Predigt zur Jahreslosung von Helmut Dopffel
12,9

Predigt zur Jahreslosung von Helmut Dopffel

Jesus Christus spricht: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
  
  Liebe Gemeinde,
  
  wer schwach ist, hat keine Kraft. Das erleben wir drastisch, wenn wir krank sind und mit Fieber im Bett liegen. Wer schwach ist, hat keine Macht und kann seine Ziele nicht erreichen. Das erleben wir schmerzlich, wenn wir in einer Auseinandersetzung den Kürzeren ziehen. Ob wir in Familien schauen, auf einen Pausenhof, ins Berufsleben oder in die Politik: Schwach zu sein ist nicht lustig, sondern höchst unangenehm, manchmal gefährlich, und wir schämen uns oft noch dafür. Denn wer schwach ist ist selbst schuld. Deshalb wollen wir stark sein, und nicht schwach, und wir tun vieles, um uns aus einer Position der Schwäche zu befreien. Superman ist das Ideal und nicht irgendein loser.
  
  Wie kann dann Paulus schreiben, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist? Wie kann Jesus selbst so zu Paulus reden und es nun uns 2012 als Jahreslosung mitgeben? Auch Paulus erzählt hier von einer Lebenserfahrung. Es ist eine Lebenserfahrung, die die Realität und den Schmerz der Schwäche nicht einfach aufhebt. Aber offenbar gibt es eine Wirklichkeit, in der sich Kraft, Macht und Schwäche anders verhalten als wir es zunächst einmal erleben.
  
  Dass das, was wir im Alltag erleben, familiär, beruflich oder politisch, nicht alles ist, das lassen uns ja schon die Naturwissenschaften ahnen mit ihren Einblicken in die faszinierende Welten der Atome und der Sterne, die so ganz anders sind als wir uns die Welt vorstellen, und die wir nur bestaunen können. Die Welt ist offenbar nicht einlinig, sondern eher wie ein guter Krimi, in dem man zunächst schnell zu wissen meint was Sache ist; und dann schält sich so ganz langsam heraus dass sich in Wahrheit alles ganz anders verhält…und am Ende vielleicht noch einmal ganz anders. Die biblische Botschaft will nun nichts anderes als uns zeigen, dass es in der Welt und dem Leben, mit uns selbst und den anderen Menschen ein bisschen so zugeht wie in einem Krimi, dass nämlich die Wahrheit an einigen entscheidenden Punkten eine ganz andere ist als es uns im Alltag und angesichts unserer Erfahrungen so erscheinen mag. Deshalb finden wir in der Bibel und im Gesangbuch immer wieder Aussagen, die mit der durchschnittlichen Alltagserfahrung nicht übereinstimmten, ja sogar in sich widersprüchlich erscheinen: Die Finsternis ist nicht finster vor dir...du erhebst die Niedrigen…in Schwachheit wird Gottes Kraft mächtig…und der große Gott liegt elend, nackt und bloß in einem Krippelein. Aber diese widersprüchlichen und paradoxen Aussagen sind wie Spuren, wie Indizien in einem Krimi, die zunächst einmal nicht ins wohlgefügte Bild passen: Sie bringen uns der Wahrheit ein Stückchen näher. Auf der Spur dieser Wahrheit  zu sein und sein Leben daran zu orientieren, das heißt glauben. Die ganze Wahrheit werden wir freilich nicht in diesem Leben, sondern erst am Ende aller Dinge sehen und verstehen. Und wahrscheinlich wird sie noch einmal voller Überraschungen für uns sein.
  
  Gottes Kraft ist in unserer Schwachheit mächtig. Auch bei Stärke und Schwäche, Macht und Ohnmacht verhält es sich also in Wahrheit nicht immer so, wie es zunächst scheint. Das banale irdische Programm der nackten Gewalt und Stärke und Macht ist nicht die letzte Wahrheit, sagt uns die Jahreslosung. Es ist sogar eine ziemlich oberflächliche Wahrheit. Und wenn wir aufmerksam sind stoßen wir manchmal fast schon von selbst darauf.
  Manchmal liegen in unseren Schwächen Stärken verborgen, denn jede Schwäche hat auch eine starke Kehrseite, die es zu finden gilt, und jede Schwachheit kann Kräfte mobilisieren. Manchmal ist das Schwache auf Dauer mächtiger als das Starke – das zarte Gras sprengt den Asphalt, die Pusteblumen erobern die ganze Wiese, und das weiche Wasser besiegt den harten Stein. Manchmal kann nur einer stark machen und heilen, der selbst schwach verletzt ist. Manchmal ist es gut, die Kontrolle aus der Hand zu geben, Ohnmacht zuzulassen und das Wissen: jetzt kann ich nichts mehr tun was förderlich ist: denn gerade so beginnen Verkantungen sich zu lösen, beginnt es wieder zu fließen, fügen sich die Dinge wie von selbst. Manchmal hilft nur weiter, wenn wir keine Angst vor der Schwachheit haben, unserer eigenen oder der anderer Menschen, sondern sie umarmen. Manchmal können nur schwache Menschen etwas zum Ziel bringen, weil sie die Gabe haben, das Herz der Starken und sogar der Gewalttätigen zu rühren. Es sind die Kinderherzen und Kinderaugen, die uns manchmal etwas von der Macht der Schwachheit erahnen lassen. Die Macht der Schwachheit bewirkt Gutes, sie verwandelt, ja, sie vermag zu heilen was anders nicht geheilt werden kann.
  
  So heilt auch Gott diese Welt und rettet sie. Er wird ein Kindlein elend, nackt und bloß, und stirbt am Kreuz elend nackt und bloß. Das ist vielmehr als Solidarität mit uns und den Leidenden dieser Erde. Das ist der einzige Weg, diese Welt zu retten ohne sie zu zerstören. Wenn wir Menschen andere zu retten versuchen geht es selten ohne Gewalt und Verluste ab, ohne dass neue Wunden geschlagen werden. Nur wenn die Kraft in der Schwachheit mächtig ist gelingt Rettung die nicht zerstört sondern heilt. Und nur wenn Gott selbst in seiner Kraft seine Schwachheit mächtig sein lässt kann er uns und diese ganze Welt retten und ewiges Leben schenken.
  
  Die Macht der Schwachheit zieht sich wie ein zartes blaues Band durch unsere Welt und erinnert uns an eine Welt anderer Werte und Bedeutung als die unseres großen und kleinen Alltags. Ich glaube, dass das die lieblichen Spuren des Paradieses sind. Und diese Spuren des Paradieses bahnen uns die Wege in unsere Welt. Wir merken das, wenn versucht wird, diese Spuren auszulöschen. Jemanden, der am Boden liegt, tritt man nicht! Wenn es aber doch geschieht, wenn wir sehen, wie deutsche Jugendliche oder ägyptische Polizisten genau das tun, wehrlose Frauen und Männer am Boden zu treten, dann erhebt sich ein Aufschrei des Entsetzens, denn die Menschen spüren, dass  hier ein Stück bewohnbarer Welt vernichtet wird. Die Spuren des Paradieses halten uns am Leben
  
  Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig, sagt Jesus zu Paulus.
  Dieser Satz ist kein allgemeines Lob der Schwäche, sondern er richtet sich an Menschen, die wissen, was Schwachsein bedeutet, die ihre Schwachheit sehr real erleben und daran leiden. Da geht es nicht um unsere „kleinen Schwächen“, die wir hinweglächeln, sondern um die wunden Punkten, die wirklich weh tun, die Blockaden und Unfähigkeiten, die Angst und den Hang zur Trägheit und um das Gefühl, dass ich nichts kann und nichts bin. Da geht es um Einschränkungen des Lebens, um tief in Leib und Seele eingebrannte Wunden. Drastisch hat es Paulus erfahren und beschrieben: Wie ein Pfahl im Fleisch ist das, wie Faustschläge eines Dämons.
  
  Zu solchen Menschen ist das gesagt.
  Wohlgemerkt: Gott sagt nicht: Ich bin trotz deiner Schwachheit bei dir. Er sagt auch nicht: macht nichts, das wird schon wieder. Und schon gar nicht: Wenn du richtig an mich glaubst, dann wird deine Schwachheit aufhören. Er sagt: Meine Kraft ist in deiner Schwachheit mächtig.
  Wenn du richtig glaubst, dann wirst du geheilt, dann wird aufhören, was dich quält und hindert, dann wirst du Wunder erleben. Das wird heute ja durchaus auch in manchen christlichen Kirchen behauptet. Doch das ist kein Wort Gottes, sondern ein Wort des Teufels. Gott sagt: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
  Aber Gott legitimiert oder überhöht damit auch nicht einfach unsere Schwachheit, und er will schon gar nicht, dass wir sie kultivieren oder vor ihr resignieren. Auch die Trägheit ist eine Versuchung. Denn es ist ja auch wahr, dass Krankheiten geheilt werden und Menschen lernen, an ihren Schwächen zu arbeiten und sie zu überwinden. Es ist nicht so, dass Schwachheit die einzige Erfahrung von Gottes Kraft wäre. Gott bedient sich auch unserer Stärken. Denn auch sie sind ja nur durch Gottes Kraft stark und gut. Gott kann auch Helden brauchen. Aber er braucht keine Helden um zu wirken.
  
  Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig, das heißt: Gott lässt wunderbarerweise auch da etwas Gutes wachsen, wo wir nicht stark, gut, gesund, leistungsfähig, kommunikativ und ausdauernd sind.
  Es gibt keine Schwachheit, in der nicht Gottes Kraft mächtig werden kann.
  Und es gibt keine Stärke, die nicht insgeheim von Gottes Kraft lebt und ohne sie nichts wäre.
  Wenn Gott uns also nicht von Schwachheit befreit, stellt er sie in seinen Dienst. Gott kann nicht nur durch Helden wirken. Auch loser sind ihm willkommen. Nicht nur, dass er sie liebt und schützt wie jeden Helden. Seine Kraft ist in ihnen mächtig. Selbst in denen, die nur noch warten und hoffen, warten und beten, warten und danken, warten und bitten können.
  Gnade, nennt das Paulus. Gnade sind die Gaben, die Gott uns gegeben hat und immer wieder gibt. Gnade ist das Leben, das Gott uns jeden Tag neu schenkt. Gnade ist die Lieblichkeit, die manchmal über der Welt liegt, und der Charme, den Menschen und Schönheit ins Leben bringen. Gnade ist, wenn uns etwas gelingt, leicht und wie von selbst. Gnade ist, wenn uns etwas gelingt, obwohl wir es eigentlich ganz falsch angefasst haben. Gnade ist, wenn Fehler nicht auf uns zurückschlagen.  Gnade, da schaut uns Gott freundlich und manchmal augenzwinkernd an. Gnade, da sind wir ganz nah an der wirklichen Wahrheit. Amen