnade uns Hilfe und Halt und Heilung ist.
„Meine Gnade ist dir genug.“ Die Lutherbibel übersetzt den Satz etwas anders und sagt: „Lass dir an meiner Gnade genügen.“ Das sollten wir nicht so missverstehen, als ob Paulus sagte: „Du sollst all deine Gebetsanliegen auf ein Minimum hinunterschrauben. Mehr kannst du nicht erwarten. Du sollst dich damit bescheiden.“ Sinnvoll sollte der Satz in dieser zweiten Übersetzung anders aufgefasst werden, nämlich so: „Du mögest dem zustimmen und beipflichten, was Gott beschlossen hat, dir aus lauter Gnade zu geben. Du mögest anerkennen, dass das genau richtig und gut für dich ist. Du mögest dafür danken, dass dir Gott dies, seine Gnade, zuteil werden lässt. Jawohl, Gott sei Dank dafür. Du brauchst nicht mehr und brauchst nichts Anderes. Du hast damit alles, was du brauchst. Du kannst aufrichtig dazu sagen: ‚Das ist es, was mir gut tut, was mich stärkt und orientiert, was mich tapfer und was mich ruhig macht.’“ Dietrich Bonhoeffer hat zum Neujahrstag 1944 das bekannte Lied gedichtet, in dem er im Blick auf die kommende Zeit davon spricht, dass Gott uns auch einen bitteren Kelch des Leids reichen kann. Aber er fährt so fort: Doch „nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern.“ Hören wir es wohl: auch dies nimmt er „dankbar“ entgegen! Weshalb das möglich ist, das stellt schon der erste Vers seines Liedes klar: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ In solcher Getrostheit dürfen auch wir in das Neue Jahr und in jeden neuen Tag hineingehen.