Predigt zur Jahreslosung am Neujahrstag von Sabine Nollek

Predigt zur Jahreslosung am Neujahrstag von Sabine Nollek

Liebe Gemeinde am Neujahrstag,
was wird das wohl für ein Jahr? Am Übergang der Zeiten stellt sich diese Frage für ein paar Stunden. Und man kommt ins Sinnieren. Gott sei Dank weiß keiner so genau, was auf ihn zukommt. Sonst würden wohl viele gar nicht das neue Jahr betreten wollen. Andere haben schon eine Vorahnung oder ein Vorzeichen, können sich freuen oder sind eben auch schon besorgt.
Am Übergang der Zeiten die immer gleichen Fragen. Aber am Übergang der Zeiten auch ein immer neues Wort aus der Bibel als Wegbegleitung, als Wegweiser, als Wegzehrung. Die Jahreslosung. Diesmal steht sie im 2. Korintherbrief des Paulus und lautet: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Ein kurzes, aber sehr gefülltes Wort. Ich denke, wir werden ein ganzes Jahr daran buchstabieren müssen, was Gottes Kraft in der Schwachheit bedeutet. Es ist deswegen auch ein ganz kostbares Wort, weil Paulus es als ein direktes Wort von Jesus an ihn versteht.
Und weil es mit etwas zu tun hat, wo auch wir kämpfen: mit Krankheit und Heilung.
Ich lese den Abschnitt aus dem 2. Korintherbrief, worin sich die Jahreslosung findet:
Von mir selbst aber will ich nichts rühmen, nur meine Schwachheit. Doch wenn ich mich rühmen wollte, täte ich darum nicht töricht; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, auf dass mich nicht jemand höher achte als er an mir sieht oder von mir hört. Und auf dass ich mich nicht der hohen Offenbarungen überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlage, auf dass ich mich nicht überhebe. Dafür ich dreimal zum Herrn gefleht habe, dass er von mir wiche. Und er hat zu mir gesagt: Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen, in Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.
Wie kam es zu diesen Worten des Paulus?
Paulus musste sich in Korinth gegen den Vorwurf verteidigen, seine Briefe aus der Ferne seien wuchtig und stark und überlegen. Aber er selbst, wenn er anwesend sei, sei schwach und seine Rede schlecht. Ein harter Vorwurf, der in Korinth kursierte. Paulus hatte ja die Gemeinde lange betreut und es waren viele persönliche Beziehungen gewachsen. Aber dann waren andere gekommen und sie machten nun sein Andenken schlecht. Vielleicht weil sie immer nur zu hören bekamen: Paulus hat gemeint...oder: Mit Paulus haben wir das so gemacht. Jedenfalls haben sie beim Apostel einen Angriffspunkt gefunden. Sie gaben den Korinthern zu bedenken: Wenn Paulus wirklich von Gott die Kraft und die Vollmacht eines Apostels hat, dann dürfte er nicht so schwach auftreten und dann dürfte er nicht auch noch krank sein. Eine Krankheit schwächte ihn also. Paulus spricht von einem Pfahl im Fleisch. Diese Krankheit hat ihn zwar nicht dauerhaft und grundsätzlich in seiner Arbeit eingeschränkt, aber sie hat sich doch immer wieder bemerkbar gemacht. Wahrscheinlich mit starken Schmerzen. Denn Paulus beschreibt den Pfahl im Fleisch mit den Worten: Des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlägt. Wahrscheinlich war es eine Krankheit, die ihn immer wieder kurzfristig stark einschränkte. Viel wurde darüber spekuliert, um welche Krankheit es sich handeln könnte: Ein Sprachfehler, ein Augenleiden, Epilepsie, Migräne, ein Nervenleiden. Paulus jedenfalls hat diese Krankheit zu schaffen gemacht. Und er hat – wie das jeder soll – zum Herrn gebetet, seine Krankheit zu heilen.
Das Gebet um Heilung ist ein wichtiges und legitimes Gebet. Dieses Gebet richtet unseren Blick darauf, dass Gott der Arzt ist, dem wir unsere Beschwerden anvertrauen können. Dass Gott auch der ist, der Krankheit heilen kann und will. Die Evangelien sind voll von Heilungsgeschichten, voll davon wie Jesus Menschen aus ihren langen und schweren Krankheiten und Behinderungen befreit. Da wäre es doch widersinnig, wir würden Gott nicht mit ganzem Herzen um Genesung bitten. Paulus hat das auch getan, ernsthaft, dreimal. Bei dieser Angabe dreimal mag mancher von uns schmunzeln – dreimal, das würde bei mir nie langen – ich kann es schon gar nicht mehr zählen, wie oft ich vor Gott auf den Knien lag und ihn angefleht habe. Vielleicht denkt Paulus bei Drei auch an die symbolische Bedeutung der Zahl. Drei steht für die Vollzahl. Aller guten Dinge sind drei. Bis drei zählen – drei steht also für ausreichend oft.
Gott hat seine Krankheit nicht weggenommen. Mit dieser Erfahrung müssen wir alle leben. Unser Gebet kommt nicht an sein Ziel, jedenfalls nicht so wie wir es gerne hätten. Paulus hat eine Interpretation gefunden: ich bin krank, dass ich mich nicht überhebe. Das ist keine grundsätzliche Erklärung für Krankheit. Das ist nur ein sehr persönlicher Eindruck. Paulus spürt: Er wäre ein Überflieger, vielleicht gar nicht von dieser Erde ohne seine Krankheit. Er würde andere vielleicht gar nicht verstehen können. So aber erdet ihn seine Krankheit. Hilft ihm, nicht überheblich zu werden. Hilft ihm, Gott nicht aus den Augen zu verlieren. Wenn er alles selbst könnte und alles selbst hinbrächte, wo hätte Gott seinen Platz im Leben? Nocheinmal: das taugt nicht für eine grundsätzliche Bestimmung von Krankheit. Wie wenn Gott uns krank machen müsste, damit wir von ihm abhängig werden. Aber es zeigt eine Chance in Krankheit: dass wir in solchen Zeiten im Klagen, im Bitten, im Gebet uns eben auf Gott werfen. Dass wir spüren, wie sehr wir ihn brauchen gegen den Satansengel. Gegen die dunkle Sogwirkung, die eine Krankheit hat, wenn sie mich in Traurigkeit und Schwäche führt.
Aber die erzieherische Funktion ist nicht der eigentliche Zielpunkt in den Gedanken des Paulus. Er hat vielmehr etwas anderes, wunderbares in ihr erlebt und begriffen und zwar durch ein Wort des Herrn direkt an ihn. Jesus hat ihm geantwortet. Jesus hat ihn nicht alleingelassen in seiner Not. Sondern ihm ein Wort gegeben, das wie ein Geländer auf einem schwierigen Weg ist, wie ein Seil in den Bergen am Abrund, wie eine Hand, die mich aus einem Loch zieht. 
Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Ein Seil am Abgrund? Oder doch nur Appell an die Genügsamkeit des Paulus: jetzt gib halt eine Ruhe. Jetzt nimm halt an, was sich nicht ändern lässt. Paulus als Stoiker?
Die Übersetzung Martin Luthers lässt dieses Mißverständnis aufkommen. Im Griechischen heißt die Stelle: Meine Gnade genügt.
Meine Gnade reicht aus. Paulus wird also nicht gesagt, er solle sich halt begnügen mit dem was er hat, was gut ist. Sondern Jesus sagt zu Paulus: Ich habe alles, was du brauchst. Meine Gnade langt. Es geht also nicht nur darum, sich nicht unabhängig von den äußeren Dingen zu machen und Leiden einfach zu ertragen. Es geht darum, der Quelle der Gnade, der Fülle zu vertrauen. Die Genügsamkeit, die sich daraus ergeben kann ist dann nicht menschliche Tugend, sondern göttliches Geschenk.
Schon die alttestamentlichen Psalmbeter haben diesen Blickwinkel gehabt. Herr, wie lange noch willst du mich vergessen?wird in Ps 13 geklagt. Und am Schluß heißt es: Ich aber traue darauf, dass du so gnädig bist.
Gottes Gnade genügt. Diesen kurzen Satz in seiner ganzen Auswirkung zu begreifen, dafür braucht es ein ganzes Leben. Gottes Gnade genügt. Warum? Weil meine Kraft in den Schwachen mächtig ist. Daran lässt sich verstehen: Der Mensch, der krank ist, ist nicht von Gott getrennt, von Gott geschlagen, sondern im Gegenteil: Gott ist bei ihm, in ihm da – mit seiner Kraft.
Wieder genau vom Griechischen übersetzt heißt es: Die Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung. Jesus hat dies auch gezeigt: es sind vor allem die Geringen, die Schwachen, denen er sich zuwendet und die er ruft. Darum ist Leiden und Schwachheit nicht die Erfahrung, dass Gott mich verlassen hat. Es ist genau das Gegenteil: Gott ruft mich in seine Gemeinschaft, damit ich, wo meine Kraft gering ist, von seiner Kraft her lebe. Das ist ja immer die große Gefahr, dass ich mich in meiner Schwäche von Gott getrennt fühle. Dass ich mich von ihm verlassen fühle, auf mich selbst zurückgeworfen. Dass dies schon Jesus am Kreuz so ging, zeigen seine Worte: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Auch er hat in diesem Augenblick nichts mehr von Gottes Gegenwart gespürt. Wie tröstlich, dass es Jesus selbst so ging wie wir es viele Male auch erleben. Es ist kein Zeugnis des Unglaubens, sondern es zeigt, wie es nicht ausbleibt, dass wir im Leben darum ringen müssen, Gott nicht zu verlieren. Aus unserer Sichtweise. Aus Gottes Perspektive stellt sich das anders dar: Meine Gnade genügt. Ich bin da. Und ich habe alles dabei, was du brauchst. Halte dich an mich.
Jetzt hat Paulus einen neuen Blick auf seine Schwachheit bekommen: Er muss sie nicht unbedingt mehr weghaben, er muss sie nicht verstecken, sich nicht dafür schämen, sondern er kann sich ihrer rühmen. Welch eine Veränderung: Früher hat Paulus gedacht, dass er nur seine Stärke, seinen Erfolg hervorheben kann – dass Gott nur darin zum Ausdruck kommt. Wenn ihm etwas gelingt, wenn er etwas erreicht. Aber durch das Wort des auferstandenen Jesu hat sich das umgekehrt: Paulus kann jetzt das hervorheben, was er vorher am liebsten weghaben wollte: seine Schwachheit, in der die Kraft Christi bei ihm wohnt.
Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen, in Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark, sagt er.
Mit einem Paradox endet Paulus seine Gedanken: wenn ich schwach bin, bin ich stark. Ich wünsche uns, dass wir das im Jahr 2012 an unseren schwachen Punkten wirklich erleben. Es wird uns nicht zufliegen, es will erkämpft sein.
Von einem solchen Kampf um Gott spricht nicht nur Paulus, viele haben diese Erfahrung gemacht. Auch die Theologin Dorothee Sölle. Sie beschreibt in ihrem Buch Hinreise eine Zeit ihres Lebens, die auch solche eine Erfahrung größter Schwachheit war: die Scheidung von ihrem ersten Mann. Sie schreibt in ihrem Buch Hinreise: 
„Alles, worauf ich gebaut hatte, was ich gehofft, geglaubt und gewollt hatte, war vernichtet.... Ich habe über drei Jahre gebraucht, nicht, um damit "fertigzuwerden", sondern nur, um die mich ständig begleitenden Wunschphantasien des Selbstmord zu überwinden. Sterben-wollen war die einzige Hoffnung, der einzige Gedanke.
In dieser Situation ging ich einmal auf einer Reise durch Belgien in eine dieser spätgotischen Kirchen. Der Ausdruck "beten" kommt mir jetzt falsch vor; ich war ein einziger Schrei. Ich schrie um Hilfe, und darunter konnte ich mir zweierlei vorstellen: dass mein Mann zu mir zurückkehrte oder dass ich stürbe und diese Dauerhinrichtung endlich aufhörte. In dieser Kirche fiel mir, in mein Schreien versunken, ein Wort aus der Bibel ein: "Lass dir an meiner Gnade genügen." Ich hasste dieses Wort schon lange, es war für mich der Ausdruck einer durch nichts gemilderten Brutalität...
Der über alles mächtige Gott, der für Tausende Gesundheit, langes Leben und Wohlergehen hatte, hatte für Paulus nichts übrig als einen Spruch, der die unerträgliche Realität nicht änderte, sondern festschrieb. Ich muss damals in der Mitte des Tunnels angekommen gewesen sein. Ich wusste wirklich nicht, was das theologische Wort ‚Gnade‘ bedeuten könnte, wenn alle Realität meines Lebens nichts damit zu tun hätte. Aber ‚Gott‘ hatte mir gerade diesen Satz ‚gesagt‘. Ich kam aus der Kirche und betete von nun an nicht mehr darum, dass mein Mann zu mir zurückkäme. (Sterben zu können, darum habe ich noch lange gebetet.) Ich fing, in der Größe eines Stecknadelkopfes, an zu akzeptieren, dass mein Mann einen anderen, seinen eigenen Weg ging“. (Quelle: "Die Hinreise. Zur religiösen Erfahrung. Texte und Überlegungen", Kreuz Verlag, 7. Auflage 1983, 42-44
Soweit Dorothee Sölle. Wie Paulus und sie und viele mehr können wir manchmal nichts Anderes tun, als zu akzeptieren, dass es Tatsachen im Leben gibt, die sich nicht mehr ändern lassen. Wie sie können wir nur weitergehen – trotzdem. Gott spannt ein Seil über den Abgrund: Meine Gnade genügt. Meine Kraft kommt in der Schwachheit zur Vollendung. Daran können wir uns ganz bestimmt festhalten im neuen Jahr.